„We are fighting for ourselves, to be free”

Flüchtlingsproteste und der Wandel der Residenzpflicht

Maximilian Jablonowski

Letztes Jahr war es dreißig Jahre her, dass mit dem Asylverfahrensgesetz eine Reihe von Maßnahmen kodifiziert wurden, die zur Beschleunigung der Asylverfahren sowie der Verschlechterung der Lebensbedingungen von Flüchtlingen in Deutschland dienen sollten. Ziel war es, Flüchtlinge mit repressiver Politik davon abzuhalten nach, Deutschland zu kommen. Ein Teil dieser Maßnahmen war die Residenzpflicht. Bei dieser Wortschöpfung geht es nicht um luxuriöses Wohnen, sondern um die Beschränkung alltäglicher Mobilität von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Deutschland. Ihnen ist es untersagt, ein bestimmtes Gebiet in Deutschland, den Landkreis oder das Bundesland zu verlassen. Die alltäglichsten Tätigkeiten, Einkäufe in der nahen Großstadt oder Besuche bei Freunden, sind abhängig von der Bereitschaft der Behörden, eine Verlassenserlaubnis, den so genannten Urlaubsschein, auszustellen. Einen Anspruch darauf gibt es nicht. Das Risiko, erwischt zu werden, ist wegen rassistisch codierter Personenkontrollen der Polizei relativ groß.

Im letzten Jahr gab es verstärkt Proteste gegen die Residenzpflicht. Ihre Abschaffung war eine der zentralen Forderungen des Protestmarsches, der von den Hungerstreiks Würzburger Flüchtlinge seinen Ausgang nahm und bis nach Berlin als Akt des zivilen Ungehorsams mehrere Länder- und Landkreisgrenzen überschritt.

Was es bedeutet, ein Flüchtling zu sein

Seit ihrer Einführung war die Residenzpflicht immer schon ein Kristallisationspunkt migrantischer Kämpfe. Sie stellt die Bedingungen für eine selbstständige Interessenvertretung von Flüchtlingen grundsätzlich in Frage, da sie kollektive Organisierung und Protest erschwert. Der Flüchtlingskongress von 2000, der eine der letzten großen Welle von Flüchtlingsprotesten auslöste, konnte nur durch den zivilen Ungehorsam der Beteiligten stattfinden, die sich trotz nicht erlaubter Ausreise aus dem Zuständigkeitsbereich ihrer Ausländerbehörden auf den Weg nach Jena machten. Es erscheint paradox: Einerseits zeichnet sich der neoliberale Kapitalismus durch eine hohe Mobilitätsanforderung gegenüber seinen Subjekten aus, andererseits erlegt er gerade einem Personenkreis, der eine überdurchschnittliche Mobilitätsanstrengung unternommen hat, eine extrem kleinräumige Mobilitätsbeschränkung auf. Das Verhältnis des Kapitalismus zur Mobilität seiner Subjekte war und ist immer ambivalent. Mobilität sei, so die Migrationsforscher Tom Holert und Mark Terkessidis, gleichermaßen Norm wie Zustand, Effekt von Projektion – als ökonomische Ressource – und Reaktion – als Bedrohung nationalstaatlicher Souveränität.

Flüchtlinge sind aus der Perspektive des modernen Nationalstaates nur als Objekte humanitärer Sorge und administrativer Regulation denkbar, nicht als Akteure mit eigenständigen Interessen. Die Protestierenden reklamierten jedoch genau dies, nämlich für ihre eigenen Interessen kämpfen zu wollen. Mit der Kulturanthropologin Liisa Malkki kann man dabei von Kämpfen um „Refugeeness“, also um das Flüchtling-sein, sprechen. Dies sei weniger ein universeller rechtlicher Status, vielmehr eine umkämpfte Selbst- und Fremdzuschreibung. Es bedeutet nicht immer und überall und für jede/n das gleiche, ein Flüchtling zu sein. In ihren Kämpfen bringen sie ihre eigenen Deutungen und subjektiven Erlebnisse ein und artikulieren gegenüber dem Staat, was es für sie heißt, ein Flüchtling zu sein.

Kriminalisierung und Klandestinierung

Ihr Alltag ist von unsichtbaren Grenzen durchzogen, doch die Flüchtlinge bewegen sich trotzdem. Die Residenzpflicht ist für sie weniger eine Verhinderung, sondern eine Kriminalisierung und Klandestinierung ihrer Mobilität. Tobias Pieper spricht vom verbreiteten „Migrieren gegen die Residenzpflicht“. Es ist jedoch weniger die Bereitschaft zu zivilem Ungehorsam, sondern eine alltagspraktische Notwendigkeit, die oftmals unbeabsichtigt zur widerständigen Praxis wird. Das Gefühl, zur Gesetzesübertretung gezwungen zu werden, ist für viele Flüchtlinge, die vor der Rechtlosigkeit in ihren Ländern geflohen sind, schwer zu ertragen.

Seitdem die rot-rote Regierung in Brandenburg 2009 die Aufenthaltsbeschränkung auf die Landkreise aufgehoben hat, Flüchtlinge sich somit im Landesgebiet bewegen können, gab es in mehreren Ländern Lockerungen der Residenzpflicht. Nach Hessen Ende letzten Jahres sind es nur noch Bayern, Thüringen und Sachsen, in denen nicht das gesamte Landesgebiet zugänglich ist. In Thüringen begann jüngst die überfällige Diskussion. Dies ist ein Erfolg, der unmittelbare Auswirkung auf das Alltagsleben der Flüchtlinge hat. Sie ist jedoch nicht notwendigerweise ein Schritt in Richtung der vollständigen Aufhebung der Residenzpflicht. In einigen Bundesländern besteht gesetzlich weiterhin die Möglichkeit, einzelnen Flüchtlingen bei Verletzen ihrer Mitwirkungspflichten, was unter Umständen schon ein vergessener Behördentermin sein kann, wieder Aufenthaltsbeschränkungen aufzuerlegen. Sie bleiben Objekte administrativer Regulierung.

Es lässt sich eher ein Funktionswandel beobachten: Die Residenzpflicht ist nun in den meisten Ländern keine allgemeine Repression mehr, sondern wird zu einer individuell einsetzbaren Sanktionsmaßnahme. An die Stelle des nicht durchsetzbaren Versuchs einer totalen Mobilitätsverhinderung tritt nun eine subtilere Form des Regierens migrantischer Mobilität durch Normalisierung und den Versuch der Verhaltenssteuerung. Indem die Mobilität der Flüchtlinge an ihr Wohlverhalten gebunden wird, bleibt sie ein Gnadenakt des Staates, kein Recht der Flüchtlinge. Doch genau um dieses Recht geht es ihnen. Ein Freund von mir, der lange Zeit von Duldung betroffen war, sagte mir: „Now we are fighting for ourselves, to be free. Now we have peace, we are not in Somalia, we are not in Eritrea, not Afghanistan, not Irak, now we are in Germany. The struggle for peace is finished, now it’s time for freedom, the time for life.“

Maximilian Jablonowski hat in Marburg Europäische Ethnologie, Neuere Deutsche Literatur und Politikwissenschaft studiert und seine Masterarbeit zur Residenzpflicht geschrieben. Er ist freier Mitarbeiter der Linksfraktion im Hessischen Landtag für die Enquetekommission „Migration und Integration in Hessen“.

Literatur:

Holert, Tom/Terkessidis, Mark (2005): Was bedeutet Mobilität? In: Kölnischer Kunstverein u.a. (Hg.): Projekt Migration: Köln: Du Mont. 98-107.

Malkki, Liisa H. (1995): Refugees and Exile. From ‘Refugee Studies’ to the National Order of Things. In: Annual Review of Anthropology 24. 495-523.

Pieper, Tobias (2008): Die Gegenwart der Lager. Zur Mikrophysik der Herrschaft in der deutschen Flüchtlingspolitik. Münster: Westfälisches Dampfboot.