22.10.2013

Die Lust zur Kritik

Ein Plädoyer für soziale Emanzipation von Stefan Kalmring, Dietz, 29,90 Euro

Bodo Niendel

Der Marxismus galt lange Zeit als toter Hund. Heutzutage ist er ein tiefgefrorenes Organlager, dem einzelne Elemente entnommen werden, um wissenschaftlichen Arbeiten Würze zu verleihen. An den Kern des Marxismus wagen sich wenige WissenschaftlerInnen. Stefan Kalmring will die Aktualität des Marxismus mit seinem politisch-theoretischen Potential aufzeigen. Geschult an einem Marxverständnis, dass sich in der akademischen Linken der 1970er Jahre in Westeuropa herausbildete, plädiert er für einen kritischen Marxismus, der vom Leninismus und der wissenschaftlichen Marxtradition des untergangenen Staatssozialismus sowie den dazugehörigen Dogmen der moskauhörigen Kommunistischen Parteien Westeuropas entkleidet ist. In der kaum zu überschauenden Literatur des neuerlichen Marxrevivals sticht Kalmrings Arbeit mit einer kenntnisreichen Auseinandersetzung der verschiedenen Marxschulen hervor. Kalmring versucht das Potential für eine aktuelle Ökonomiekritik offenzulegen, die ihre Kraft gerade aus den Kämpfen unserer Zeit zieht und Theorie und Praxis als Einheit versteht. Trotz seiner manchmal sehr giftigen Kritik gegen Wertkritiker wie Michal Heinrich und die Tübingen/Berlin/La Palma-Achse von Wolfgang Fritz und Frigga Haug gelten ihm gerade ihre Arbeiten als Munition für seine Hauptgegner, die Dogmen des Marxismus-Leninismus. Dieser Marxismus-Leninismus mit seinen versteinerten Analysen und Rechtfertigungen der Verbrechen staatssozialitischer Regime macht es heute schwer, das Potential der marxschen Ökonomiekritik offenzulegen. In Kalmrings kritischer und kenntnisreicher Auseinandersetzung mit dem bedingungslosen Grundeinkommen, der (Anti-)Globalisierungsbewegung oder den Keynesianern kann Kalmring zeigen, dass Marx ein moralferner Analytiker war, mit dessen Analysewerkzeugen man trefflich gegen Liberale wie Rorty und Habermas argumentieren kann.

Doch muss man auch die Prämissen des Autors mit all ihren Schwächen teilen: Das Primat der Ökonomie, sein romantischer Hang für die „andere“ Arbeiterbewegung und seine theoretischen Setzungen von Klassen und Subjekten, um die Arbeit als kohärente Handlungsanweisung zu lesen.

Es hätte Kalmrings Arbeit gut getan, theoretische Schwergewichte wie Foucault, Derrida, Mouffe und Laclau stärker zu berücksichtigen, um Brücken zu aktuellen emanzipatorischen Diskussionen herstellen zu können. Der theoretische Rahmen des „westlichen Marxismus“ wirkt hier begrenzend. Trotzdem: Kalmring hat eine lesenswerte und im besten Sinne belehrende Arbeit zur Aktualität des Marxismus vorgelegt. Hier schreibt ein profunder Marxkenner. Man muss seine Ansichten nicht teilen, doch das Lesen dieser Arbeit bildet und regt an.

„Die Lust zur Kritik“ ist als digitale Version auf den Seiten der Rosa-Luxemburg-Stiftung verfügbar[1].

Links:

  1. http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Schriften/Die_Lust_zur_Kritik.pdf