Die Eidgenossin

Eveline Widmer-Schlumpf: So feministisch wie die Faltung der Alpen

Karin Hoffsten

Die Faltung der Alpen aus moralischer Sicht zu betrachten, wäre eine ähnliche Herausforderung. Ungefähr das war mein erster mutloser Gedanke, als ich gebeten wurde, hier „aus feministischer Perspektive“ die Wahl und Amtszeit der Schweizer Bundespräsidentin Eveline Widmer-Schlumpf einzuschätzen. Denn in der Schweiz ist alles anders.

Die Regierung bilden sieben vom Parlament gewählte, gleichberechtigte BundesrätInnen, die den großen Parteien angehören. Die Sieben müssen sich immer einigen und einen Beschluss – auch gegen die eigene Überzeugung – nach außen vertreten, was hin und wieder zu bizarren Auftritten führt. Das Parlament wählt eine oder einen von ihnen im Turnus für ein Jahr ins Präsidium, weshalb die zierliche Magistratin mit der leisen Stimme zum Jahreswechsel schon wieder abgelöst wurde. Als Primus oder Prima inter Pares versehen BundespräsidentInnen Repräsentationspflichten, leiten Sitzungen und entscheiden bei Stimmengleichheit. Alle wissen vorher, wer dran ist, es gibt keinen Wahlkampf und keine Überraschungen, nur ein Freudenfest mit Lokalkolorit in der jeweiligen Heimatgemeinde.

Auch während ihres Amtsjahrs war Widmer-Schlumpf Finanzministerin und als solche im Ausland, weshalb von ihr hauptsächlich im Zusammenhang mit Steuerflucht und Steuerabkommen zu lesen und zu hören war. Eine erklärte Kämpferin für die Sache der Frau ist die Bundesrätin nicht, aber vielleicht ein Rollenvorbild für manch zahlenscheues Mädchen. Selbst Tochter eines früheren Bundesrats entstammt die promovierte Juristin einem politisch interessierten Bildungsbürgertum und hat ihre Chancen genutzt. Als sie 2007, damals noch Mitglied der Schweizerischen Volkspartei (SVP), statt des Rechtspopulisten Christoph Blocher in den Bundesrat gewählt wurde, kam es innenpolitisch zu einer enormen Polarisierung und schliesslich zur Spaltung der SVP. Doch das hatte nichts mit Geschlechtszugehörigkeit, sondern mit Parteipolitik zu tun.

Wie Eveline Widmer-Schlumpf seither in der medialen Öffentlichkeit dargestellt und wahrgenommen wird, hat hingegen viel damit zu tun, dass sie eine Frau ist. Je nach Standpunkt galt sie nach ihrer Wahl den einen als Retterin und Landesmutter, den anderen jedoch als Hexe und Verräterin. Anfang 2009 wurde sie gar vom Fernsehpublikum zur „Schweizerin des Jahres“ erkoren. Heute, da ihr die undankbare Aufgabe zufällt, mit dem Ausland um Fluchtgelder zu feilschen, zeihen jene EidgenossInnen, die das Bankgeheimnis für ein Menschenrecht halten, sie erneut des Verrats.

Die Schweiz gilt nicht gerade als Wiege der Geschlechtergleichstellung. Das allgemeine Frauenstimmrecht wurde erst 1971 – zehn Jahre nach Malawi – erkämpft, dann jedoch mit dem absoluten Mehr der damals allein stimmberechtigten Männer. In der aktuellen Schweizer Regierung sind drei Frauen vertreten, zwischenzeitlich stellten sie sogar die Mehrheit. Eigentlich ist es eine Erfolgsgeschichte.

Eigentlich. Denn was die Lohngleichheit für Mann und Frau oder die ausserfamiliäre Kinderbetreuung angeht, dümpelt die Schweiz trotz notorischem Reichtum und direkter Demokratie im internationalen Vergleich weit hinten herum. Und da Politik fast nur noch in Abhängigkeit von irrational agierenden Märkten stattfindet, spiegeln Frauen mit Regierungsverantwortung bloß die realen Machtverhältnisse: In Chefetagen und Verwaltungsräten bleiben die Herren nach wie vor gern unter sich. So bleibt noch einiges zu tun, nicht nur für Eidgenossinnen.

Karin Hoffsten ist seit dreissig Jahren deutsch-schweizerische Doppelbürgerin und lebt in Zürich. Als Autorin und Kolumnistin schreibt sie regelmässig für die Wochenzeitung WOZ; daneben erarbeitet sie mit dem Forumtheater Zürich interaktive Theaterprojekte für Jugendliche und Erwachsene.