Ein Hauch arabischer Frühling in Slowenien

Proteste gegen Krisenfolgen und Korruption in Südosteuropa

Boris Kanzleiter

Es war der vorläufige Höhepunkt einer wochenlangen Protestwelle. Am 21. Dezember zogen tausende DemonstrantInnen in einem bunten Zug durch das Stadtzentrum Ljubljanas. Auch in den Provinzstädten folgten viele Menschen den zahlreichen Aufrufen, die über soziale Netzwerke im Internet verbreitet wurden. Die größte selbstorganisierte Protestbewegung seit der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens vor zwanzig Jahren bezeichnet sich selbst unbescheiden als „vstaja naroda“, was nichts weniger als „Volksaufstand“ heißt. Alternative Jugendliche sind genauso beteiligt wie GewerkschafterInnen und ansonsten eher biedere BürgerInnen. AktivistInnen feministischer Gruppen nehmen genauso teil wie Mitglieder des Veteranenverbands.

„Nieder mit der Mafia!“ und „Gotovi ste!“ – „Ihr seid fertig!“, lauteten einige der Sprechchöre auf der Abschlusskundgebung der Demonstration am Kongressplatz im pitoresken Zentrum der Hauptstadt. Die Parolen richteten sich gegen die Teilnehmer einer Veranstaltung, die nur wenige hundert Meter weiter im von starken Polizeikräften abgeschirmten Parlamentsgebäude stattfand. Hier hatte sich die politische Elite des zwei Millionen Einwohner zählenden Landes feierlich versammelt, um der Amtsinauguration des neuen Präsidenten Borut Pahor beizuwohnen. Der Sozialdemokrat hatte sich in einer Stichwahl Anfang Dezember gegen seinen parteilosen Amtsvorgänger Danilo Türk durchgesetzt. Glänzende Wahlsieger sehen allerdings anders aus. Denn die Wahlbeteiligung lag bei nur 42 Prozent, dem niedrigsten Wert in der Geschichte Sloweniens.

Woher kommt die Wut und Enttäuschung der BürgerInnen im beschaulichen Slowenien? Politische BeobachterInnen sind sich einig: Was sich derzeit ereignet, ist eine Zäsur. Die lange Zeit als positives Beispiel für den Übergang zu „Demokratie und Marktwirtschaft“ gefeierte Republik befindet sich in einer tiefen Krise. Aus dem Musterknaben, der 2004 als bisher einziger Nachfolgestaat des ehemaligen Jugoslawien in die Europäische Union aufgenommen wurde, ist ein Problemfall geworden.

Entzündet hat sich die aktuelle Protestbewegung im November in Maribor, der zweitgrößten Stadt des Landes zwischen Alpen und Adria. Bürgermeister Franc Kangler stand bereits seit Jahren immer wieder wegen Korruption, Klientelpolitik und Misswirtschaft in der Kritik. Zahlreiche Ermittlungsverfahren liefen. Als sich Kangler Ende November mit einer Kandidatur für den Nationalrat de facto die Immunität erteilen lassen wollte, obwohl gerade ein neuer Korruptionsverdacht aufgetaucht war, war das der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Tausende Mariborer BürgerInnen protestierten am 26. November spontan vor dem Rathaus. Doch statt Demut zu zeigen, ließ Kangler Wasserwerfer und Hundestaffeln einsetzen. Sogar aus einem Polizeihubschrauber wurde Tränengas abgeschossen. Die Polizeibrutalität war ein Schock für die slowenische Öffentlichkeit und der Auslöser der Protestwelle, die seither anhält.

Doch es ist nicht allein das selbstherrliche Auftreten von Politikern und die Kumpelwirtschaft von Amtsträgern, die viele BürgerInnen empören. Die Probleme liegen tiefer. „In der Krise kristallisieren sich eine Reihe von Widersprüchen. Dazu zählt auch die brutale Restrukturierung der kapitalistischen Wirtschaft“, erklärt der linksorientierte Philosoph Gal Kirn die Krisenstimmung: „Die Austeritätspolitik hat zu einem Anwachsen der Arbeitslosigkeit, dem Bankrott von Firmen und zur Aufhebung der Reste des Sozialstaates geführt.“

Tatsächlich sind auch soziale Themen bei den Protesten der vergangenen Wochen stark präsent. Das ist kein Wunder. Slowenien befindet sich bereits seit vier Jahren in einer schweren Wirtschaftskrise. Die Financial Times Deutschland nennt das Land gar das „Spanien Osteuropas“. Dieser Vergleich trifft die Situation recht gut. Seit dem Beitritt Sloweniens zur Eurozone 2007 haben sich die Auslandsschulden verdoppelt. Ähnlich wie in Spanien brach auch in Slowenien im Kontext der „Eurokrise“ ein Wachstumsmodell zusammen, das sich wesentlich auf die Expansion von billigen Krediten gestützt hatte. Doch mit der Finanzkrise zerplatzte die „Subprime“-Blase. Slowenien erlebte 2009 mit einem Rückgang des Bruttosozialproduktes um 8,1 Prozent die tiefste Rezession in Südosteuropa, seither stagniert die Wirtschaft. Die Arbeitslosenzahlen stiegen von 6 Prozent in 2008 auf über 12 Prozent zum Jahresende 2012.

In der Reaktion auf die Wirtschaftskrise liegt eine weitere Erklärung für den Protest der Bürger. Denn es ist nicht nur der nationalkonservative Ministerpräsident Janez Janša, der mit Maßnahmen nach dem griechischen oder spanischen Vorbild auf die Krise reagiert. Auch die sozialdemokratische und die liberale Opposition sehen keine Alternative zu einer breit angelegten Kürzungspolitik und der Forcierung von Privatisierungen. Einzig die Gewerkschaften legen ihr Veto gegen die Austeritätspolitik ein. Die Wirtschaftskrise hat damit auch zu einer Krise der politischen Repräsentation geführt. Wenn die Politik keine Alternativen bietet, warum sollten die BürgerInnen dann noch wählen?

Das slowenische Beispiel ist nur der aktuellste Fall einer Reihe von ähnlichen Protestbewegungen in Südosteuropa. Kaum bemerkt von der internationalen Öffentlichkeit kam es im Frühjahr 2011 in Kroatien zu tagelangen spontanen Protesten gegen Korruption und Verarmung, an denen sich zehntausende BürgerInnen beteiligten. Im Februar 2012 demonstrierten in der rumänischen Hauptstadt Bukarest Tausende gegen Korruption und die Abwicklung des ärztlichen Notfalldienstes und lieferten sich dabei Straßenschlachten mit der Polizei. Im Frühjahr 2012 protestierten in Montenegro mehrmals Zehntausende gegen die Verwicklung der politischen Elite mit der organisierten Kriminalität und die Erhöhung der Strompreise. In allen Fällen verliefen die Mobilisierungen wie nun auch in Slowenien spontan über Facebook und andere Soziale Netzwerke im Internet. Auf dem Balkan weht ein Hauch des arabischen Frühlings.

Für die Linke sind die Proteste eine wichtige Herausforderung. Eine Linke in Form von Parteien gibt es in der Region kaum. Die Nachfolgeorganisationen der kommunistischen Parteien haben sich längst in nominal sozialdemokratische Parteien mit neoliberalem Profil verwandelt, die Teil des Problems sind. Die Hoffnung linksorientierter AktivistInnen sozialer Bewegungen und kritischer Intellektueller liegt daher meist auf einer gemeinsamen Mobilisierung mit den Gewerkschaften. Nur über eine Koalition der sozialen Bewegungen könnte der Austeritätspolitik Widerstand entgegen gesetzt werden und langfristig auch ein neue Form politischer Organisation geschaffen werden. „Die Erfahrung von Syriza in Griechenland ist ein inspiratives Beispiel“, erklärt Gal Kirn.

Boris Kanzleiter leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung für Südosteuropa in Belgrad.