Was bleibt?

10 Jahre wurde Berlin von Rot-Rot regiert, was ist heute davon übrig?

Tobias Schulze

Der Tabubruch

Dass sich die Berliner SPD in eine Koalition mit der Gysi-geführten PDS begab, war damals ein echter Aufreger. Weniger im Osten, da gab es mit Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern bereits Erfahrung und Gewöhnungseffekte. Aber in der Frontstadt West-Berlin und in den alten Bundesländern verursachte das neue Bündnis einen Kulturschock. Berlin spiele „Russisch-Roulette“, der Schaden für die Stadt sei unermesslich, die Wessis seien schockiert. So kommentierte die BZ, das Westberliner Boulevard-Blatt von Springer. Aus der SPD verabschiedeten sich Mitglieder, einige zerhackten öffentlich ihre Mitgliedsbücher. Im Bund regierte Rot-Grün und bereitete die Agenda 2010 vor und unterstützte „vorbehaltlos“ den Krieg in Afghanistan. Eine Koalition mit der PDS war auch in der SPD kein Selbstläufer.

Auch in der PDS rumorte es. Stein des Anstoßes waren weniger die Inhalte des Koalitionsvertrages, sondern vor allem die Präambel, in der sich Rot-Rot klar vom SED-Unrecht distanzierte. Die letzten Ewiggestrigen verabschiedeten sich schimpfend ob dieses geschichtspolitischen Frevels aus der Partei. Heute, nach Anläufen auch in westdeutschen Ländern und dem dritten Bündnis in Brandenburg, sind Koalitionen mit der LINKEN an sich kein Aufreger mehr. Die Nachrufe auf Rot-Rot in Berlin waren freundlich. Es war „das richtige Bündnis zur richtigen Zeit“ schrieb die Zeit. In dieser Ära sei eine gespaltene Stadt geeint worden.

Eine linke Partei in der Neufindung.

Die Regierungsbeteiligung hat der PDS, später der LINKEN einen ungeheuren Professionalisierungsschub und einen Gewinn an Realitätstauglichkeit gebracht. Auf Landesparteitagen wurden Themen und Konflikte unter der Prämisse der Regierungspraxis diskutiert. Das hatte Vor- und Nachteile: wenn etwas beschlossen war, dann war das die Position der Partei und auch ihrer Vertreter_innen in Senat und Abgeordnetenhaus (siehe Studiengebühren). Diese Beschlüsse entfalteten unmittelbare Relevanz und wurden entsprechend umfassend und gründlich vorbereitet. Der Nachteil: natürlich hatten alle unmittelbar an der Regierungsarbeit Beteiligten nicht immer ein Interesse daran, sich von der eigenen Partei treiben oder bremsen zu lassen. Auseinandersetzungen mit Typen wie Klaus Wowereit oder Thilo Sarrazin sind kein Spaß. Besonders in der ersten Legislaturperiode bis 2006 stand zudem alles unter der Prämisse einer Entschuldungsklage in Karlsruhe, die Berlin von den überbordenden Altschulden befreien sollte. Ehrenamtler hatten kaum die Möglichkeit, das Niveau der komplexen Debatten angemessen mitzugehen. Der Stresstest einer Regierungsbeteiligung legte auch die Defizite in der Parteientwicklung schonungslos offen.

Daher brach sich eine Übertretungsenergie der Parteibasis nur selten Bahn. Zudem wandte sich das sozial-diskursive Spektrum und weite Teile der alternativen Szene der Stadt angesichts der als zu lasch empfundenen Auseinandersetzung mit der SPD von der LINKEN als Bündnispartnerin ab. Rot-Rot regierte meist ohne große öffentliche Debatten, man formulierte auch keine Vision für die Stadt. Belebend für die Partei war das nicht gerade. Nun erfindet DIE LINKE ihre Rolle in der Stadt langsam neu – muss sich allerdings mit der Daueropposition von den Grünen und der neuen Konkurrenz von den Piraten herumschlagen. Aber die Umfragewerte steigen seit einem Jahr wieder, die Mitgliedszahlen auch. Aber abgeschlossen ist das Kapitel Regierung deswegen noch nicht.

Die freieste Stadt der Republik – und die sich am schnellsten spaltende.

Berlin hat sich, das war erklärtes Ziel von Rot-Rot, einiges vom Laissez-faire der 80er und der Nachwendezeit erhalten. Der Besitz größerer Mengen Marihuana ist erlaubt, eine Sperrstunde gibt es nicht, Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen ist untersagt, das Klima offen und tolerant gegenüber allen Lebensweisen, Kinderlärm ist hinzunehmen, Partys im öffentlichen Raum bis in die Nacht hinein sind die Regel, Volksbegehren stehen auf der Tagesordnung. Es hat seine Gründe, warum feierfreudige junge Menschen aus der ganzen Welt Berlin ansteuern. Dieses Flair hat die Stadt in den Jahren seit der Jahrtausendwende zu einem begehrten Lebensmittelpunkt gemacht. Und damit zeigen sich auch die materiellen Kehrseiten des Laissez-faire: Immobilieneigentum und nicht mehr eine libertäre Stadtpolitik bestimmte zunehmend die Regeln. Eine „Aufwertung“ der Innenstadt war erklärtes SPD-Ziel, die LINKE hatte dem wenig entgegen zu setzen. Und so wurden Clubs seit Jahren aus den angesagten, heute wohlhabenden Alternativkiezen verdrängt, ehemals öffentlicher Stadtraum wird zunehmend unter privates Recht gestellt, um etwa Obdachlose vertreiben zu können. Es ist wohl eine bittere Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet eine libertäre Innenpolitik einer Links-Mitte-Regierung der Abstoß für eine Dynamik war, die aus Berlin eine ganz normale kapitalistische Metropole mit den Effekten der Verdrängung und sozialräumlichen Spaltung gemacht hat.

Vieles weitere bleibt von Rot-Rot: kostenlose KiTas und Unis, ein paar Gemeinschaftsschulen, drei Opern, aber auch geschlossene Kieztheater und Bibliotheken und ein unfertiger Flughafen. Anderes blieb nicht: öffentliche Beschäftigung für Langzeitarbeitslose, großzügigere Wohnkostenregelungen für Hartz-IV-Beziehende etwa.

Die Fliehkräfte kapitalistischer Metropolen wirken weiter. Es regiert eine Große Koalition, die Steuerhinterzieher deckt und Flüchtlinge kriminalisiert. 2016 sind wieder Wahlen.

Tobias Schulze

Tobias Schulze ist Mitglied der prager frühling-Redaktion und hat als Mitglied verschiedener Parteigremien die ganze rot-rote Regierungszeit mitgemacht. Er findet nach dieser Regierung immer noch, dass Linke in Regierungen gehören – wenn sie wissen, was sie dort wollen und wie sie es kriegen.