23.03.2014

Verankern, verbreitern, verbinden

Die überkommenen Interpretationsmuster helfen nicht, den Europaparteitag der LINKEN zu verstehen

Von Jörg Schindler
Katja Kipping redet auf dem Parteitag in Hamburg

Die mediale Bewertung des Hamburger Parteitags lässt die sogenannten Reformer als Punktsieger vom Parteitag der Partei DIE LINKE gehen, der Mitte Februar 2014 stattfand. Beleg für ihre These: Die Formulierung, dass die EU eine »neoliberale, militärische und weithin undemokratische Macht« sei, findet sich im Wahlprogramm nicht wieder. Die EU-Kritik wurde entschärft, und auch bei der Liste hätten sich die KandidatInnen mit proeuropäischen Positionen durchgesetzt. Nun soll man aber nicht alles glauben, was in der Zeitung steht.

Der Europaparteitag in Hamburg war wenig spektakulär - vor allem im Vergleich zu den Parteitagen in Essen 2009 und Göttingen 2012. Die teilweise bis ins Denunziatorische geratene Form innerparteilicher Auseinandersetzung in der an die Gründung der LINKEN 2007 anschließenden Zeit war allerdings nicht Ursache, sondern Ausdruck einer tieferen politischen Krise der Partei selbst: ämlich, wie man aus dem verbindenden Anti-Neoliberalismus ein produktives, nach vorne weisendes politisches Projekt vorantreibt. Die »neue soziale Idee« der LINKEN blieb ein uneingelöstes Versprechen.

Während die einen vor allem in der Abgrenzung zur SPD das Glück der LINKEN suchten, sinnierte der andere Teil über Bündnisoptionen, die trotz der partiellen Preisgabe der neoliberalen Glaubensbekenntnisse durch die SPD-Führung keine programmatische Basis hatte. Beide Optionen gerieten - auch vor dem Hintergrund einer Hegemoniekrise des Neoliberalismus infolge der Krise - an ihre Grenzen.

Die Politik des »Kurshaltens« innerhalb der LINKEN trotz veränderter politischer Großwetterlage und strategischer Umorientierungen von SPD und Grünen kulminierte schließlich auf dem Parteitag 2012 in Göttingen in der Kampfkandidatur um den Parteivorsitz und in den Reden von Gysi und Lafontaine. In Göttingen setzten sich aber schließlich nicht die exponierten VertreterInnen des einen oder des anderen Flügels durch, sondern mit Katja Kipping und Bernd Riexinger als Parteivorsitzende und mit Jan van Aken, Caren Lay und Axel Troost als stellvertretende Vorsitzende Personen, die nicht als jeweilige FlügelexponentInnen galten, sondern den Anspruch erhoben, mit einem neuen Stil, aber auch der Suche nach modernisierten Politikinhalten die Partei aus der Krise zu führen. Nicht ohne Erfolg: Unter dem Team Kipping/Riexinger gelang der Partei, sich selbst am Schopf aus der Krise zu ziehen, sich zu stabilisieren und zur Konstruktivität zurückzufinden - innerparteilich wie in der öffentlichen Wahrnehmung. Und nicht zuletzt: Es gelang, 2013 mit einem achtbaren Ergebnis erneut in den Bundestag einzuziehen.

Falsche Rechts-Links-Dichotomie

Warum diese lange Vorgeschichte zum Hamburger Parteitag? Es gibt zwei - gleichermaßen überzeichnete und damit falsche - Erzählungen über die Partei im allgemeinen und über die Europapolitik der LINKEN im besonderen. Im allgemeinen werden die politischen Flügelauseinandersetzungen mit Begriffen verhandelt, die sich zur Beschreibung der Flügelkämpfe der Grünen in den 1980er Jahren medial durchgesetzt haben: »Realos« und »Fundis«. Aber auch hier gilt, man soll nicht immer alles glauben, was in der Zeitung steht. Unbestreitbar ist zwar, dass es in den Flügeln eine unterschiedliche Bereitschaft zum Regieren gibt. Insbesondere ist strittig, welche Kompromisse man dafür einzugehen bereit ist. Aber im Gegensatz zu den Grünen der 1980er ist die Regierungsbeteiligung in der LINKEN keine prinzipielle Frage.

Die Flügelbildung wird überdies durch einen weiteren Konflikt überlagert, der sich einer klassischen Links-Rechts-Einordnung entzieht. Es stehen sich auch traditionell orthodox-marxistische und gewerkschaftlich orientierte Ansätze einerseits und undogmatisch-radikaldemokratische Ansätze andererseits gegenüber. Der Gegensatz zwischen Interessen- und Volkspartei, wie ihn Gregor Gysi in Göttingen postuliert hat, spielt höchstens insofern eine Rolle, dass Landesverbände mit Wahlergebnissen von 20 bis 30 Prozent natürlich eine andere gesellschaftliche Verankerung haben als solche mit 3 bis 8 Prozent. Vor diesem Hintergrund wird vielleicht deutlicher, warum die Debatte um das Europawahlprogramm der LINKEN nicht einfach einer Rechts-Links-Dichotomie folgt.

Der Kern der politischen Auseinandersetzung innerhalb der Partei drehte sich bis zum Parteitag um die Frage, welche Möglichkeiten die Partei sieht, auf europäischer, supranationaler Ebene Einfluss zu nehmen. Während die traditionelleren Strömungen Antikapitalistische Linke (AKL) und Sozialistische Linke (SL) durchaus zurecht darauf verwiesen, dass die vermachteten und für Lobbyismus stark anfälligen Entscheidungsstrukturen der EU für eine progressive Reformpolitik kaum handhabbar sind, verwiesen wiederum die »Reformer« des Forum Demokratischer Sozialismus (FDS) dezidiert darauf, dass gerade diese Strukturen durch Entscheidungen der nationalen Regierungen geprägt sind und umgekehrt auch über die EU-Ebene durchaus progressive Standards, etwa im Grundrechtsbereich, Hebel für linke Politik sein können.

Demzufolge konkretisierte sich die Kontroverse innerhalb der Partei daran, ob - gerade in Zeiten der Krise der EU - Kompetenzen an europäische Institutionen zu verlagern sein sollen. Das gilt insbesondere für den Bereich der Sozialgesetzgebung, der Arbeitsmarktregulierung, aber auch in Währungsfragen. Dass sich mit Sahra Wagenknecht eine exponierte Vertreterin der »Fundis« gegen jegliche Kompetenzverlagerung wandte und zugleich die Rückkehr der EU-Länder zu einzelnen nationalen Währungen beständig in der Diskussion hielt, während dies VertreterInnen des »Reformerlagers« vehement ablehnen und auf die positiven Wirkungen von EU-Fördermitteln für bestimmte soziale oder strukturinvestive Projekte verweisen, ist praktischer Ausdruck dieser Kontroverse.

Realos gegen Fundis?

In der Debatte im Vorfeld des Parteitags in Hamburg fand die Kontroverse in der Form ihren Ausdruck, dass Diether Dehm und Wolfgang Gehrcke einen eigenen konkurrierenden Entwurf für ein Europawahlprogramm vorgelegt hatten, der sich - anders als der Entwurf des Wahlprogramms der Parteivorsitzenden - dezidiert gegen Kompetenzverlagerungen an die EU aussprach und zudem positiv Bezug nahm auf die Verteidigung »unseres guten Grundgesetzes« gegen »die EU-Bürokraten« und gegen einen »Superstaat« EU.

Auch wenn die eine oder andere argumentative Herleitung aus dem Lager der »Reformer« im Zuge des Parteitags doch sehr stark an eine Art Bekenntniszwang zur Staatsverantwortung und Wertedebatte erinnerte, bleibt richtig: Der Kampf für demokratische und soziale Rechte lässt sich heute nicht mehr allein auf der Ebene des Nationalstaates führen. Die relative Erfolglosigkeit vieler Generalstreiks in Griechenland und anderen südeuropäischen Ländern, die Art der Leichtigkeit, wie der drohende Finanzkollaps in jedem einzelnen Defizitstaat die Regierungschefs aus ihren Ämtern zu kegeln vermag, ist ein Zeichen dafür, dass der Rückzug in die nationale Kompetenz keine Perspektive hat.

Die Verflechtung der Volkswirtschaften der EU-Länder hat mittlerweile eine Tiefe erreicht, die ein Herausbrechen einzelner Staaten als kaum denkbar erscheinen lässt. Mehr noch: Es ist schon kaum denkbar, dass einzelne Staaten innerhalb der EU eine grundsätzlich andere Politik verfolgen können als jene, die EU-hegemonial ist. Wie soll etwa eine Politik der Umverteilung und der verbindlichen Mindeststandards in der Arbeitswelt als »Insellösung« innerhalb des Meeres konkurrierender nationaler EU-Wettbewerbsstaaten mit Lohn-, Sozial- und Steuerdumping durchsetzbar sein?

EU als Handlungsfeld wurde akzeptiert

Der Europaparteitag in Hamburg hat demgegenüber die Linie der beiden Parteivorsitzenden Kipping und Riexinger gestärkt. So fand der Wahlprogrammentwurf der beiden Vorsitzenden in Hamburg eine deutliche Mehrheit. Dass die Präambel letztlich »proeuropäischer« ausfiel als von den AlternativantragsstellerInnen gewünscht, war schließlich auch das Ergebnis des gescheiterten Versuchs, die Partei auf eine Politik festzulegen, die eine supranationale Reregulierung des Kapitalismus mittels der EU ablehnt. Aber das ist keine Rechtsverschiebung innerhalb der Partei DIE LINKE, sondern ein Bekenntnis für eine supranationale Re-Regulierung des Kapitalismus, statt auf diese Option zu verzichten.

Darüber hinaus beschloss der Parteitag explizit, sich für einen neuen EU-Verfassungsprozess einzusetzen, der den von den Linken abgelehnten und letztendlich in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten EU-Verfassungsentwurf mit sozialen und demokratischen Vorzeichen ersetzen soll. Das zeigt: DIE LINKE hat die EU und ihre Institutionen, aber auch die in ihr geführten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen als Handlungsfeld erkannt und akzeptiert. Weder politische Auffassungen, die einer Auflösung der EU oder aber die Rückstufung ihres Kompetenzrahmens das Wort redeten, hatten auf dem Parteitag eine Chance. Zugleich hat der Parteitag diese Linie auch personalpolitisch unterfüttert.

Gab es im Vorfeld des Parteitags noch heftigen Streit um verschiedene Listen von KandidatInnen für die ersten acht aussichtsreichen Listenplätze, so hat sich der Parteitag hier ebenfalls für Kontinuität und Konstruktivität entschieden: Mit Gabi Zimmer, Thomas, Händel, Cornelia Ernst, Helmut Scholz, Sabine Lösing und Martina Michels befinden sich immerhin sechs gegenwärtige EU-Parlamentsabgeordnete auf den vorderen Plätzen. Mit Fabio de Masi und Martin Schirdewan wiederum errangen auf Platz 6 und 8 zwei junge Kandidaten unter 40 Jahren aussichtsreiche Plätze. Auch hierbei tarierte der Parteitag offenbar sorgfältig aus: So gewann Fabio de Masi als Vertreter des »Fundiflügels« die Kampfkandidatur gegen den exponierten Kandidaten des »Reformerflügels« Dominic Heilig. Dies gelang ihm aber nur deshalb, weil zuvor der »Fundi« Tobias Pflüger in Kampfabstimmungen unterlag und nicht mehr antrat.

Mit der Wahl von Martin Schirdewan wiederum setzte sich ein eher moderater »Reformer« klar durch, der offenbar thematisch mit seinem Schwerpunkt »sozial-ökologischer Umbau« wie auch persönlich Akzeptanz genoss. Das befürchtete »Durchziehen« eines Lagers blieb damit aus; die Delegierten haben offenbar in ihrer Mehrheit gelernt, dass der 51-Prozent-Sieg im Beschlusskrieg in der Realität bereits die Vorwegnahme der gesellschaftlichen Niederlage ist. Dies will DIE LINKE offenbar zu den Europawahlen vermeiden. »Verankern, verbreitern, verbinden« heißt nicht zufällig die Strategie von Kipping und Riexinger zur Entwicklung der Partei. Auch hier hat der Parteitag bereits etwas - positiv - vorweggenommen.

Jörg Schindler ist Redakteur des Magazins prager frühling und stellvertretender Landesvorsitzender der LINKEN Sachsen-Anhalt.

Erschienen in: ak - analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 592 vom 18.3.2014[1]

Links:

  1. http://www.akweb.de/