Die neue Zeit, die mit uns zieht ….

Rainer Rilling

Zeit

Aus dem Jahr 1288 stammt der Vermerk der ersten „öffentlichen“ Schlaguhr auf dem Glockenhaus von Westminster Hall in England und knapp zwei Jahrhunderte später (1472) wird die bis heute älteste noch existierende Bank der Welt gegründet, die Banca Monte dei Paschi di Siena, die im Palazzo Salimbeni in Siena residiert. Beides repräsentiert eine Doppelrevolution, denn: „Die grundlegende Aufgabe einer genuinen Revolution“, formuliert 1993 Giorgio Agamben, „ist niemals bloß ‚die Welt zu ändern‘, sondern auch – und vor allem anderen – ‚die Zeit zu ändern‘.“ Die Uhrzeit steht für die Entstehung eines neuen Zeitverständnisses, weg von der naturgebundenen zyklischen Zeit und den sinngebenden religiösen Transzendenzzeiten hin zur abstrakten, lineralen, leeren Zeit, in deren Zentrum die Arbeitszeit und ihre Disziplin steht. Zeit wird kommodifiziert und zu einer „spezifisch kapitalistischen Form der Zeit“ (Castree). Die soziale Konstruktion der „Uhrzeit“ und ihre technische Erfindung und Verallgemeinerung werden für die neue Operationsweise des Kapitalismus zentral: Die Akkumulation des Kapitals ist ein Prozess der ständigen Organisation und Reorganisation der Zeitverhältnisse, um eine Vermehrung des eingesetzten Kapitals zu erreichen - durch Verlängerung der Arbeitszeit und wachsende Produktivität durch Senkung der Produktionszeit, Schließung der Poren der Arbeitszeit, Verdichtung, durch die Minderung der Zeit für Distribution und Zirkulation von Waren oder durch die Senkung der Umschlagszeit durch Verringerung der Lebenszeit der Waren. Dadurch werden profitable Zeitvorsprünge und -effizienzen („Zeitersparnis“) erzielt. Die Produktion, Zirkulation und Konsumtion von mehr Waren in kürzerer Zeit wird zur dauerhaften Beschleunigungslogik der Ökonomie. Der Kampf um Zeit beginnt.

Aus anderer Zeit: Palazzo Salimbeni, Sitz der Monte dei Paschi di Siena

Zukunft

Die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird reorganisiert. Aus dem adventus (das was naht) wird das futurum (das was wird), der Zukunftsbegriff dreht sich vom passiven ins aktive: time to come, Gewinnzeit. In der Absicht, zu einem späteren Zeitpunkt in der Zukunft mehr Geld zu erhalten, werden Finanz und Kredit verfügbar gemacht, um in der Gegenwart Investitionen zu ermöglichen; zwischen der Entstehung und der Realisation von Wert existiert eine Kredit erheischende Zeitlücke; das fixe Kapital (Transport, Energie, Gebäude, Arbeitsmittel etc.) hat eine zeitliche Bindung, die lange in die Zukunft reicht. Endlich: Aus Geld entsteht in knappster Zeit umstandslos mehr Geld. Mit der Aussicht auf Profite in der Zukunft wird jetzt investiert, Termingeschäfte werden auf Zukunftsmärkten gehandelt, Futures gehandelt, Kredite werden aufgenommen und „später“ als Schulden abgezahlt – oder auch nicht.

Die Operation mit und auf kommende Zeit – also Zukunft – ist Schlüsselmoment der inneren Bewegungs- und Ausbeutungslogik des Kapitalismus. Dieser welthistorische Bruch der Herausbildung kapitalistischer Zeitverhältnisse transformierte die vorkapitalistischen Vergangenheitsgesellschaften in kapitalistische Zukunftsgesellschaften. Und das ist der Kapitalismus bis heute: eine enorme Zukunftsgesellschaft. Der Raum des Marktes ist das Medium der zukünftigen Gewinnaussichten, indem die künftige Gegenwart in die gegenwärtigen Zukünfte eingepreist und verrechnet wird. Zukünftige Erträge müssen heute vorweggenommen werden, Kapitalvernichtung in der Krise bedeutet auch immer Zusammenbruch von riesigen Fragmenten möglicher Systemzukünfte, wodurch immer neue Probleme aus der Vergangenheit in die Gegenwart gezogen werden und die Zukunftsräume eingeengt werden, weil diese Probleme erst gelöst werden müssen.

Darstellung einer Alternative zum Fließen der Zeit: In dieser Interpretation des Geschehens findet kein Fließen der Zeit statt.

Die fossilen Energievorräte erschöpfen sich, weshalb wir jetzt und seit Jahrzehnten zu regenerativen Energien überwechseln. Um atomaren Katastrophen in der Zukunft zuvorzukommen, wird heute eine Energiewende angegangen. Um imperiale Machtkonstellationen zu sichern oder zu verhindern, werden Kriege geführt, Genozide akzeptiert oder Länder okkupiert. Um die Ausbreitung von Seuchen wie Ebola zu verhindern, werden weitreichende Quarantänemaßnahmen eingeleitet. Ob uns ISIS, Ebola oder die Energiewende beschäftigen, die Alltagsprobleme von Beruf, Familie und Altersvorsorge umtreiben oder ob wir uns um die großen Fragen von Krieg, Krise oder Umwelt sorgen – die Frage „was wird“, wie sieht die Zukunft aus und wie kommen wir „von hier nach dort“ ist immer dabei.

Durch Benennung und Framing, Kalkulation oder Imagination werden „mögliche“ oder „wahrscheinliche“ Zukünfte gleichsam in die Gegenwart hineingezogen. Katastrophen, Ängste und Verheißungen werden bewirtschaftet. Der zukunftsfähige (vor-sichtige) Mensch betreibt Daseins-Vorsorge, um Entwicklungen zu beeinflussen, bevor sie unumkehrbar werden. Krankheits- oder Altersvorsorge sind Beispiele, Versicherungen, Sozialstaaten oder die Finanzialisierung der Natur sind Instrumentarien dafür. Die bekannte Doktrin der „Prävention“ („Vorbeugen“, „Verhüten“) soll das Eintreten einer Zukunft gleich ganz verhindern, ob mit Bomben oder Fitnesscentern. Bei der „Vorbereitung“ (Präparation) geht es darum, sich auf die Folgen einer Zukunft einzustellen, Technische Hilfswerke, Zivilschutz oder Katastrophenschutz sind dafür da. Resilienz schließlich soll uns stressfrei, positiv gestimmt, psychisch wohl reguliert, belastbar, stabil und widerstandsfähig machen, damit wir als optimierte Manager der Unsicherheit alle möglichen Schocks und den „Herausforderungen“ aus unsicheren Zukünften widerstehen können.

Kurz: es wird jetzt geträumt, erhofft, gedacht, geplant, entschieden, gehandelt, investiert, kalkuliert, spekuliert, modelliert, vorgesorgt, verhütet, vorgebeugt, vorbereitet, verschuldet oder gedroht, gebombt, okkupiert und ausgerottet - erstaunlicherweise immer im Namen von etwas, was nicht geschehen ist oder womöglich niemals geschehen wird: der Zukunft oder der Zukünfte. Und doch versuchen wir ständig, die Zukünfte präsent (gegenwärtig) zu machen, sie zu beeinflussen – sie zu machen.

Futuring

Zukünfte werden also erstens durch Benennung und Deutung gefasst, zweitens damit insoweit vergegenwärtigt und diese Präsenz von etwas, was nicht geschehen ist oder womöglich niemals geschehen wird, wird drittens zum Objekt von Entscheidungen, Handlungen oder Handlungsunterlassungen. Dieser Dreischritt könnte in einer Analogie zum Begriff des „commoning“ als „futuring“ („Zukunft machen“) bezeichnet werden.

Sind Zukünfte gefasst und so präsent geworden, können sie bearbeitet und verhandelt werden und kann etwa durch Programmatiken oder politisches Handeln oder Entscheidungen auf diese Präsenz reagiert werden. Und doch: jede in der Gegenwart präsentierte Zukunft wird zwischen einem Hier und Jetzt und einem Dann und Dort aufgehoben. Zukünfte sind präsent aber zugleich abwesend, weil sie nicht geschehen sind, noch nicht da waren und sich womöglich nie ereignen. Sind sie aber gefasst (oder begriffen) und präsent, können sie auf sehr verschiedene Weise unser Handeln orientieren und unge-heuer folgenreich sein.

Wer den Kapitalismus, kritisieren, reformieren oder radikal transformieren will, muss offenbar sich damit auseinandersetzen, dass dieser erstmals und immer noch eine Zukunftsgesellschaft ist. Schwierig für eine Linke, die sich aus eigener Praxiserfahrung und Wissen zu einem Verständnis des Kapitalismus als aktuell und „letztlich“ zukunftsloser Gesellschaft durchgearbeitet hat, dessen Transformation und endliche Überwindung sie daher immer neu auf ihre Agenda setzt. Doch es reicht nicht aus, kühn das mögliche, nötige, angebrachte und machbare Ende des Kapitalismus zu diagnostizieren. Die Linke hat es mit einer Gesellschaft zu tun, die wie keine andere den Zugriff auf Zukünfte in ihre eigene Operationsweise, Handlungsmuster, Reflexion und Politik eingebaut hat (und einbauen musste!), deren ständige Transformation eine essenzielle Bedingung für ihren Bestand ist. Die „neue Zeit, die mit uns zieht“, ist immer noch in letzter Instanz die neue Zeit des Kapitalismus. Die politische Schlüsselaufgabe also ist, Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn (Musil) zueinander zu bringen, im Wirklichen das Mögliche zu finden und im Möglichen das Realistische, Wirklichkeitsfähige – ohne im Wirklichen das Mögliche und im Möglichen das Wirkliche zu verlieren. Durch eine solche Politik des praktischen „futuring“ verändert die Linke auch die Ordnungen der Zeit, ob sie es weiß oder will – oder nicht. Dann ist Wissen strategisch, Politik programmatisch und Handeln nachhaltig geworden. Ohne sie bleibt Wissen orientierungslos, Politik blind, Handeln ohne Reichweite.

Rainer Rilling ist Senior Research Fellow der Rosa Luxemburg Stiftung und Mitglied der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit

Literatur:

Transformation als Futuring, in: Michael Brie (Hrsg.): Futuring. Perspektiven der Transformation im Kapitalismus über ihn hinaus”, Münster 2014 S. 12-48