In Würde Altern oder Malochen bis zum Tode?

Matthias W. Birkwald

Auf der Landkarte linker Zukunftsentwürfe ist das Alter kein weißer Fleck, aber ein wenig ausgeleuchtetes Gelände. In aktivistischen Selbstbildern zieht die Linke eher jugendlich dem Morgenrot entgegen, als dass darin der Lebensabend einen Platz gefunden hätte.

Doch musste sie die Bedeutung des Alters als gesellschaftlicher Zukunftsfrage in einem negativem Lehrstück erfahren: Das Schlagwort von der ‚Generationengerechtigkeit‘ wurde zum erfolgreichen „Vorwand für eine Politik des radikalen Sozialabbaus und die Privatisierung von Lebensrisiken.“[1]

Verlängerung der Lebensarbeitszeit, Absenkung des Rentenniveaus und die als Teilprivatisierung der Altersvorsorge durch die ‚Riester-Rente‘ sind der rentenpolitische Kern dieser Politik.

Meine These ist: Diese rentenpolitischen „Sündenfälle der Nach-Blüm-Ära“[2] waren politisch nur durchsetzbar, weil den Think-Tanks wie der ‚Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft‘ (INSM), der Finanzindustrie und der rot-grünen Bundesregierung eine tief greifende marktradikale Politisierung der Generationenverhältnisse gelang.

Altersarmut der Zukunft: betagter Klonkrieger beim Betteln

Die Demografielüge

„Weil der Bevölkerungsanteil der Älteren infolge der steigenden Lebenserwartung und einer ‚zu niedrigen‘ Geburtenrate ständig zunehme, werde der für die Gewährleistung einer lebensstandardsichernden Rente erforderliche Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung so stark steigen, dass er die beitragspflichtigen jüngeren Generationen überfordere,“[3] oder kurz: ‚Immer weniger Jüngere können nicht immer mehr Alte ernähren‘, so lautete das von Talk-Show zu Talk-Show mit wachsendem Erfolg in den Alltagsverstand geprügelte Credo der Demografielüge.

Noch heute ist dieser ideologisch inszenierte Generationenkonflikt so wirkungsmächtig, dass er als gemeinsame Grundmelodie der Kritik des CDU-Wirtschaftsflügels und der Grünen an den Kosten von Andrea Nahles‘ Rentenpäckchen[4] im Bundestag zu hören war.

Hinzu kam in der ‚nach- Blüm-Ära‘ noch die Verheißung, Kapitalanlagen für die private Altersvorsorge würden erheblich höhere Renditen erzielen als die langweilige gesetzliche Rente. Weil beide Argumente auch ohne die aktuellen Krisenerfahrungen von Bankencrash und Eurokrise grottenfalsch sind, verdienen sie einen kurzen, den Blick für generationsspezifische Verteilungsfragen schärfenden, materialistischen Faktencheck.

Materialistischer Faktencheck 1: Bevölkerungs- und Produktivitätsentwicklung

Der Anstieg der Produktivität pro Arbeitsstunde ermöglichte bereits im vergangenen Jahrhundert, dass mehr soziale Sicherheit im Alter auch bei deutlich steigender Lebenserwartung möglich war. Und bei einer Steigerung der Arbeitsproduktivität von nur einem Prozent jährlich wird dies auch in Zukunft so sein können, wie Gerd Bosbach ausführlich nachgewiesen hat.[5]

Für den gesellschaftlichen Mainstream geriet dies jedoch ebenso in Vergessenheit wie der tatsächliche Zusammenhang damaliger Probleme der Rentenkasse mit Massenerwerbslosigkeit, sinkender Lohnquote und hinter der Produktivitätsentwicklung zurückbleibender Lohnsteigerungen.

Materialistische Korrektur 2: Die Gegenwart des Konsums und die Finanzmärkte

In der Gattungsgeschichte lebten stets die noch-nicht arbeitsfähigen Jungen und die nicht mehr arbeitsfähigen Alten gemeinsam von den Produkten der Arbeit der zu diesem Zeitpunkt arbeitenden Generation. Und dem entkommt auch die vermeintliche Magie der Finanzmärkte nicht:

So birgt kapitalgedeckte Altersvorsorge das Risiko, dass die Einzelkapitale, in die investiert wurde, den kapitalistischen Konkurrenzkampf nicht lange genug überleben.

Eine umlagefinanzierte gesetzliche Rente hingegen sichert einen vom einzelnen Kapital unabhängigen Anteil am gesellschaftlichen Arbeitsertrag. Zugleich sichert sie ab, dass die Ansprüche auf Alterseinkommen den Beschäftigten nicht als Kapital entgegentreten, dessen Renditeansprüche zusätzlich auf ihre Einkommen drücken.

Rentenpolitische Zukunft – vom Notgroschen zum Lohnersatz und weiter zum Kombilohn?

Mit den rentenpolitischen „Sündenfällen der Nach-Blüm-Ära“[6] ist eine Entwicklung vorgezeichnet, die die sozialen Spaltungen der Gesellschaft zukünftig im Alter nicht nur abbilden, sondern potenzieren wird.

Kern des Problems ist, dass SPD und Grüne mit dem Dogma der Beitragssatzstabilität das Ziel der Lebensstandardsicherung durch die gesetzliche Rente aufgegeben haben: Die sogenannte Eckrente nach 45 Beitragsjahren mit durchschnittlichem Verdienst ist seit 1991 real – also unter Berücksichtigung der Preisentwicklung – um 14 Prozent gesunken[7]. 2013 lag sie noch bei 1135 Euro. Doch anders als der fiktive Eckrentner gingen reale Rentner*innen im Schnitt nach 35,7 Versicherungsjahren in Rente. Das entspricht einer Nettorente von 920 Euro. So nähert sich auch die durchschnittlich verdienende ‚Mitte‘ immer mehr dem Grundsicherungsniveau.

Noch härter und länger trifft es wegen der hohen Abschläge bei der Erwerbsminderungsrente jene Beschäftigte, die so krank werden, dass sie nicht mehr arbeiten können. Für sie lautet das Urteil: Lebenslänglich Armut per Gesetz!

Hatte noch Ernst Bloch dem Alter „Zeiten verkörpernd, worin noch nicht alles Betrieb war, vor allem: worin er wieder aufhören wird,“[8][1] eine generationsspezifische Perspektive der Emanzipation zugeschrieben, geht kapitalistisch die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung: Malochen bis zum Tode, weil die Rente nicht zum Leben reicht.

Für 836.674 Rentner*innen mit Minijob galt das schon 2013, darunter 135.546 Menschen im Alter von mehr als 75 Jahren.[9] Durch nackte Not erzwungene Lohnarbeit wird bis ans Ende der physischen Leistungsfähigkeit ausgedehnt. Danach bleibt nur die beschämende Aussicht auf soziale Isolation und eine auf die elementarsten physischen Grundbedürfnisse reduzierte Pflege.

Und mit dem Versprechen eines Zugewinns an Selbstbestimmung und der Drohung mit dem angeblichen Fachkräftemangel arbeiten die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) und der Wirtschaftsflügel der CDU unter der Formel ‚Arbeit plus Rente‘ an der Ausweitung eines ‚grauen Arbeitsmarktes‘, auf dem die gesetzliche Rente ihnen als Kombilohn Kosten spart.

Alternativen zur Altersarmut – ein Einfaches, das schwer zu machen ist

Bauten wir die heutige Rentenversicherung zu einer Solidarischen Rentenversicherung für alle Erwerbstätigen um, zahlten wir die bisher in die Riesterrente geflossenen 27 Milliarden Euro Steuergelder statt an die Versicherungskonzerne in die gesetzliche Rentenkasse, dann wäre eine umlagefinanzierte und den Lebensstandard sichernde Rente armutsfest und mit moderat steigenden Beiträgen finanzierbar: Das Rentenniveau könnte auf 53 Prozent angehoben und die Kürzungsfaktoren aus der Rentenformel gestrichen werden. Eine verbesserte Anrechnung von Pflege- und Erziehungszeiten sorgte ebenso für eine geschlechtergerechtere Rente wie Aufwertung und bedarfsgerechter Ausbau von Pflege- und Erziehungsarbeit, die zudem zu einem Anstieg der Lohnquote führen könnte.

Altersarmut gehörte endgültig auf den Müllhaufen der Geschichte, wenn begleitend eine Solidarische Mindestrente die Opfer von Langzeiterwerbslosigkeit und verfehlter Niedriglohnpolitik der Vergangenheit schützte.

Möglich ist die Durchsetzung dieses alternativen Entwicklungspfades durchaus. Ob sie gelingen wird, hängt allerdings eher weniger von der Stimmigkeit rentenpolitischer Gegenentwürfe ab.

Hegemoniale Lektion

Trifft meine These zu, dass die rentenpolitischen Sündenfälle der Ära Schröder nur gestützt auf eine marktradikale Politisierung der Generationenverhältnisse möglich waren, dann tut eine hegemoniefähige Gegenstrategie not:

Und die habe auch ich nicht in der Schublade. Sie zu entwickeln und durchzusetzen, das kann nur in einer gemeinsamen und widerspruchsvollen Anstrengung von gesellschaftlicher Linker, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen gelingen.

Einige aus meiner Sicht dafür unverzichtbare Elemente lassen sich aber bereits heute ausmachen:

Unerfüllte Bedürfnisse nach mehr Zeit fürs eigene Leben, für Kinder, Freund*innen, Hobbies oder die Pflege von Angehörigen, aber auch der Anspruch nach Bestätigung durch qualifizierte Arbeit müssen miteinander und mit den Institutionen des Sozialstaates verbunden werden.

Gute Arbeit und Gute Rente gehören zusammen: Ein armutsfester gesetzlicher Mindestlohn, Lohnsteigerungen, die zumindest nicht hinter der Produktivitätsentwicklung zurückbleiben, und die Aufwertung und der Ausbau von Pflege- und Erziehungsarbeit sind notwendige Mindestbedingungen für mehr Geschlechtergerechtigkeit und eine Umkehr verteilungspolitischer Fehlentwicklungen.

Soziale Sicherungssysteme brauchen solidarische Elemente, die soziale Grundrechte unabhängig vom individuellen Erfolg oder Misserfolg beim Verkauf der eigenen Arbeitskraft garantieren. Eine Solidarische Mindestrente wäre hier beispielhaft zu nennen.

Eine hegemoniale Grundvoraussetzung, ohne die es nicht gehen wird, bleibt das mit der umlagefinanzierten gesetzlichen Rente geknüpfte direkte Band zwischen der Teilhabe an der Erwerbsarbeit und dem Einkommen im Alter: Das Anrecht auf Einkommen im Alter darf den Beschäftigten weder wie in der privaten Altersvorsorge als Kapital gegenübertreten noch wie in steuerfinanzierten Systemen zum Spielball von politischen Mehrheiten und konjunkturell schwankenden Kassenlagen werden.

Autor:

Matthias W. Birkwald. Matthias ist rentenpolitischer Sprecher der Fraktion der LINKEN im Deutschen Bundestag.

Literatur

[1] „Soziale Gerechtigkeit statt Generationenkampf – Für eine nachhaltige Politik des Sozialstaates im Interesse von Jung und Alt“, Antrag der Abgeordneten Diana Golze, Katja Kipping, Jan Korte etc. und der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag; DS 16/6599 vom 10.10.2007.

[2] Martin Staiger: Schröder, Riester, Müntefering: Die Demontage der Rente, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 3/2014, S. 109-118

[3] Daniel Kreutz, ‚Generationengerecht‘ in die Altersarmut, in: Christoph Butterwegge/Gerd Bosbach/Matthias W. Birkwald (Hg.): Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung, Frankfurt/Main 2012, S. 189.

[4] Ausführlich habe ich die Einschätzung, dass dieser Beschluss der ‚GroKO‘ bei allen Leistungsverbesserungen für einzelne Gruppen keines der Grundprobleme des Rentensystems auch nur aufnimmt, begründet in: Matthias W. Birkwald: Manches wird besser- nichts wird gut, in: Sozialismus 6/2014, S. 53-56.

[5] Zu dem Beitrag ‚Demografie als Angstmache‘ in der taz vom 28.1.2014 fasst er seine Berechnungen wie folgt zusammen: „Ich bin sogar auf 1 Prozent Produktivitätszuwachs runtergegangen und habe gezeigt, dass selbst dann noch die Produktivität schneller wächst als die Alterung.“

[6] Martin Staiger: Schröder, Riester, Müntefering: Die Demontage der Rente, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 3/2014, S. 109-118

[7] Rudolf Martens, Altersarmut in Deutschland: Bislang nur die halbe Wahrheit, (Hrsg.: Der Paritätische Gesamtverband), Berlin 2014, S. 19 http://www.der-paritaetische.de/uploads/media/140821_Altersarmut_Expertise.pdf[2] .

[8] Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Gesamtausgabe Bd. 5, Frankfurt am Man 1959, S. 43

[9] Antwort der Bundesregierung auf meine schriftliche Frage im Januar 2014.

Links:

  1. https://www.prager-fruehling-magazin.de#_ftn8
  2. http://www.der-paritaetische.de/uploads/media/140821_Altersarmut_Expertise.pdf