Auf dem Kopf

Simon Schwartz widmet sich gesellschaftlichen Außenseitern. Nicht immer wird er dem Anspruch des Titels gerecht

Stefan Gerbing

Der Titel von Simon Schwartz‘ Comicband „Vita Obscura“ markiert einen Anspruch. Während in einer „Camera Obscura“ eine seitenverkehrte und auf dem Kopf stehende Projektion der Außenwelt erzeugt wird, so will auch Schwartz zeitgenössische Wertungen auf den Kopf stellen. Seine Sammlung biographischer Skizzen stellt Ausgestoßene in den Mittelpunkt und erinnert an in Vergessenheit Geratene. Neben Stadtstreicher Joshua Norton, der Mitte des 19. Jahrhunderts als selbst ernannter „Kaiser der USA“ große Sympathie bei der Bevölkerung San Franciscos genoss, finden sich unter anderem der Bruder Friedrich des Großen oder die mythische Figur des GI John Frum, der auf der Pazifikinsel Tanna als Gottheit verehrt wird.

Zwar sind die einzelnen Portraits zunächst als Serie in der Wochenzeitung Freitag erschienen, jedoch ist ihr Stil keineswegs seriell. Jede der ganzseitigen Miniaturen ist individuell aufgeteilt und mit unterschiedlichen Mitteln, als Kohle- oder Tuschezeichnung, als Öl-Malerei oder sogar als Serie von Tonkacheln umgesetzt. Nicht selten lässt sich eine Bezugnahme auf die dargestellte Biographie und ihre Zeit erkennen. Oft verstecken sich Anspielungen und kleine Bildwitze, denen man die Liebe zum Detail anmerkt. Auch wenn man von der ein oder anderen Figur schon einmal gehört haben mag, da der Autor seine ProtagonistInnen über verschiedene Kontinente und unterschiedliche Epochen verteilt, wird es wohl kaum Lesende geben, die keine Anregungen zu weiterer Lektüre finden.

Nicht immer löst Schwartz allerdings das Versprechen, hegemoniale Wertung zu verkehren, ein. Drei Viertel der Porträtierten sind männlich, ein ähnlich hoher Prozentsatz amerikanischer oder europäischer Herkunft. Zum Teil werden, wie in der Kurzbiographie von Henrietta Green, zeitgenössische Verunglimpfungen und Abwertungen übernommen. Green trafen diese nicht zuletzt, weil sie mit zeitgenössischen Geschlechterrollen in Konflikt geriet. Ihr widersprüchliches Leben gerinnt, auf 5 bis 10 Frames zusammenkürzt, zum Klischee.

Die 1834 als Henrietta Robinson geborene Green beschränkte sich, als ihr Vater starb nicht auf die Rolle der genügsamen Erbin. Sie, die ihrem Vater zuvor im Geschäft zur Hand gegangen war, arbeitete fortan auf eigene Rechnung und verzehnfachte das Erbe durch Spekulationen und geschickte Anlagen. Sie führte ihre Geschäfte selbst und war zeitlebens in unzählige, oftmals überaus aufsehenerregende Gerichtsprozesse verstrickt. Bei ihrer Heirat mit Edward Henry Green bestand sie wohlweislich auf Gütertrennung. Stolz sprach sie gegenüber JournalistInnen von ihren Siegen gegen den Eisenbahnmagnaten Collis P. Huntington[1]. Als schließlich reichste Frau und eine der reichsten Personen Amerikas überhaupt, steht sie in einer Reihe mit ihren männlichen, noch heute bekannten Pendants Andrew Carnegie, John D. Rockefeller oder J.P. Morgan. Die Bank des Letzteren rettete sie mit einem Hilfskredit während der Börsenpanik von 1907 vor dem Zusammenbruch. Sicher nicht zuletzt wegen solcher narzistischer Kränkungen der auch damals männlich dominierten Finanzwelt wurde sie als „Hexe der Wallstreet“ verspottet.

Diesen Titel übernimmt Schwartz und in seinen Bildern wird Green auch physiognomisch zur Hexe. Schwartz beschränkt sich auf Anekdoten über ihre vermeintliche Knausrigkeit und ihren „unerbittlicher Geiz“, der das „wahre Geheimnis ihrer Reichtums“ gewesen sei. Tatsächlich legte Green, die eine strenge Quäker-Erziehung genossen hatte, wenig Wert auf teure Kleidung, sie speiste in billigen Restaurants und verzichtete auf alle Zeichen von Luxus. Was heute vermutlich als Bescheidenheit gewertet würde, wurde in der Boulevardpresse in allerlei grotesken, meist gnadenlos übertriebenen Geschichten in den schillerndsten Farben ausgeschmückt. Aus diesem Mythenschatz bedient sich auch Schwartz und legt damit ein Problem des Schreibens über gesellschaftliche Außenseiter offen.

Schreibt man über historische Personen besteht die Gefahr, dass aus den Quellen der hegemoniale Blick und die Wertungen der Zeitgenoss*innen unhinterfragt übernommen werden. Statt die überlieferten Bilder in einer Camera Obscura auf den Kopf zu stellen, dienen sie der Illustration von Stereotypen. Auch hierfür gibt es ein historisches Vorbild: die Freak Show.

Simon Schwartz: Vita Obscura, 72 Seiten, Vierfarbdruck mit Hardcover kostet 19,90 Euro und ist 2014 im Avant-Verlag[2] erschienen.

Links:

  1. http://de.wikipedia.org/wiki/Collis_P._Huntington
  2. http://avant-verlag.de/