»Der politische Pazifismus muss neu erfunden werden«

Streitgespräch mit Kathrin Vogler, Arvid Bell, Martin Glasenapp und Jan van Aken

prager frühling: Außenpolitische Ansätze, die im linken Spektrum vertreten werden, sind entweder durch den klassischen Antiimperialismus inspiriert, der internationale Politik nur aus der Dominanz der USA ableitet. Oder er bezieht sich auf einen außenpolitischen Liberalismus, wobei die Durchsetzung vermeintlich universalen Rechts dann auch schnell einmal bellizistisch wird. Können wir mit diesen Ansätzen noch etwas anfangen oder brauchen wir neue?

Jan van Aken: Ich sehe diese Ansätze nicht als Einerseits und Andererseits. Linke Politik muss antiimperialistisch sein – und die Durchsetzung von Freiheitsrechten ein Ziel linker internationalistischer Politik. Insofern haben beide Positionierungen etwas.

Martin Glasenapp

Martin Glasenapp: Der Liberalismus oder Menschenrechts-Interventionismus in seiner Wende aus der Linken heraus ist auch eine Reaktion auf das realpolitische Dilemma, dass es extreme Gewaltverhältnisse und Unrechtssituationen gibt, in denen nur die Wahl zwischen lokaler despotischer Vernichtung und westlicher normierter Gewalt zu bestehen scheint. Das eine ist, dass diese gewalttätige Politik des vermeintlich kleineren Übels ihrerseits die strukturelle Gewalt der liberalen Demokratie ihre Verantwortung für das globale Schlammassel alternativlos in Kauf nimmt. Entscheidender ist aber, nicht zum Opfer dieser moralischen Erpressung gemacht zu werden, weil unser wahres Fiasko natürlich darin besteht, oft keine unmittelbaren Alternative anbieten zu können. Die ist nur möglich, wenn wir die Koordinaten der Gesamtsituation ändern. Eine langwierige wie komplizierte Aufgabe.

Arvid Bell: Ja, die Aufgabe ist kompliziert, aber ich bin da nicht so pessimistisch wie Martin. Ich sehe da zwar einen Widerspruch, aber einen, den man auflösen kann. Ein wichtiger aber selten explizit diskutierter Widerspruch zwischen antiimperialistischer und liberaler Linker liegt meiner Ansicht nach auf der Ebene der Konfliktwahrnehmung, von der sich dann unterschiedliche Konfliktlösungsstrategien ableiten. Für Teile der politischen Linken sind gewaltsame Konflikte die natürliche Konsequenz globaler imperialer Strukturen, die sie als so mächtig und so verfestigt ansehen, dass alle Versuche, diese schrittweise zu reformieren und die internationalen Beziehungen zu verrechtlichen naiv oder aussichtslos sind.

Jan van Aken

Jan van Aken: Ich stimme Dir zu, wenn Du damit auch kritisierst, dass politische Verhältnisse falsch beschrieben werden, um die reine Lehre des Anti-US-Imperialismus bzw. Menschenrechtsinterventionismus zu rechtfertigen. Das hat dann nur noch wenig mit unterschiedlicher Konfliktwahrnehmung und der Frage nach der richtigen linken Strategie zur Umwälzung der Verhältnisse zu tun. Da geht es um ideologischen Bullshit, der die Betroffenen von Unterdrückung und Gewalt nur instrumentalisiert. Damit kann ich nichts anfangen, das ist menschenverachtend und nicht einmal fortschrittlich. Das darf andererseits aber auch nicht dazu verleiten, den realen imperialistischen Kern von USA und NATO zu ignorieren.

Martin Glasenapp: Zustimmung. Aber wir sollten hier schon festhalten, dass der Welterfolg des Kapitalismus ja bekanntlich nicht allein auf der Magie des freien Wettbewerbs beruht, sondern seine Marktdominanz immer wieder auch durch militärische Interventionen aller Art abgesichert wird. Dabei gleichen die Eroberungsfeldzüge immer mehr Polizeiaktionen hoher Intensität, um die großen Industrie- und Finanzmächte gegen alles abzuschirmen, was ihnen gefährlich werden könnte. In dieser Weltressourcen-Ordnung sind die USA aber noch immer die besonderen Gleichen unter den Gleichen. Sie handeln im Alleingang in einer multizentrischen Welt und beanspruchen das globale Gewaltmonopol, sie gewinnen ihre Kriege fast immer und verlieren gleichzeitig den Frieden. Eine antiimperiale linke Kritik ist also richtig und notwendig. Sie ist dann kein Korsett aus einer anderen Zeit, wenn sie zugleich das tatsächlich linke Problem anerkennt, dass diejenigen, die an vielen Orten die Globalisierung im Namen von Traditionen bekämpfen kaum Träger einer Befreiungsperspektive sind, sondern allenfalls Protagonisten einer besonders pervertierten Modernisierung. Aber das es auch linke Auswege aus diesen zwei schlechten Alternativen geben kann, beweißt nicht zuletzt das neue Kurdistan in Syrien.

Jan van Aken: Ja, völlig richtig, aber mich stört der alleinige Blick auf die USA. Du hast es schön formuliert, dass sie die besonderen Gleichen unter den Gleichen sind – aber sie sind es nicht allein. Was ist mit Berlin, Paris oder Brüssel, um mal in Europa zu bleiben. Komischerweise wird von einigen Linken komplett ausgeblendet, dass auch von dort aus reichlich mitgemischt wird, wenn es etwa um die Sicherung von Absatzmärkten und den Zugriff auf Rohstoffe geht. Vor lauter antiimperialistischer Kritik wird dann leider die antikapitalistische vernachlässigt. Ich bin auf Veranstaltungen schon als Mittäter beschimpft worden, weil ich nicht nur die USA kritisiere und für alles Böse allein verantwortlich mache.

prager frühling: Jan spricht vom ideologischen Bullshit auf beiden Seiten. Siehst du den auch, Kathrin?

Kathrin Vogler

Kathrin Vogler: Jan hat es ja manchmal mit den Kraftausdrücken. Aber es stimmt schon, für die Linke im 21. Jahrhundert ist es notwendig, den platten Antiimperialismus zu überwinden. Stattdessen muss der politische Pazifismus neu erfunden werden. Darunter verstehe ich eine Haltung, die militärische Gewalt nicht nur ablehnt, wenn sie vom Empire und seinen Verbündeten ausgeübt wird, sondern die sich insbesondere darum kümmert, die Gewaltpotenziale der eigenen Gesellschaft zu verringern und Konflikte durch Verhandlungen und Interessenausgleich zu bearbeiten. Die Überwindung von Krieg, Gewalt, Rüstung und Militär ist wesentlich für eine neue, gerechtere Weltordnung. Andererseits muss die kannibalische Weltordnung, wie Jean Ziegler sagen würde, verändert werden, die friedliche Verhältnisse auf diesem Planeten verhindert.

Arvid Bell: Stimmt, aber liberale Linke würden jetzt sagen: Auch eine friedliche Weltordnung braucht globale Ordnungsstrukturen. Und in diesem Punkt haben sie meiner Meinung nach recht: Es gibt durchaus Spielraum für progressive Veränderung. Es ist keineswegs so, dass die USA alle globalen Regeln im Alleingang diktieren können, selbst wenn sie wollten, und es gibt außerdem innerhalb der USA Verbündete für progressive Weltinnenpolitik. Universell gültige Menschenrechte sowie die Vereinten Nationen müssen daher zentrale Bezugspunkte für eine weniger imperiale Weltordnung sein. Teile der antiimperialistischen Linken müssen sich daher fragen lassen, ob sie dem Ziel einer gerechteren Welt einen Bärendienst erweisen, indem sie diesen Gestaltungsspielraum verneinen und sich stattdessen, von Putin bis Montagsmahnwachen, mit allen solidarisieren, die nur laut genug gegen USA, NATO und den Westen agitieren.

Martin Glasenapp: Aber eine antiimperiale linke Kritik bleibt weiterhin notwendig. Darum darfst du dich nicht drücken, Arvid.

prager frühling: Kathrin, Jan, diese Frage geben wir an euch einmal weiter: Seht ihr diesen von Arvid beschriebenen Gestaltungsspielraum in der Weltpolitik in den internationalen Institutionen oder im internationalen Recht?

Kathrin Volger: Natürlich sieht es aktuell nicht gut aus. Die einflussreichen internationalen Organisationen sind von den USA dominiert und die internationalen Organisationen, die nicht von den USA dominiert sind, sind nicht einflussreich. Aber wenn wir die Logik imperialer Politik, die Logik militärischer Machtprojektion überwinden wollen, dann gibt es aus meiner Sicht keine Alternative dazu, verzweifelt an der Idee einer Weltfriedensordnung, wie sie in der UN-Charta skizziert ist, festzuhalten, auch wenn es da natürlich Reform- und insbesondere Demokratisierungsbedarf gibt. Die einzige Alternative, die ich sehe, wäre auf die Herausbildung alternativer Machtblöcke zu setzen, etwa die BRICS-Staaten. Aber ich hoffe sehr, dass deren Auseinandersetzung mit dem Westen im Rahmen der Vereinten Nationen stattfindet und nicht in den Formen der klassischen Macht- oder Geopolitik.

Jan van Aken: Bei uns im Fraktionssaal hängt ein Zitat von Rousseau, in dem er dem Recht des Stärkeren die Stärke des Rechts entgegensetzt. Ich halte es für absolut notwendig, dass sich in den internationalen Beziehungen auf für alle geltendes internationales Recht bezogen wird. Die Vereinten Nationen sind für den Bezugsrahmen prinzipiell der richtige Ort. Aber mir ist zum Einen der Tenor zu holzschnittartig, hier die antiimperialistische Linke, dort die liberale. Es ist doch nicht so, dass sich allein die Liberalen positiv auf Organe wie die UN beziehen und die antiimperialistische Linke sie generell ablehnt. Manche reden sich die globalen Institutionen auch schöner und demokratischer als sie sind. Zum Anderen sind die Vereinten Nationen zwar die globale Organisation mit der größten Legitimation, sie spiegeln aber auch nur die globalen Machtverhältnisse, als Summe aller Staatsoberhäupter, wider. Zudem sind einzelne Mitglieder, z. B. die Mitglieder des Sicherheitsrats, stark privilegiert. Das macht die Gestaltungsspielräume wirklich eng. Diese zu vergrößern ist eine riesige Aufgabe und gleichzeitig eine enorme Herausforderung, die wir mit der gebotenen Skepsis, aber nicht in einem Gegeneinander angehen müssen.

Arvid Bell

Arvid Bell: Dieser Appell klingt großartig, ich frage mich allerdings, warum die politische Linke dann nicht öfter an einem Strang zieht und beispielsweise gemeinsam für eine demokratischere UN, für wirksameres internationales Recht und für mehr zivile Konfliktlösung kämpft. Die Fragmentierung der Linken in Inseln von Besserwissern, die sich gegenseitig Putin-Versteherei, Assad-Verharmlosung, Kriegstreiberei, Faschismusverharmlosung, und sonstige Unappetitlichkeiten vorwerfen, stabilisiert am Ende nur die herrschenden Verhältnisse, nämlich eine zutiefst ungerechte Weltordnung.

prager frühling: Jenseits der Gestaltungsspielräume geht es in der internationalen Politik immer auch Formen der zivilen Konfliktlösung und Konfliktvermeidung, Arvid hat sie gerade angesprochen. Wäre das nicht der Weg, den eine linke Außenpolitik beschreiten muss, Jan?

Jan van Aken: Wir müssen uns davor hüten, zivile Konfliktbearbeitung mit linker Außenpolitik gleichzusetzen. Sie ist allenfalls Element eines politischen Pazifismus wie ihn Kathrin skizziert, aber nicht per se links. In der deutschen und der EU-Politik wird die zivile Konfliktbearbeitung als nicht-militärisch definiert. Aber als ein Instrument unter vielen wird sie allzu oft zur Flankierung militärischer Interventionen eingesetzt. Zudem wird Polizeiausstattung und –ausbildung als zivil deklariert, was in den meisten Fällen wirklich absurd ist. Für mich liegt erstens die Betonung auf zivil im Sinne von gewaltfrei. Es geht nicht darum, Konflikte als solche zu beseitigen, sondern um ihre gewaltfreie Austragung, den friedlichen Ausgleich zwischen widerstreitenden Interessen oder konkurrierenden Ansprüchen. Wenn wir zweitens Krisenvorbeugung nicht als Notwendigkeit zur imperialen oder/und ökonomischen Interessensdurchsetzung definieren, die mal militärisch und mal zivil daherkommt, sondern vielmehr als eine Politik der globalen sozialen Gerechtigkeit, dann wird vielleicht linke Politik draus.

Martin Glasenapp: „Konfliktvermeidung ist mir zu defensiv. Es geht doch vielmehr um Räume der Gerechtigkeit und letztlich von gesicherten Rechten. Vielleicht müssen wir ein paar banale Richtigkeiten wieder neu denken lernen. Vom Bewegungsstandpunkt heißt zivile Konfliktlösung letztlich unmittelbare Verbindungen zu jenen gesellschaftlichen Kämpfen und politischen Bewegungen herzustellen, die für soziale Gerechtigkeit einstehen. Linke sollten die Frage des Konflikts und der Gewalt nicht außerhalb des sozialen und politischen Kontextes diskutieren, sonst landen wir nur bei der Bewahrung des Status Quo von Unrechtsverhältnissen und bleiben in Kategorien wie Stabilität und Ordnung.Wessen Welt ist die Welt? Diese alte linke Frage steht ja nach wie vor auf der Tagesordnung.

prager frühling: Kathrin, hast du auch ein so defensives Verständnis von der zivlen Konfliktlösung und von Konfliktvermeidung?

Kathrin Vogler: Wenn ihr auf dem Begriff Konfliktvermeidung beharren wollt, dann sage ich das auch nochmal: Konflikte müssen gar nicht vermieden werden, die gehören zum Zusammenleben dazu.

prager frühling: ... die Botschaft ist angekommen.

Kathrin Vogler: Das freut mich.

prager frühling: Aber wir wollten dich nicht unterbrechen ...

Kathrin Vogler: Das schlimme an Bürgerkriegen ist ja nicht der Konflikt an sich, oft auch nicht die dahinterliegenden Interessen, sondern die Art wie der Konflikt ausgetragen wird. Mir geht es um die Bearbeitung von Konflikten, dass Menschen lernen, ihre Konflikte ohne Gewalt zu regeln. Dafür steht die zivile Konfliktbearbeitung. Je besser deren Erfolge bekannt sind, umso schwerer wird es, mit dem Argument Aber wir können doch nicht einfach zusehen“, Militäreinsätze zu legitimieren. Zivile Konfliktbearbeitung ist in vielen Fällen schon unglaublich erfolgreich.

prager frühling: Kannst du Beispiele nennen?

Kathrin Vogler: Gerne. Die Beendigung des Bürgerkriegs auf der Pazifikinsel Bougainville ist so ein Beispiel[1]. Dass das auf der großen Ebene noch nicht sichtbar ist, liegt an den beschränkten Mitteln, die wir dafür aufwenden. Wenn wir nicht ein oder zwei Friedensfachkräfte schicken würden, sondern in geeigneten Situationen Hunderte oder noch mehr, dann hätte das auch sichtbare Auswirkungen. Weil Konflikte vielfältig sind, gibt es auch ein breites Spektrum der zivilen Konfliktbearbeitung. Das reicht von der Wahlbeobachtung über die Aufklärung von Kriegsverbrechen bis zur Begleitung von Friedensverhandlungen und von der konfliktsensiblen Journalismus-Ausbildung bis zu einer Kommission, die gemeinsame Schulbücher für jüdisch-palästinensische Schulen aushandelt. Und wir sind noch lange nicht am Ende der Möglichkeiten.

Arvid Bell: Sehr gute Beispiele, große Zustimmung! Was mir hier in der Debatte oft zu kurz kommt: Genau wie Kriege fallen Waffenstillstände, Friedensverhandlungen und Dialog zwischen Konfliktparteien nicht einfach vom Himmel, sondern werden von Menschen gemacht. Zivile Konfliktlösungsmethoden und –strategien müssen verstanden, gelernt und politisch durchgekämpft werden. Dazu gehört in Deutschland zum Beispiel eine Stärkung der Friedens- und Konfliktforschung, um die Ursachen von Gewalt besser zu verstehen, ebenso wie eine bessere Ausstattung der Instrumente, wie sie z. B. im Aktionsplan Zivile Krisenprävention genannt werden.

prager frühling: Die Stärkung der zivilen Konfliktbearbeitung scheint ja eine große Gemeinsamkeit zu sein. Was würdet ihr einem zeitgemäßen linken Antimilitarismus mit auf den Weg geben?

Arvid Bell: Viele liberale Linke sind anfällig für die Versuchung, statt auf die Logik imperialer Macht auf die Logik vermeintlich universeller Moral zu setzen. So erklärt sich auch die Anfälligkeit vieler Grüner für so genannte humanitäre Interventionen. Auf der anderen Seite sind viele radikale Linke anfällig für geopolitischen Determinismus und für den Irrglauben in die selbsterfüllende Prophezeiung vermeintlich unzähmbarer imperialer Macht. Sie versuchen gar nicht erst, der Macht eine bessere Ordnungskategorie entgegenzusetzen als die Moral, nämlich wirksames internationales Recht.

Kathrin Vogler: Ja, aber es hat noch nie ausgereicht, gegen Krieg zu sein um Kriege zu verhindern, Arvid. Und ja, wir müssen Alternativen zur Weltordnung der Gewalt entwickeln und politisch durchsetzen. Aber aus meiner Sicht wird viel zu wenig darüber gesprochen, dass Militäreinsätze überhaupt nicht erfolgreich sind. Wir reden viel über vermutete oder tatsächlich dahintersteckende Interessen, aber kaum davon, dass Militäreinsätze Menschenrechte, Frauenrechte, Demokratie niemals erreichen: Aber in einem Punkt ist dir natürlich zuzustimmen, Arvid. Wir dürfen nicht beim Anti stehenbleiben.

Jan van Aken: Mit auf den Weg geben klingt komisch, das will ich gar nicht. Antimilitarismus heißt für mich heute, der vermeintlichen Alternativlosigkeit des Militärischen in jedem Fall zu widerstehen. Das heißt auch, den Panzer im eigenen Kopf abzurüsten, sich gar nicht erst auf die Falle einzulassen, dass die Alternative zum Militärischen oder zum Polizeilichen angeblich nur Nichtstun, nur Zuschauen sei. Antimilitarismus heißt, auf zivilen Lösungen zu bestehen, sie zu suchen und aufzuzeigen. Aber am Ende geht es um soziale Gerechtigkeit — da bin ich ganz bei Martin — und darum, internationales Recht zur Geltung zu bringen, wie Arvid sagt. Dafür brauchen wir mehr als Antimilitarismus, sondern eine aktive Friedenspolitik.

Arvid Bell: Da stimme ich Jan voll und ganz zu.

Kathrin Vogler: Ich will da noch zwei Aspekte ergänzen. Erstens: Möglichst viele Menschen von der Sache des Friedens und vom Mitmachen begeistern, statt sektiererisch die eigene Weltanschauung zum Maßstab aller Dinge zu machen. Zweitens: Mehr Mut und Zivilcourage haben. Die FreundInnen des Friedens sind seit Liebknechts und Ossietzkys Zeiten je nachdem als Vaterlandsverräter oder fünfte Kolonne, als Feiglinge oder kleinbürgerliche Illusionäre beschimpft worden. Ich wünsche mir mehr Biss gegen die Kriegspropagandisten und mehr Solidarität mit denen, die heute von ihnen angegriffen werden.

prager frühling: Sich der Logik des Militärischen zu entziehen, darin scheint Einigkeit zu bestehen. Aber Arvid hat eben noch das internationale Recht angesprochen, wie sollte sich ein linker Antimilitarismus darauf beziehen?

Martin Glasenapp: Zunächst: Ein ausdrücklich linker Antimilitarismus springt zu kurz, wenn er sich nur auf die Fragen von Krieg, Frieden oder Souveränitätsrechten reduziert. Es gibt autoritäre Staaten, die allenfalls dysfunktional zur westlichen Ordnung stehen, deren Sturz aber dennoch mehr als legitim und wünschenswert wäre. Eine Parole wie Hände weg von Syrien ist insofern kein rhetorischer Fehlgriff, sondern politisches Versagen, wenn nicht in gleichem Atemzug die syrische Despotie verurteilt wird.

Arvid Bell: Zustimmung. Aber, du bist der Frage ausgewichen, Martin: Was bringt es beispielsweise, wenn Teile der politischen Linken den russischen Völkerrechtsbruch in der Ukraine mit dem US-Irakkrieg oder dem NATO-Kosovokrieg entschuldigen? Diese abstruse Logik führt nur dazu, dass das internationale Recht noch weiter ausgehölt wird. Oder ist es erstrebenswert, dass die Hemmschwelle der interventionistischen Kräfte in den USA für den nächsten Völkerrechtsbruch noch weiter sinkt, weil das russische Vorgehen auf der Krim keinerlei Konsequenzen hatte? Wollen wir eine Welt, in der die Großmächte ohne Rücksicht aufs Völkerrecht ihre Einflusszonen abstecken und die Vereinten Nationen völlig in der Bedeutungslosigkeit versinken? Zeitgemäßer linker Antimilitarismus sollte den völkerrechtswidrigen Einsatz militärischer Gewalt grundsätzlich anprangern und skandalisieren, egal, welche Großmacht dahintersteckt.

Martin Glasenapp: Kein grundsätzlicher Widerspruch, aber die Ukraine-Krise hat auch eine unselige Vorgeschichte und hier gibt es nun wirklich eine imperiale Politik des Westens, besonders der USA. Aber jenseits dieser Einschätzung sollten sich Linke prinzipiell immer auf der Seite derer verorten, die Demokratie- und Freiheitsrechte verteidigen oder einfordern. Das kann on the long run sogar auch mit einschließen für eine wirkliche Demokratisierung der UNO einzutreten, solange soziale Rechte weiterhin nur auf der Ebene von Staatlichkeiten vertraglich gesichert werden können. Das klingt in Zeiten aggressiver Freihandelsabkommen ziemlich utopisch, aber eine tatsächlich egalitäre internationale Schutzverantwortung sollte in der Konsequenz eben nicht erst bei offensichtlichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beginnen, sondern in der Durchsetzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Freiheitsrechten für alle, wie sie immerhin 1966 von der UN verabschiedet wurden.

Jan van Aken: An dem Punkt sind wir uns einig, denke ich. Linke Doppelstandards, nach denen man sich mit undemokratischen und menschenfeindlichen Regimen solidarisiert, nur weil sie sich gegen die USA stellen, sind unerträglich. Die Logik, dass der Feind meines Feindes mein Freund sei, ist dumm und gefährlich. Vor allem, wenn damit dann Verletzungen von Menschenrechten und territorialen Grenzen entschuldigt werden. Ein wirkliches Problem ist doch, dass die Vereinten Nationen als Organisation zur Wahrung und Durchsetzung internationalen Rechts kaum Mittel zur Durchsetzung hat, nicht zuletzt weil die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates selbst permanent gegen internationales Recht verstoßen und/oder ihre Position im Sicherheitsrat für eigene Interessen nutzen.

Kathrin Vogler: Weil ihr jetzt so intensiv über Despotien streitet, noch eine Anmerkung von mir zur Ukraine: Nach meiner Überzeugung hat die Ukraine-Krise viel damit zu tun, dass Russlands Interessen vom Westen völlig ignoriert worden sind. Das wird dann von einer medialen Dämonisierung Russlands begleitet, die sich schon in der Rede von Putin zeigt. Man spricht ja nicht von Russlands Interessen, sondern fragt Was will Putin?, wenn man ihn nicht gleich zum Irren abstempelt. Als ob es um eine Einzelperson und nicht um ganz rationale Interessen der Führungsschicht eines Landes ginge, die man natürlich kritisieren kann. Aber sich dieser Stimmungsmache entgegenzustellen, darf uns nicht davon abhalten, die menschenrechtlichen und sozialen Probleme, die es in Russland ja offenkundig gibt, zu thematisieren und natürlich muss die Annexion der Krim als völkerrechtswidrig kritisiert werden. Oder dass Putin aus geopolitischen Gründen die Regierung in Syrien stützt. Wir können doch nicht für diese brutale Machtpolitik sein, nur weil die USA dagegen sind. Ich komme mir manchmal vor wie in den achtziger Jahren, als in der Friedensbewegung von einigen vertreten wurde, dass die Aufrüstung in den Warschauer-Vertrags-Staaten rein defensiv sei.

prager frühling: Aber jetzt bitte nicht alle in die Ukraine-Diskussion verfallen ...

Arvid Bell: Okay. Auch wen es mir schwerfällt. Ich versuche es mal mit einem positiven Vorschlag. Eine Vision, die radikale und liberale Linke teilen könnten, ist ein nach innen und nach außen solidarisches, friedliches und demokratisches Europa, das radikal abrüstet, sich imperialen Kriegseinsätzen konsequent verweigert und im Gerangel der Großmächte in der multipolaren Welt eine Stimme für internationales Recht, Konfliktdeeskalation und Stärkung der UN ist. Das wird es aber nur geben, wenn Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen für eine solche positive Vision kämpfen anstatt sich in US-fixierte antiimperialistische Rituale zu flüchten.

Martin Glasenapp: Europa handelt nicht im Gerangel der Großmächte, sondern ist selbst bereits eine gewalttätige Kategorie und ein globaler Player. Der Krieg gegen die Migranten mag hier als Stichwort genügen. Aber wir dürfen das internationale Recht auch nicht unter Ausblendung der realen Machtverhältnisse idealisieren. Deshalb wäre für mich eine zeitgemäße friedenspolitische Aufgabe, sich prinzipiell neuen Strafkriegen zu widersetzen, ohne sich an die Seite der Macht- und Raubeliten der betroffenen peripheren Staaten zu stellen, auch dann nicht, wenn diese samt ihrer Bevölkerung zum Angriffsziel westlicher Militärinterventionen werden. Zeitgemäß links und antimilitaristisch verlangt einen neuen Kosmopolitismus von unten und vielleicht auch so etwas wie einen neuen sozialen Internationalismus als ein entscheidendes gesellschaftliches Souveränitätsrecht gegen Krieg und Gewaltverhältnisse zu entwickeln.

Jan van Aken: Wir verweigern und widersetzen uns natürlich jedem Krieg, nicht nur den imperialen oder Strafkriegen. Da sind wir uns hoffentlich einig.

Jan van Aken ist gelernter Biologe, ehemaliger UN-Waffeninspekteur, seit 2009 für DIE LINKE im Bundestag und außenpolitischer Sprecher der Fraktion

Arvid Bell ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und Research Fellow an der Harvard Law School. Von 2008 bis 2010 war er Mitglied im Bundesparteirat von Bündnis 90/Die Grünen.

Martin Glasenapp arbeitet bei medico international und ist in der Interventionistischen Linken aktiv.

Kathrin Vogler ist Bundestagsabgeordnete für DIE LINKE. Sie ist Mitglied im Gesundheitsausschuss und Obfrau ihrer Fraktion im Unterausschuss Zivile Krisenprävention. Sie war eine der GründungssprecherInnen der Kooperation für den Frieden.

Links:

  1. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1221.zivil-helfen.html