20.08.2008

Die letzte Chance verpasst

„Prag '68: War die Intervention des Warschauer Paktes notwendig?“ ND, 21.08.2008

Norbert Schepers
Norbert Schepers

Beitrag für die Debattenseite des Neuen Deutschland am 21.08.2008 zum Thema „Prag '68: War die Intervention des Warschauer Paktes notwendig?“

Aus meiner Sicht ist diese Fragestellung absurd; sie verdient ein klares Nein. Die Frage nach der Notwendigkeit einer Intervention könnte auch so verstanden werden, dass die Rechtmäßigkeit derselben vorausgesetzt wird. Die Debatte über eine Notwendigkeit der Intervention des Warschauer Paktes in der ČSSR ist also die Auseinandersetzung um die Rechtfertigung dieses militärischen Eingriffs.

Unabhängig von vielem, was vierzig Jahre später zu Recht oder zu Unrecht in den Prager Frühling hineinprojiziert werden mag: Die Intervention in Prag 1968 ist immer auch die militärische Niederschlagung einer sozialen Bewegung gewesen. Zum Charakter sozialer Bewegungen sei angemerkt, dass diese zwar eine zentrale politische Forderung als Konsens aufweisen, aber die in dieser Bewegung zusammenwirkenden Menschen und Gruppen keinesfalls zwangsläufig dieselbe gesellschaftliche Orientierung oder Weltanschauung haben. Auch in der Bewegung des Prager Frühlings gab es diesen weltanschaulichen Pluralismus. Die entsprechenden Vorstellungen reichten von einem veränderten, menschlicheren Sozialismus bis hin zu einer weit reichenden Annäherung an Modelle westlicher Demokratien. Von Befürwortern einer Intervention wird häufig vorgebracht, wichtigen Akteuren in der ČSSR wäre es letztlich um die Abschaffung des Sozialismus gegangen. Somit sei der Prager Frühling eine Bewegung der Konterrevolution bzw. der kapitalistischen Restauration gewesen. Demgegenüber ist einzuwenden, dass für die Bewertung einer sozialen Bewegung entscheidende Frage nicht lautet, was die Motivation einzelner Akteure innerhalb dieser sozialen Bewegung ausmacht, sondern was deren gemeinsame Forderung, das geteilte Bewusstsein und die kollektive Praxis dieser Bewegung ist.

Der Prager Frühling war eine Bewegung für ein Mehr an Demokratie, mehr an Freiheit und mehr an gesellschaftlicher Teilhabe. Sie richtete sich gegen die Bevormundung durch die autoritäre staatliche Macht und gegen Unterdrückung und materielle Benachteiligungen. Mag sie auch andere Ausdrucks- und Erscheinungsformen angenommen haben oder sich in konkreten Forderungen sowie Anlässen und Abläufen unterschieden haben, die Bewegung des Prager Frühlings entsprach in ihrem Kern der antiautoritären Revolte in Westeuropa und Amerika.

Vor diesen Hintergrund gilt damals wie heute: Wie könnte die Linke nicht auf der Seite solcher Emanzipationsbewegungen stehen? Wie könnten Linke sogar den Einsatz von Panzern gegen diese Bewegung rechtfertigen wollen?

Militärische Intervention werden aus Sicht der Linken in der Regel nachdrücklich abgelehnt – so der mehrheitliche Tenor in der Partei DIE LINKE und auch in dieser Zeitung. Ausnahmen von dieser Orientierung dürften sich in der Regel auf die Niederschlagung mörderischer Regime wie den deutschen Nationalsozialismus beziehen. Dieser Vergleichsmaßstab macht deutlich, wie der Maßstab für eine Rechtfertigung militärischen Eingreifens aus emanzipatorischer Perspektive liegt: Extrem hoch. Und schließlich ist die weltweite Allianz der Kräfte, die schließlich die faschistischen Staaten besiegte, nicht durch eine politische Grundsatzentscheidung am grünen Tisch entstanden. Dieses widersprüchliche Bündnis bildete sich in einem Prozess des Widerstands gegen die Aggression des Nationalsozialismus und seiner Verbündeten.

Vor diesem Maßstab kann die militärische Aggression sozialistischer Staaten gegen eine Freiheitsbewegung innerhalb eines verbündeten Staates nur umso absurder und maßloser erscheinen.

Warum also sollte die Prager Intervention gerechtfertigt gewesen sein? Sollten während des „Kalten Krieges“ für die Linke tatsächlich andere Maßstäbe gelten, weil hier die Existenz des historischen Projektes des Sozialismus in einer globalen Konfrontation mit den kapitalistischen Staaten stand? Die Unterstellung einer politischen Notwendigkeit des militärischen Eingreifens des Warschauer Paktes läuft auf nichts anderes als eine Rechtfertigung nach dem Muster „der Zweck heiligt die Mittel“ hinaus.

Die Sicht der Breschnew-Doktrin verdeutlicht den Charakter des Warschauer Bündnisses: Die Souveränität der sozialistischen Bruderstaaten stand unter dem Vorbehalt, dass diese den Sozialismus nicht in Frage stellten – die Definitionsmacht über die Systemtreue lag dabei offenbar allein in Moskau.

Vor diesem Hintergrund kann die Rechtfertigung der militärischen Unterdrückung des Prager Frühlings mit dem gelegentlich geäußerten – allerdings spekulativ bleibenden – Hinweis auf die angebliche Gefahr eines offenen Krieges in Europa bei einer Abkehr von dieser Doktrin nur noch als Zynismus bezeichnet werden.

Der Kalte Krieg war eine weltweite Konfrontation zweier imperialistischer Mächte und ihrer Verbündeten, getrieben jeweils von einem ideologisch begründeten Expansionsdrang – diese Einschätzung war für eine undogmatische radikale Linke, die diesen Namen verdient, immer Konsens.

Kritisiert wurde aus dieser Position heraus folglich immer zuerst die Regierung des Staates und die Politik des Blocks, in dem man lebte – was nicht bedeutet, der jeweils anderen Seite mehr Sympathie entgegenzubringen oder deren Verbrechen aus dem Systemkonflikt heraus zu rechtfertigen.

Ich sehe auch heute nicht, warum die Linke hier eine Politik nach dem Motto „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ betreiben sollte. Genau dies aber vertritt noch heute ein Teil der Linken, sei es aus Anlehnung an die Konfliktmuster des kalten Krieges, sei es aus einem verkürzten und falsch verstandenen Antiimperialismus.

Ein linker Antiimperialismus muss auch heute auf der Seite sozialer Bewegungen für Freiheit und Gerechtigkeit stehen. Er darf sich nicht mit Staaten oder anderen Konfliktparteien allein deshalb solidarisch erklären, weil diese z.B. in Opposition zum „American Empire“ stehen: Anderenfalls wäre jede emanzipatorische Perspektive aufgegeben zugunsten des Wunsches, auf der angeblich richtigen Seite innerhalb eines Konflikts zu stehen.

In Prag wurde vor vierzig Jahren endgültig die letzte Chance der Staaten des Warschauer Paktes für einen freiheitlichen Sozialismus vergeben. Vierzig Jahre danach sollte der Zeitpunkt für einen neuen Konsens in der Linken gekommen sein: Das Scheitern des „realsozialistischen Staaten“ von 1989 war letztlich eine notwendige Etappe, um das uneingelöste Projekt des Sozialismus und der menschlichen Emanzipation wieder voranbringen zu können.

Literaturhinweise:

Angelika Ebbinghaus (Hg.): Die letzte Chance? 1968 in Osteuropa. Analysen und Berichte über ein Schlüsseljahr[1], Hamburg 2008 (VSA-Verlag).
Stefan Bollinger: 1968 – die unverstandene Weichenstellung[2], Berlin 2008 (Karl Dietz Verlag).

Zum Autor:

Norbert Schepers, Jahrgang 1968, arbeitet als Politikwissenschaftler. Er ist bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Vorsitzender der Bremer Landesstiftung und als Sprecher des Stiftungsrates aktiv. In den 90ern war er auf diversen Baustellen der radikalen und postautonomen Linken tätig. Norbert Schepers ist Mitglied der Redaktion des im Mai 2008 neu erschienenden Magazins »prager frühling«.
Siehe auch www.norbert.schepers.info[3]

Links:

  1. http://www.vsa-verlag.de/books.php?kat=geschichte&isbn=978-3-89965-311-3
  2. http://www.rosalux.de/cms/index.php?id=16652&type=0
  3. http://www.norbert.schepers.info/

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