09.11.2017

Soll er doch nach Prohlis kommen

Eine Antwort auf Christian Baron

Thomas Feske

Ursprünglich war der Beitrag „Getrennte Lebenswelten“ von Christian Baron[1] unter der Überschrift „Sollen sie doch zugrunde gehen“ abrufbar. Mittlerweile hat man den Titel geändert. Zu starker Tobak - vielleicht dem ND, vielleicht dem Autoren.

Mich wundert das nicht. Die veränderte Überschrift kittet allerdings nur mühsam, was der Autor an waghalsiger Argumentation präsentiert. Seiner Überzeugung nach gäbe es – aus linker Perspektive – zwei relevante Milieus, die sich unversöhnlich, unvereinbar, unverständlich gegenüber stehen. In der einen Ecke: Die von DDR-Opportunisten gezeugten und finanziell gepamperten Junglinken in Großstädten, denen die Armut des anderen Milieus am Arsch vorbeigeht. Erstere dürften den öffentlichen Diskurs mitbestimmen und sich über Migration freuen, weil: ohne Migranten kein exotisches Streetfood.

In der anderen Ecke: Unterklasse und alte Mittelklasse, die – Baron zufolge – materialistisch argumentieren und in Hinblick auf Migration angstvoll bis misstrauisch fragen: „Was kostet es uns? Was kostet es mich?“

Beide Milieus stünden sich unversöhnlich oder zumindest verständnislos gegenüber. So weit, so holzschnittartig, so bekannt, so lückenhaft. Ab dann aber wird’s – wie gesagt – waghalsig. Der Autor macht zwei Spitzenpolitikerinnen der LINKEN zu Anwältinnen dieser Milieus. Woher er diese Zuschreibung  nimmt, wie er sie herleitet, bleibt im Ungefähren. Da wird die Kritik Oskar Lafontaines am Bindungsverlust zwischen Arbeiterklasse und Linkspartei herangezogen (was auch immer das mit Wagenknecht zu tun hat) und Katja Kippings Hinweis auf die Unvereinbarkeit rechter Haltungen in der Flüchtlingspolitik mit den Grundprinzipien der Linkspartei zitiert.

Der Baron hat Prohlis nicht verstanden ...

Beides sei unvereinbar. Da stünden Anklägerin fremdenfeindlicher Ressentiments und Verteidigerin von Überfremdungsverängstigten unversöhnlich gegenüber. Der Autor hat sichtbar Freude an Gräben, die so tief allerdings gar nicht sind.

Wer, wie Kipping, in der Hochzeit der Flüchtlingskrise eine Sozialgarantie für die Ärmsten der Gesellschaft will, der richtet diese Forderung auch an all jene, die nachvollziehbarerweise mit der permanenten Angst leben, dass gesellschaftliche Lasten ein aufs andere Mal auf ihnen abgeladen werden.

Und wer, wie Wagenknecht, „offene Grenzen für alle“ als „eine gute Forderung für eine Welt der Zukunft“ beschreibt, die aber bestimmter Voraussetzungen bedarf: Der Schaffung „notwendigen Wohnraums oder von Arbeitsplätzen“, „damit Integration gelingt“. Das kennzeichnet keine Migrationsverweigerung, sondern die Einschätzung der Gefühlslage vieler Menschen am unteren Rand der Gesellschaft realistisch.

Wer allerdings, wie Christian Baron, die Analyse der Missstände und der Konfliktpotenziale in der Gesellschaft mit der Beschreibung einer linken, solidarischen Antwort darauf, wie sie Kipping und Wagenknecht in unterschiedlichen Tonalitäten gleichsam geben, verwechselt, der verstellt den Blick auf die Möglichkeiten einer LINKEN, die gesellschaftliche (WählerInnen-)Gruppen nicht – wie der Autor selbst – auseinanderdividieren, sondern zusammenbringen will.

Als Dresdner kann ich abseits der Reden Sahra Wagenknechts nichts über ihren persönlichen Umgang mit LINKEN-Anhängern unterschiedlicher Milieus sagen. Ich weiß so wenig wie der Autor, ob sie links-grüne Düsseldorfer „Gutmenschen“ eher links liegen lässt und sich lieber am Stammtisch im Arbeiterviertel Flingern niederlässt. Als Dresdner weiß ich aber sehr wohl, wie Katja Kippings Wahlkampf ausgesehen hat.  

Ob Kipping früh vorm JobCenter stand, tagsüber in den Wohnvierteln in den Hausfluren, an der Seite von ver.di bei Aktionen für mehr Personal in der Pflege stritt oder sich abends auf Tour durch hippe und weniger hippe Kneipen begab – es war immer die Praxis, sich den Blick auf die ungefilterten Gefühlslagen aller möglichen LINKEN-WählerInnen nicht verstellen zu lassen – und in der Konsequenz (dennoch?) nach linken, soldarischen, natürlich auch internationalistischen Antworten zu suchen. Ich habe Haustürgespräche im Prohliser Plattenbau genauso erlebt wie Diskussionsveranstaltungen in der szenigen Neustadt. Mir sind in diesen Veranstaltungen Ressentiments und Weltoffenheit begegnet, aber überall gleichermaßen der Zuspruch zu Forderungen nach mehr sozialem Wohnraum, Arbeit für die, die hier herkommen, und nach einer Sozialgarantie für die, die bereits hier sind.

Und ich weiß aus Alltag und Wahlkampf, dass es schlicht ein gern bemühter Mythos ist, dass die Weltoffenen keine Empathie für die Armen haben. Denn gerade unter den Weltoffenen (die Christian Baron so lustvoll verspottet) gibt es viele, die selber knapp über der Armutsgrenze leben und sich mit prekären Jobs über Wasser halten. Gegenthese: Es gibt viel mehr ein Zusammenfallen von nationalem und sozialem Chauvinismus. Diejenigen, die heute abfällig über Geflüchtete reden, haben vor vier Jahren mit ähnlicher Abfälligkeit über Langzeiterwerbslose gesprochen.

Und für Letztere kämpfen Wagenknecht und Kipping gleichermaßen. Ich kann den beiden Spitzenpolitikerinnen empfehlen, sich von Autoren wie Christian Baron nicht auseinanderdividieren zu lassen und beim Spiel, potenzielle LINKE-wählende Milieus gegeneinander auszuspielen, nicht mitzumachen. Und dem Autor empfehle ich, mal bei einer Plattenbauhaustürtour durch Dresden Prohlis dabei zu sein. Das ist zwar nicht das szenige Berlin Neukölln, aber es würde ihm sicher helfen bei der Unterscheidung zwischen einem zugewandten Gespräch zwecks Analyse gesellschaftlicher Verfasstheit und linker Antwort mit Haltung.

Thomas Feske lebt und arbeitet in Dresden. Im Bundestagswahlkampf 2017 zog er als Moderator mit Katja Kipping und dem Roten Wohnzimmer durch die Wohnviertel in Dresden. Er ist Mitglied im Bundesausschuss DIE LINKE.

 

Links:

  1. https://www.neues-deutschland.de/artikel/1067607.debatte-in-der-linken-getrennte-lebenswelten.html