Die Politik der Sache selbst

Revolutionäre Realpolitik statt Märchenstunde

Kolja Möller

Der Siegeszug der sozialen Medien hat einen Strukturwandel eingeleitet, dessen Ausgang noch offen ist. Die kurzfristigen Effekte sind widersprüchlich: Es ist möglich in kurzer Zeit auf tagespolitische Ereignisse zu reagieren. Wissen und Information sind verfügbar oder werden durch die Nutzer selbst produziert. Doch es gibt auch einen erkennbaren „Post-Truth“-Effekt. „Wahres“ Wissen über die Gesellschaft scheint aus der möglichst unmittelbaren Wiedergabe und Teilnahme an den Ereignissen in Echtzeit hervorzugehen. Auch die Qualitätsmedien übernehmen diese Form. Sie feuern schlecht redigierte Artikel im Viertelstunden-Takt ab und bilden sich alle drei Stunden ihr Weltbild neu. Die Welt löst sich in eine Abfolge unverbundener Ereignisse auf. Das ruft das Bedürfnis nach Einordnung hervor. Man braucht etwas, das die Ereignisketten zusammenhält, ohne die Form des Mediums selbst zu gefährden. Zu sperrig darf es also nicht werden, wenn man sich dem Medium kommunikativ anschmiegen will. Weil es also die zähe Wahrheit nicht sein kann, schlägt die Stunde der Narrative – der „Geschichten“, die in der Lage sind, die Einzelereignisse zu verbinden. Gegenwärtig vergeht keine akademische Tagung und keine politische Gremiensitzung, ohne dass jemand aufsteht und mit ernster Miene vorträgt: Erst einmal brauche man ein wahlweise neues, eigenes oder besonders aufregendes Narrativ, um die Dinge zum Laufen zu bringen. Dem entspricht der Umstand, dass gegenwärtig die Beiträge meist nur mittelmäßig gut informierter Feuilleton-Redakteure mehr Aufmerksamkeit erhalten als die Beiträge aus den Politik- und Wirtschaftsteilen. Diese Märchenonkel sind aufs Geschichtenerzählen spezialisiert, nicht auf die Analyse gesellschaftlicher Widersprüche und der Sache selbst.

Die Märchenonkel

Ein Beispiel für diesen Strukturwandel ist die gegenwärtige Diskussion um die Zukunft des progressiven Lagers in der BRD. Auch hier schlägt die Stunde der Märchenonkel. Autoren der konservativen „Welt“ bis hin zum linken „Freitag“ holen eine alte Kontroverse der US-amerikanischen Linken der 1980er nochmal aus der Mottenkiste hervor: Die Unterscheidung zwischen Umverteilungs- und Identitätspolitik. Eine Unterscheidung, die in der BRD traditionell eher zum Repertoire von CDU und dem Seeheimer Kreis der SPD gehörte und heutzutage vom Rechtspopulismus aufgewärmt wird. Die Storyline, die diese Unterscheidung immer mitkommuniziert und sei es in bester Absicht: Die Linken interessieren sich eigentlich nicht für die wirkliche Lage der Menschen. Sie sind allesamt links-versifft und beschäftigen sich nur mit vermeintlichen Orchideenthemen, wie z.B. Rechte von Frauen oder der Migration. Die betreffen immerhin mehr als die Hälfte der Bevölkerung, aber sei’s drum.

Wie bei allen schlechten Erzählungen, sei es bei Rosamunde Pilcher oder in der Arbeitertümelei des sozialistischen „Realismus“, sperrt sich die Realität aber gegen diesen Kitsch. Tatsächlich gab es in der US-amerikanischen Linken die Diskussionen um das Verhältnis von Identität und Umverteilung. Es war eine große Leistung der Kampagne um Bernie Sanders diese beiden Stränge der US-Linken in einer beeindruckenden Kampagne zu verbinden. Aber im deutschen und europäischen Kontext möchte man der Hufeisenformation der Märchenonkel laut entgegenrufen: Show me one example! Wo bitte schön hat sich die gesellschaftliche Linke in den letzten Jahren nur um vermeintliches Gedöns gekümmert statt die soziale Frage zu stellen?

Die Sache selbst I: Spurensuche

Die SPD ist seit 1998 neoliberal abgebogen. Hat aber Gerhard Schröder, der den Feminismus auch als „Gedöns“ abkanzelte, die Geduld der Arbeiter_innenklasse mit zuviel davon strapaziert oder war es die Agenda 2010, die die SPD sozial entkernt hat? Wo sind in der BRD diejenigen Organisationen, die sich nur noch um Anerkennung und Identität von Minderheiten kümmern, statt Umverteilungsfragen zu thematisieren, wo ihre Führungsfiguren? Beim Blick auf die Fakten: Fehlanzeige!

Wenn man von Kleingruppen in Universitätsstädten absieht, deren Einfluss auf die politische Willensbildung überschaubar bleibt, bemühen sich die Linken in Deutschland um soziale Politik. Dazu keine Erzählungen, sondern einige Beispiele: Die Gewerkschaften, immer noch die mitgliederstärksten Organismen, bemühen sich seit Jahren mit Organizing-Strategien darum, ihre Verankerung auszuweiten. Dies hat zu Mitgliederzuwächsen und erhöhter Streikbereitschaft geführt. Die außerparlamentarische Linke durchläuft schon seit Jahren eine Abkehr von szenetypischer Isolation. Auch hier standen Mobilisierungen um die soziale Frage im Mittelpunkt: Sei es bei den Protesten gegen Hartz IV, beim Kampf gegen Gentrifizierung, gegen globale Ungerechtigkeit beim G8-Gipfel in Heiligendamm, beim Bildungsstreik oder den Protesten in Arbeitsagenturen. Auch Migration wurde in ihrem sozialen Gehalt verstanden und in den Kontext einer internationalen Solidarität eingebettet.

Im Jahre 2007 formierte sich die politische Partei DIE LINKE. Ihr Ziel ist eine möglichst breite Allianz gegen Neoliberalismus zu organisieren. Seitdem existiert in einer der stärksten kapitalistischen Industrienationen der Welt, in der linke Politik jenseits der SPD stets diskreditiert war, eine linkssozialistische Partei, die gegenwärtig sogar Mitglieder gewinnt. Die soziale Frage ist ihr Programm. Selbst beim Hauptverdächtigen, den Grünen, wird man auf der Suche nach einer minderheitsorientierten Identitätspolitik kaum fündig. Sie wollen einen Strukturwandel hin zur ökologischen Marktwirtschaft erreichen.

Gut für Leseerlebnisse, aber kein Ausgangspunkt für Gesellschaftsanalyse: Romanautor Houllebecq

Ob diese Entwicklungen nun Erfolge sind oder nicht, ob das Glas halb leer oder halb voll ist, sollte man diskutieren, aber die Storyline der Märchenonkel trifft in der Sache nicht zu. Und ihre Quellen sind so spärlich wie fragwürdig: Aus der Lektüre von den Romanen des Michel Houellebecq, der zwischenzeitlich zum Stichwortgeber für den Front National geworden ist, lassen sich vielleicht Leseerlebnisse und auch die ein oder andere Einsicht gewinnen. Als Ausgangspunkte für eine seriöse Analyse der gesellschaftlichen Widersprüche und der handelnden politischen Akteure taugen sie nicht.

Die Sache selbst II: Revolutionäre Realpolitik

Wer wirksame politische Strategien formulieren will, braucht eine Einsicht in das, was der politische Theoretiker Machiavelli einst als „verità effetuale della cosa“ bezeichnete: Wissen über die „Sache selbst“, insbesondere die Verfasstheit die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der handelnden Akteure. Nur von dort aus wird es möglich Handlungsoptionen zu bestimmen, Handlungsfehler zu identifizieren und neue Wege auszuloten. Wer verändernde politische Strategien vorschlagen will, kann sich nicht darauf beschränken, das Wählerpublikum mit Narrativen zu beschallen; vielmehr gilt es die Probleme, die sich in unserer heutigen Welt stellen, zu durchdringen und von dort aus die eigene Politik zu entwickeln. In der Tradition von zwei nicht ganz unbekannten Theoretikern und einer sich daran anschließende Bewegung wurde dieses Herangehen, das eine Politik nicht aus Erzählungen oder hehren Idealen, sondern aus den Gegenständen und Widersprüchen selbst entwickelt, „historischer Materialismus“ genannt. Ein Italiener nannte das später vielleicht treffender „Philosophie der Praxis“.

Wie dringend die Orientierung an der Sache selbst geboten ist, zeigt sich in fast allen Krisen unserer Gegenwart. Viel hängt davon ab, ob man Migrationsbewegungen als kurzfristige Flucht vor Missständen versteht, die durch die Beseitigung von Kriegen oder sozialer Ungleichheit in kurzer Zeit zu stoppen ist, oder ob sich eine globale soziale Frage stellt, die Migrationsbewegungen dauerhaft hervorruft und einen konstruktiven Umgang mit diesem Phänomen erforderlich macht. Ein anderes Beispiel ist der Klimawandel: Was ist und was wäre politisch zu tun, um wenigstens einen Umgang mit den Folgen des Klimawandels zu finden? Ist unsere Lebensweise zukunftsfähig oder eben nicht? Was sind die praktischen Folgen des Klimawandels, wo wann und wie? Oder die Europäische Union: Wo liegen die Widersprüche des gemeinsamen Marktes, wo bieten sich politische Eingriffsmöglichkeiten und welche Folgen rufen sie hervor? Ist es möglich mit einer keynesianischen Koordinierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik einen sozial-ökologischen Umbau in der EU in Gang zu setzen oder nicht?

Schöner wär’s, wenn’s schöner wär

Die Sache selbst besteht auch immer aus konkreten Akteuren, ihren Handlungsoptionen und Selbstverständnissen (und dort auch ihren jeweiligen „Geschichten“). Es ist aber die alte Malaise eines idealistischen Politikverständnisses, dass es Ideale ausflaggt, ohne zu diskutieren, wie Annäherungen an diese aussehen könnten. Jeder kann sich seinen Wunschzettel selbst schreiben: Schön wäre wahlweise ein Jeremy Corbyn oder ein Bernie Sanders; schön wäre, wenn alle mal über das Bedingungslose Grundeinkommen abstimmen; schön wäre, wenn autoritär gesinnte Wähler endlich wieder links und nicht AfD wählen; schön wäre, wenn – je nach gusto – alle regieren, transformieren oder opponieren; schön wäre, wenn alle nur noch Gewerkschaftspolitik betreiben; schön wäre es, wenn die Linke im ländlichen Raum stärker wäre. Aber Wunschzettel laufen am Ende auf „Schöner wär’s, wenn’s schöner wär“ hinaus.

Zumindest, wenn man nicht bereit ist darüber nachzudenken, wie es überhaupt dazu kommen sollte, wo entgegenkommende Potentiale und Tendenzen vorliegen und was als Folgen solcher Entwicklungen zu erwarten ist. Wer also vom eigenen Social-media-account her verallgemeinert, muss dann konkreter beantworten: Was tun? Wie entscheiden? Was thematisieren? Und vor allem: Was sind die notwendigen Kosten? Wer soll gehen – die BGE-Befürworter, die Regierungslinken, die Ökologen, die Gewerkschafter, die Sozialdemokraten, die Grünen, die Kommunisten? –, um – dann endlich! – den lang ersehnten „neuen Akteure“ wie ein Ikea-Möbelstück zusammenbauen zu können.

Man kann nur hoffen, dass das progressive Lager in der BRD endlich das Baukastenmodell verlässt; vielmehr gilt es darauf aufzubauen, was sich schon in Organisationen, Parteien, Gewerkschaften, Öffentlichkeiten und der Gesellschaft selbst an erfolgreichen Praktiken und Lernprozessen materialisiert hat. Wird dieser Prozess weitergetrieben, kann daraus im Übrigen auch etwas „Neues“ oder eine belastbare „Dynamik“ entstehen, die stabil und zukunftsfähig sind. Doch der apokalyptische Zusammenbruch, aus dem, wie ein Phoenix-aus-der-Asche, eine „neue“, sogar potentiell mehrheitsfähige Linke hervorgehen soll, die dann innerhalb kürzester Zeit den Rechtsruck aufhält, scheint nicht nur wenig realistisch. Er widerspricht auch allen historischen Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit der autoritären Gefahr von rechts. Und statt in einer fragmentierten Öffentlichkeit und Klassenstruktur den ganzen Tag über „Milieus“ zu spekulieren und wie man sie „anspricht“, wären die ersten Anstrengungen zunächst auf die „Sache selbst“ zu richten. Denn sie gibt an, auf welcher Grundlage sich ein „progressives Lager“ formieren kann, nicht die Strategieabteilungen von Parteien und Berufspolitiker*innen. Das Motto lautet: Widersprüche first, Erzählungen second. Statt Dichtung und Wahrheit (Goethe), sollte das progressive Lager an das Programm einer revolutionären Realpolitik anknüpfen: „Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier knie nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. Wir sagen ihr nicht: Lass ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen dir die wahre Parole des Kampfes zuschreien. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft (...) “ (Marx an Arnold Ruge). Das wäre übrigens das genaue Gegenteil einer selbstbezüglichen Identitätspolitik – sei es in der Variante der „Minderheiten“ oder des kleinbürgerlich-konservativen Abklatschs bei den Märchenonkeln.

Kolja Möller ist Mitglied der *prager frühling Redaktion.