Nach dem Mai ist vor dem Mai.

Kleines Manifest einer emanzipatorischen Linken

Thomas Seibert
Thomas Seibert

Ein Gespenst geht um im neoliberalen Empire – das Gespenst des Mai `68. Alle antiemanzipatorischen Mächte dieser Weltordnung haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet. Mit von der Partie die populare Rechte und die Alte Linke. Obwohl untereinander verfeindet, folgen beide derselben Methode perfider Verleumdung (von lat. perfidus, niederträchtig). Dazu bürden sie dem Mai `68 die Verantwortung für all‘ das Elend und die Zerstörungen auf, die uns im Empire widerfahren. Der Mai `68 und der Neoliberalismus, so die Unterstellung, seien insgeheim immer schon Komplizen gewesen, je auf ihre Weise Agent*innen zugleich der Globalisierung und der Individualisierung. So hätten sie mit allen Vaterländern Schluss gemacht: mit denen der Völker und denen der Werktätigen.

1.

Klären wir zuerst den Namen des Gespensts. Tatsächlich benennt die Jahreszahl „1968“ eine ganze Epoche. Sie beginnt in den 1950ern mit der Kubanischen und Algerischen Revolution, und sie bricht irgendwann in den 1980ern ab. Verdichtet hat sie sich tatsächlich im Pariser Mai, wo sich die Revolten der Frauen, der Jugend, der Studierenden, Intellektuellen und Künstler*innen, der Arbeiter*innen und der Migrant*innen näher kamen als anderswo. Ihr jeweils eigensinniger Aufbruch verband sich im Generalstreik der 10 Millionen, der den Präsidenten de Gaulle wenigstens für ein paar Tage zur Flucht in eine französische Militärgarnison bei Baden-Baden zwang.

2.

Der qualitative Sprung des Mai `68 aber lag in dem, was seine verschiedenen Protagonist*innen zueinander führte. Luc Boltanski und Ève Chiapello finden dieses verbindende Moment in der damals erreichten Dialektik von „Sozial-“ und „Künstler*innenkritik.“[1] Die Sozialkritik führen sie auf die Arbeiter*innenbewegung und den Marxismus, die Künstler*innenkritik auf die kulturrevolutionären Avantgarden zuletzt des Surrealismus und Existenzialismus zurück. Grob gesprochen setzt die eine Kritik auf die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und die andere auf die Veränderung jeweils der eigenen Existenz. Beide Kritiken fanden sich schon in der Französischen Revolution und in allen folgenden Kämpfen der modernen Emanzipationsgeschichte. Ebenso alt sind die Versuche, sie dialektisch aufeinander zu beziehen. Erst im Mai `68 aber, das ist der Sprung, wird diese Dialektik zum verbindenden Moment von weltweit vielen, ganz unterschiedlichen Emanzipationsbewegungen.

3.

Politisch sollte sich die Dialektik von Sozial- und Künstler*innenkritik zugleich als existenzielle Kritik des eigenen Alltagslebens und als systematische Doppelkritik an Kapitalismus und Realsozialismus bewähren. Sich selbst von der profanen Dreifaltigkeit von Arbeit, Freizeit und Konsum zu befreien, sollte einerseits der Weg sein, aus den herrschenden Formen der Vereinzelung und Vergesellschaftung in Geschlecht, Generation, Familie, Klasse, Nation und Religion auszusteigen. Dieser Ausstieg aber sollte zugleich der Weg sein, sich dem Kapital, dem Staat, der postkolonialen Ordnung der Welt und ihrer ökologischen Verwüstung zu widersetzen. „Die autonome Emanzipation der Individuen“, schrieb der Situationist Raoul Vaneigem, „ist die einzige Grundlage der klassenlosen Gesellschaft.“[2] Tatsächlich ist eine solche „Politik der ersten Person“ damals ungezählt Vielen in unübersehbar Vielem gelungen. Und: gerade weil sich diese Politiken unter der Losung „Das Private ist politisch!“ verbanden, schrieben sie dem Alltagsleben eine „Sittlichkeit“ ein, die von linksunten zur Aufkündigung der realsozialistischen Klassenkompromisse des Ostens und des Westens beitrug.[3]

4.

Tatsächlich hat davon auch der Neoliberalismus profitiert. Ab Ende der 1970er bringt er die ganze Welt unter die Verwertung des Kapitals, und das nicht nur räumlich (Globalisierung), sondern auch zeitlich, im Alltag einer und eines jeden (Flexibilisierung, Prekarisierung, Kybernetisierung, Urbanisierung, Individualisierung). Verwandelt er damit die Mehrzahl aller Menschen in Proletarier*innen (also in Leute, die nur im Verhältnis zum Kapital überleben können), zersetzt er zugleich, was bis dahin „Proletariat“ genannt wurde. Deshalb gibt es im neoliberalen Empire so viele Proletarisierte wie nie zuvor, doch kaum noch etwas, was sie zu Klassenkompromissen ermächtigt, die um den Preis der Unterwerfung Lohn, Sicherheit und Anerkennung gewähren. Darin liegt, trotz 9/11 und Klimawandel, die ungebrochene Macht des neoliberalen Endes der Geschichte: Das Empire brennt an allen Ecken, bekennt in aller Offenheit die Ausweglosigkeit seiner „Vielfachkrise“ – und doch ist eine Alternative nicht in Sicht. Jedenfalls dann nicht, wenn man sie dort sucht, wo sie im 20. Jahrhundert gesucht wurde.

5.

Fragt man populare Rechte, warum der Neoliberalismus trotzdem für so viele attraktiv bleibt, kommt die Rede wieder auf das Gespenst des Mai `68. Es habe Deutschland „links-rot-grün versifft“ und das nationale Herkommen und patriarchale Gemeinschaftsleben durch Kosmopolitismus, „Multikulti“-Illusionen und „Genderwahn“ untergraben. Weil das alles noch nicht gereicht hat, betreibe das Gespenst im Bund mit „Altparteien“ und „Hochfinanz“ nun die endgültige „Überfremdung der Heimat“ durch Öffnung wirklich aller Grenzen. Dagegen setzt die populare Rechte auf die „Wut der einfachen, hart arbeitenden Leute“, auf einen starken, mit undurchlässigen Grenzen bewehrten Staat – und auf eine „Kulturrevolution“, die das Rad der Geschichte hinter den Mai `68 zurückdrehen soll. Von Letzterer spricht die Alte Linke nicht – im Gegenteil: Sie wirft dem Mai `68 ja gerade vor, nur eine Kulturrevolution gewesen zu sein und so den Kern linker Politik vergessen gemacht zu haben, die „soziale Frage“. Sonst aber setzt sie, mit Verschiebungen im Akzent, dem Gespenst des Mai `68 mit genau denselben Vorwürfen zu. Gegen die „links-rot-grüne Versiffung“ helfe nur der Gang nach Canossa: die Rückkehr nach Reims, in die Gemeinschaft allerdings nicht der Nation, sondern der Klasse. Nicht zufällig aber braucht auch die einen starken Staat in geschlossenen Grenzen.

6.

Damit sind wir am Punkt. Ja, der Mai `68 und das Gespenst, das von ihm blieb, haben das Herkommen und das Gemeinschaftsleben in der Sittlichkeit eines feminisierten, kanakisierten und individualisierten Alltags zersetzt. Ja, das hat der Neoliberalismus zu nutzen gewusst. Aber ist denn wirklich ausgemacht, dass dagegen jetzt die „Wut der einfachen, hart arbeitenden Leute“ mobilisiert werden muss? Ginge es nicht eher darum, in der Dialektik von Sozial- und Künstler*innenkritik weiterzugehen, dorthin, wo der Neoliberalismus ihr nicht mehr folgen kann? Muss der Kampf gegen das Kapital nicht grüner werden, feministischer und kosmopolitischer, und muss er nicht gerade deshalb zuerst in erster Person geführt werden? Geht es nicht eigentlich darum, wenn an vielen linken Orten um das richtige Verhältnis von „Klassen-“ und „Identitätspolitik“ gestritten wird: ein Begriffs- und Politikpaar, in dem das Doppel von Sozial- und Künstler*innenkritik unerkannt wiederkehrt?

7.

Dazu müsste allerdings gesehen werden, dass und wie das Doppel von Klassen- und Identitätspolitik bislang hinter dem zurückbleibt, was Sozial- und Künstler*innenkritik bereits dialektisiert haben. So fallen Gegner*innen wie Befürworter*innen von Identitätspolitik hinter die Künstler*innenkritik zurück, wenn sie die Veränderung der eigenen Existenz für eine Sache ihrer Identität halten, statt nach dem Ausstieg aus Markierungen des Geschlechts, der Generation, der Klasse, der Familie, des ethnischen und religiösen Herkommens zu suchen: nach Ent-Identifizierung. Und die Klassenpolitik fällt hinter die Sozialkritik zurück, wenn sie nur eine weitere Identitätspolitik bleibt: eine Politik, in der wir uns mit unserer Klassenposition identifizieren sollen, statt aus ihr auszusteigen und uns der Klassifizierung durch Ent-Klassifizierung zu entziehen. Heute, wo der kybernetisch hochgerüstete Staat und ein entmenschter Mob auf alle Jagd machen, die anders und fremd sind, heute käme alles darauf an, dem Gespenst des Mai `68 zu vertrauen, um „an jeder zentralen Station der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft die Erfahrung einer egalitären Partizipation machen zu können.“[4] Gelänge das, kämen wir der „Assoziation“ näher, die der Mai `68 tatsächlich nur erst in den Blick nahm: der „Assoziation, in welcher die Freiheit einer jeden die Bedingung der Freiheit aller“ sein wird (nicht andersherum!). Von ihr wussten das kommunistische Manifest so gut wie die Manifeste des Surrealismus, dass sie erst dann „an die Stelle der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen“ treten wird, wenn es zu „Versammlungen auf den öffentlichen Plätzen“ kommt, „an denen teilzuhaben wir „nicht zu hoffen gewagt“ haben. Es werden dies Versammlungen sein müssen, in denen wir, die Individualisierten der globalen Proletarisierung, all‘ unsere Versuche zusammenbringen, je in eigener Existenz gemeinsam „die Poesie zu praktizieren.“[5]

8.

Die Welt steht vor dem Zerspringen, die Frist, die der Geschichte bleibt, ist knapp bemessen. Gut nur, dass Emanzipation für alle und für keine*n ist: wir können sie nur selber tun, und doch wird sie zuletzt Ereignis, nicht Planerfüllung gewesen sein.

Dr. Thomas Seibert ist Philosoph und Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne.

 

[1] Vgl. Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003: 79ff und pass.

[2] Deutsch findet sich dieser Satz im Titel eines kleinen Manifests Vaneigems, das eine „Edition Belladonna“ 1979 als Raubdruck vertrieb.

[3] Zur nach-68er Aktualisierung des Hegelschen Begriffs der Sittlichkeit vgl. Axel Honneth, Idee des Sozialismus, Berlin 2015.

[4] Honneth, a.a.O.: 143f.

[5] Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW 4, Berlin 1977: 482. André Breton, Erstes Manifest des Surrealismus 1924, in: Die Manifeste des Surrealismus, Hamburg 1977: 21. Gleichen Sinnes spukt es in Jean-Paul Sartres zu Beginn des Mai geschriebenen Manifest Der Existenzialismus ist ein Humanismus (Hamburg 2000) und in Alain Badious nach dem Mai geschriebenen Manifest für die Philosophie (Wien 1997).