06.05.2009

Die „Umweltprämie“ – Fortsetzung des neoliberalen Finanzmarkt-Kapitalismus mit anderen Mitteln

Auswege aus der Krise des Neoliberalismus und die „Umweltprämie“

Michael Brie
Michael Brie

Kaum wurde die „Umweltprämie“ verkündet, finden wir auf den Websites der Hersteller solche Losungen wie: „Opel macht Deutschlands Straßen sauberer.“ „BMW verdoppelt die Umweltprämie“. Hyundai klärt auf: „Die ersten Anträge sind gestellt, die ersten Umweltprämien werden voraussichtlich im März ausgezahlt. Und schon jetzt ist klar, dass es bei der Zahl der Interessierten eng werden könnte mit dem Gesamtbudget der Umweltprämie, denn mit der Prämie ist nach 1,5 Mrd. EUR Schluss; das entspricht ca. 600.000 eingetauschten Altfahrzeugen.“ Das reale Ergebnis ist beeindruckend: Allein zwischen 3. Februar und 16. März wurden fast 300 Tsd. Anträge gestellt, jeden Tag kommen über 6000 Anträge hinzu. Schon fordert die „volksnahe“ CSU, die Summe von 1,5 Mrd. Euro möge weiter aufgestockt werden. Es ist Wahlkampf in Deutschland.

Die „Umweltprämie“ ist ein charakteristisches Beispiel für Strategien der Herrschenden im Moment der Krise des Finanzmarkt-Kapitalismus. Grundtendenzen werden fortgesetzt, wenn auch mit veränderten Mitteln:

  1. Die „Umweltprämie“ ist strukturkonservativ: Sie setzt auf den Erhalt vorhandener Produktions-, Infrastruktur-, Konsumtions- und Lebensweisestrukturen. Die Autogesellschaft wird verteidigt als zentrale Ort kapitalistischer Produktion und wichtige Basis der Lohnerwerbsgesellschaft, der Hochburgen des Modells Deutschland, der Kernbelegschaften, die zugleich das Rückgrat der IG Metall bilden. Diese Verteidigung der schrumpfenden Kernstrukturen des deutschen Industriesystems geht zugleich einher mit einer weiteren Prekarisierung. Working poor hat in Deutschland US-amerikanische Maßstäbe angenommen, Leiharbeiter sind zum immer schwächeren Reserveproletariat geworden. Sie waren die Ersten, die gehen mussten, als die Krise die Automobilindustrie erreichte.
  2. Die „Umweltprämie“ behauptet „grüne Modernisierung“: CO2-Reduktion soll mit dem Abwracken alter Autos und der Zulassung von neueren Wagen erfolgen. Dies soll der energieeffizienten Erneuerung und Senkung der Umweltbelastungen dienen. Die ökologische Modernisierung erweist sich dabei als Fortsetzung einer fossilistischen Entwicklung, die auf Großstrukturen und Großkonzerne setzt. Die Kriegsindustrie gegen die Natur wird mit zusätzlichen Staatsgeldern modernisiert und umgestaltet. Eine Abrüstung und strategisch ausgerichtete Konversion findet nicht statt. Die Krise wird so nicht zu Chance, die notwendige zusätzliche Staatsverschuldung einzusetzen für eine ökologisch ausgerichtete Transformation hin zu den Strukturen eines solaren Zeitalters. Noch einmal werden die immer knapper werden Ressourcen verschwendet.
  3. Die „Umweltprämie“ ist, wie schon längst nachgewiesen, Teil der herrschenden Sprachpolitik und steht für das neoliberale Neusprech der Umdeutung der Begriffe in ihr Gegenteil (George Orwell). Die „Umweltprämie“ ist eine Prämie, die man für fortgesetzte bzw. sogar verstärkte Umweltzerstörung erhält. Aufgrund der Tatsache, dass neue Autos, alte Autos verdrängen, die leichter gewesen sind, sinkt der Benzinverbrauch zumeist nicht und auch der CO2-Ausstoß bleibt gleich oder erhöht sich sogar. Es werden volkswirtschaftliche Werte (Altautos) mit der Abgasnorm Euro 4 verschrottet und teilweise durch Autos ersetzt, die sogar mehr CO2 freisetzen. Hätte man primär die Umweltbelastung senken wollen, so wäre der kostenfreie Einbau von Katalysatoren in Altautos der beste Weg gewesen. Schlimmer noch: Beachtet man die ökologische Gesamtbilanz eines Autors über die Lebenszeit von Produktion bis Verschrottung (LCA= Life Cycle Assessment) so erweist sich, dass die gesteigerte Nachfrage nach neu produzierten Autos zusätzliche Umweltzerstörung anrichtet. Zudem verlangen sie mehr Aluminium und Kunststoffe, deren Produktion bzw. Entsorgung stark umweltbelastend ist.
  4. Die „Umweltprämie“ stellt Zustimmung der Subalternen her. Sie ist eine sehr erfolgreiche Herrschaftspraxis. In Zeiten der Krise können genau jene, die sowieso schon eng dran sind, ein „Schnäppchen“ machen oder davon zumindest träumen. Sie ziehen in die Autohäuser, rätseln darüber, ob sie es sich irgendwie doch leisten können, vergleichen ihr altes Auto mit einem neuen, besseren, einem mit mehr Prestige. Sie werden in eine Massenbewegung verwickelt, deren Bedingungen von oben gesetzt wurden. Diese Massenbewegung ist nicht kollektiv, sondern privat, verändert nicht die Strukturen, sondern nutzt diese nur aus, bringt nicht zusammen, sondern spaltet.

    Die „Umweltprämie“ ist eine „aktivierende Passivierung“ (Antonio Gramsci) der unteren Mittelschichten. Sie beteiligen sich mit hohem Engagement am Ausbau genau jener Strukturen, durch die sie beherrscht werden. Sie erhalten Chancen zugeteilt, über deren Sinn oder Unsinn sie nicht entschieden haben. Und dabei wird ihnen zudem das Gefühl vermittelt, sie könnten durch Nutzung dieser Chancen ihre eigene Lage und die der Gesellschaft (Umweltsicherung, Schutz von Arbeitsplätzen) real verbessern. Es ist dies auch eine kulturelle Herrschaftspraxis: Der einzelne als privater Autofahrer, der den öffentlichen Raum gleichgültig vernutzt, dabei keine Rücksicht nimmt auf Natur und Umwelt, immer durch Fahrlässigkeit zur Bedrohung für andere werden kann, wird bestätigt: Ich bin, was ich fahre.

  1. Die „Umweltprämie“ macht abhängig. Viele der Käufer neuer Autos nehmen Kredite auf, denn die Zinsen sind relativ günstig und viele haben auch keine Reserven, um das neue Auto aus der „Portokasse“ zu bezahlen. Für sie sind diese rd. 10 Tsd. keine „peanuts“. Das System von Verschuldung und spekulativer Finanzakkumulation wird weiter angeheizt. Aber diese Kredite müssen bedient werden. Eine bestimmte Höhe des Einkommens ist Voraussetzung dafür, diese Kredite auch zu bedienen. Das ist ein zusätzlicher Grund, fast gnadenlos mit sich selbst und anderen um die Arbeitsplatz zu kämpfen, Leiharbeiter als feindliche Konkurrenz zu behandeln, Migranten „nach Hause“ schicken zu wollen. Und vielleicht wird bald dieser oder jener doch den Kredit nicht bedienen können und in den privaten Bankrott getrieben.
  2. Die „Umweltprämie“ ist patriarchal: Die Phantasien, die angesprochen sind, sind männlich. Das Leuchten der Augen beim Anblick der schickeren Karosse soll erinnern an den Blick „männlicher Jäger“ bei der Witterung eines Raubtiers. Nur ist ein Jaguar etwas teuer. Wäre es um die Umwelt gegangen, so wäre vor allem die Förderung des Kaufs von Kühlschränken beim Abwracken aller jener, die keine sehr hohe Effizienzklasse (AAA) haben, wesentlich sinnvoller. Und auch der kostenlose Austausch von klassischen Glühbirnen gegen Energiesparlampen, wie er in Venezuela praktiziert wird, wäre ökologisch außerordentlich wirksam. Eine einzige 11-Watt-Energiesparlampe, mit der eine 60-Watt-Glühlampe ersetzt wird, spart im Laufe ihres Lebens etwa 735 kWh. Zur Erzeugung dieser 735 kWh sind 830 kg Braunkohle notwendig, die 2100 kg CO2 freisetzen. Aber Kühlschrank und Glühbirne gehören offensichtlich immer noch in die „weibliche“ Welt des Heims.
  3. Die „Umweltprämie“ entsolidarisiert. Sie erzeugt einen Wettlauf zwischen allen, die sich formal ein Recht darauf ausrechnen. Denn die 1,5 Mrd. Euro reichen nur für rd. 5 Prozent jener Autos, die in Deutschland älter als 9 Jahre sind. Ein „Windhundverfahren“ ist in Gang gesetzt: Diejenigen, die zuerst die wirklich vollständigen Anträge eingereicht haben, sichern sich dadurch ihre Ansprüche. Aber wissen, ob es wirklich dazu kommt, wird er es erst später, nach getanem Kauf und Verschrottung. Dadurch, dass das Abwracken erzwungen wird, werden zudem die Kosten für gebrauchte Autos in Osteuropa und der Dritten Welt steigen. Und Hartz-IV-Empfänger sind (wieder einmal) per Gesetz ausgeschlossen. Und jene 30 Prozent der Bevölkerung, die kein Auto haben, weil sie so nicht fahren wollen oder es sich nicht leisten können, sind exkommuniziert aus der Mehrheitswelt. Mobilität wird als privater Luxus der kleinen Leute (des „Nordens“) inszeniert, der seine Kehrseite im Mangel, Umweltzerstörung, zugeparkter, lauter, verdreckter, stinkender und für den Fußgänger immer gefährlichen Städte hat und in den ökologischen GAU führt. Sie treibt die Energie- und Rohstoffpreise auch für das Lebensnotwendige hoch, befördert eine Situation, in der die Produktion von agrofuel durch Großkonzerne und von ihnen abhängigen Farmern die von Erzeugung von Nahrungsmitteln durch Bauern und ihre Genossenschaften verdrängt, die Nahrungsmittelsicherheit ganzer Länder zerstört. Die „Umweltprämie“ hier in Deutschland nimmt die wachsende Zahl von Hungertoten in der Welt als „Kollateralschaden“ in Kauf. Die deutsche Regierung und die Mehrheit im Bundestag haben sich der vielfachen fahrlässigen Tötung schuldig gemacht. Und wir Schnäppchenjäger sind ihre Mitläufer.

Eine seit über dreißig Jahren unterdrückte Alternative – der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) zum Nulltarif

Eine Krise, so der Chefs des Weißen Hauses von US-Präsident Obama, Rahm Emanuel, sei die Chance, „Dinge zu tun, von denen Du glaubst, Du hättest sie ohne diese Krise nicht tun können“. Die alten Pfade, die zu dieser Krise geführt haben, können verlassen werden. Dabei kommt es nicht darauf an, die fertige Lösung für die ganze Komplexität der Probleme zu finden, sondern schrittweise vorzugehen. Aus der modernen Evolutionstheorie kann man lernen, dass es nicht darauf ankommt, „ein gutes Tier hervorzubringen, sondern gute Bausteine zu finden, die sich zu guten Tieren zusammensetzen lassen“ (John Holland). Das Komplizierte eines grundlegenden Zivilisationsumbruchs kann einfach begonnen werden, immer in der Hoffnung, dass sich die guten Bausteine am Ende auf heute noch völlig unvorhersehbare Weise zu einem besseren, einem solidarischen Ganzen verbinden.

Zu den Versuchen, den Neoliberalismus mit anderen Mitteln fortzusetzen, und der Konjunkturkrise der Automobilindustrie durch eine antiökologische und antisoziale „Umweltprämie“ zu begegnen, gibt es eine seit langem bekannte und vieldiskutierte und doch fast völlig zum Vergessen gebrachte Alternative – den öffentlichen Personennahverkehr zum Nulltarif. Seit dem Richta-Report der Reformkräfte der Tschechoslowakei der späten 1960er Jahre und der Publikation der „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome war klar, ein Weiter-So führt in die Katastrophe. Die Unmöglichkeit der globalen Verallgemeinerung der Auto-Gesellschaft war common sense und stillschweigend haben wohl viele gehofft, dass China und Indien, dass Asien, Afrika und Lateinamerika arm bleibt. Die Zerstörung menschlicher Persönlichkeit durch eine Gesellschaft des „Habens“ (Erich Fromm) war schon vor vierzig Jahren gut erforscht. Die Zivilisationskrise warf ihre Schatten lange voraus. Heute ist sie eingetreten.

Der Neoliberalismus hat mit der Entfesselung des Finanzmarkt-Kapitalismus ein weiteres und vielleicht letztes (?) Mal die Maschinerie des Fossilismus, Konsumismus und des expansiven kapitalistischen Wachstums um jeden Preis sowie der hemmungslosen Selbstbereicherung aller, die sich bedienen konnten, angefeuert. Für Jahrzehnte wurden wichtigste Aufgaben wie die völlige nukleare Abrüstung, der Übergang zu einer nachhaltigen Entwicklung durch einen sozialökologischen Umbau, gemeinsamer Entwicklung von Nord und Süd sowie die Schaffung von Möglichkeiten eines selbstbestimmten solidarischen Lebens als leere Utopien von „Gutmenschen“ in zynischer Weise der Lächerlichkeit preisgegeben. Der Untergang des Staatssozialismus wurde als Selbstbestätigung der eigenen Herrschafts- und Lebensweise genossen, während sich real die Elemente einer globalen Zivilisationskrise immer schneller anhäuften, bis sie jetzt zur Explosion kommen. Es ist deshalb an der Zeit, sich der durch den Neoliberalismus zerstörten Alternativen zu erinnern.

Projekte eines für die Bürgerinnen und Bürger entgeltfreien öffentlichen Personennahverkehrs sind schon in der frühen Sowjetunion für kurze Zeit praktiziert worden, fielen dann aber der Neuen Ökonomischen Politik zum Opfer. Zwar blieben die Nahverkehrsbetriebe auch weiterhin hoch subventioniert, von einem Nulltarif wurde aber Abstand genommen. In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren hatte derartige Projekte im Westen ein Comeback. Sie wurden zugleich als Antwort auf die „Grenzen des Wachstums“, den American Way of Life und den Kapitalismus diskutiert. Es gab einzelne, kurzzeitige Experimente auf lokaler Ebene, bis sich der Zeitgeist und die reale Wirtschafts- und Sozialpolitik des sich formierenden Neoliberalismus dagegen wandte. Anfang der 1960er Jahre hatte der Öffentliche Personennahverkehr in der Bundesrepublik noch die gleiche quantitative Bedeutung wie der motorisierte Individualverkehr, dreißig Jahre später war dessen Anteil auf deutlich über 80 Prozent gestiegen.

Eine neue Welle der Diskussion kam in den 1990er Jahren auf und in Brandenburger Städten wie Lübben und Templin begannen 1997 bzw. 1998 neue Versuche der Einführung eines öffentlichen Busverkehrs zum Nulltarif. Das größte Projekt dieser Art läuft gegenwärtig in der belgischen Stadt Hasselt, in der 70 Tsd. Menschen wohnen, 40 Tsd. lernen und studieren und die durch viele sog. „Einpendler“ geprägt ist, Menschen, die am Tage für Arbeit, Studium und Einkauf in die Stadt fahren.

1995 kam es im Zusammenhang mit einem Wechsel des Bürgermeisters (der linke Sozialdemokrat Steve Stevaert war 1994 gewählt worden) zur Entscheidung, anstelle einer neuen, dann dritten Ringstraße dazu überzugehen, den öffentlichen Busverkehr zum Nulltarif anzubieten. Es wurde ein Mobilitätsabkommen mit der Region Flandern und dem Verkehrsunternehmen „De Lijn“ abgeschlossen. 1997 gab es in Hasselt acht Stadtbusse, die gerade einmal tausend Fahrgäste am Tag hatten. 2007 waren es 46 Stadtbusse und die Zahl der Fahrgäste hatte sich verzehnfacht. Der innere Ring wurde begrünt und umgebaut. Die Innenstadt wurde attraktiver und die Mobilität stieg.

Was spricht für den Öffentliche Personennahverkehr zum Nulltarif als bundesweitem und europäischen Projekt gerade jetzt in der Krise? Welchen Grund sollte es geben, diesen Einstieg in den Ausstieg aus dem individuellen Autoverkehr zu beginnen?

  1. Die erste Frage ist, können wir uns einen Nahverkehr zum Nulltarif überhaupt leisten? Nun liegen die volkswirtschaftlichen Kosten des Öffentlichen Personennahverkehrs bei höchstens der 50 bis 70 Prozent der Kosten für den motorisierten Individualverkehr.1 Bezieht man alle Folgekosten ein, so liegen die Aufwendungen im Vergleich noch deutlich niedriger. Die Gesellschaft würde enorm sparen. Ein gleich hohes Bruttosozialprodukt wäre plötzlich deutlich mehr wert. Wachsender Reichtum bei Nullwachstum! Aber die Kosten wären anders verteilt. Sie müssten durch die öffentliche Hand aufgebracht werden. Dies bedeutet eine Umverteilung von privat hin zu öffentlich, damit auch privat gespart werden kann. Die These des „Mehr Netto vom Brutto“ erweist sich hier als Demagogie. Denn ein Weniger vom Brutto des Einzelnen wäre real ein mehr, wenn es nur wirklich in die richtigen Ausgaben, in den Aufbau des Öffentlichen Personennahverkehrs, ginge. In Großbritannien geben Autobesitzer rd. ein Drittel (!) ihres Nettolohns monatlich für Kosten aus, die mit dem Auto verbunden sind.2 Der Blick auf die bloßen Benzinkosten führt völlig in die Irre.

    Wäre die Gesellschaft ein Unternehmen, so würde sie sagen, dass das Kapital, das in den Verkehrsmitteln steckt, möglichst intensiv ausgenutzt werden müsse. Private Autos haben eine genau entgegengesetzte Eigenschaft: Sie stehen vor allem rum im Wege und auf dem Wege. Sie nehmen gigantische Fläche an Fahrbahnen und Stellplätzen weg. Ihre Produktivität ist gegenüber dem Öffentlichen Personennahverkehr uneinholbar zurück. Ihre Durchschnittsgeschwindigkeit, wenn sie sich bewegen, ist in Städten um ein Vielfaches unter dem von Bahnen. Um diese Kostennachteile privater Autos auszugleichen, werden sie massiv subventioniert. Die Kosten, die privat in Rechnung gestellt werden, sind nach unterschiedlichen Angaben nur 70 bis 50 Prozent der realen gesellschaftlichen Kosten.

  1. Die CO2-Emmissionen in den hochentwickelten Ländern gehen zu rd. einem Viertel auf den Verkehr zurück. Die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln würde den CO2-Ausstoß um den Faktor 5 oder sogar 10 senken können. Um eine extreme Klimakatastrophe zu verhindern, sind Reduktionen in dieser Größenordnung in den nächsten zwei oder drei Jahrzehnten notwendig. Im Verkehr würde dies auf der Basis vorhandener Technologien allein durch die Umstellung auf öffentliche Verkehrssysteme möglich sein. Es gibt dazu keine vergleichbare technologische Alternative. Auch das sog. Elektroauto müsste ja auf Strom zurückgreifen, der in absehbarer Zeit in vielen Ländern nicht durch erneuerbare Energiequellen erzeugt werden kann. Die Treibstoffe aus landwirtschaftlichen Produkten („Agrofuel“) haben sich als eine Hauptursache weiterer Umweltzerstörung, des Ruins der ländlichen Produktion und wachsenden Hungers erwiesen.
  2. Von Garrett Hardin gibt es einen berühmten Artikel: Die Tragödie der Gemeinwesen (1968). Dort schildert er, wie Weideland, wenn es im Gemeindebesitz ist, Gefahr läuft, überweidet und zerstört zu werden. Was er nicht beachtet, ist, dass gute Gemeinden genau dies über viele Jahrhunderte nicht zugelassen haben, ganz anders als die auto- und kapitalfixierten westlichen Gesellschaften, die ihren „Schafen“ frei Lauf ließen. Sie haben zugelassen, dass die Autos den Globus zerstören, die Städte verstopfen, sie mit Abgasen vergiften, die Ressourcen erschöpfen, das Land zerteilen durch immer größere Straßen. Weltweit gab es im Jahre 2007 über 800 Millionen Autos, davon 250 Millionen in den USA. Jährlich wurden rd. 70 Millionen neue Autos produziert.3 Die Zahl von Toten je zurückgelegtem Kilometer ist beim Auto sechs- bis achtmal so hoch wie bei Bus oder Eisenbahn. Der motorisierte Individualverkehr ist die häufigste Ursache für Tod infolge von Unfällen weltweit. 1,2 Millionen Menschen sterben jährlich infolge derartiger Verkehrsunfälle, fünfzig Millionen werden verletzt. Diese Zahlen werden sich in den nächsten zwanzig Jahren voraussichtlich um rd. 60 Prozent erhöhen, so die Weltgesundheitsorganisation, wenn keine Wende eintritt.4 Autos sind nicht nur eine Waffe gegen die Natur, sie richten auch ein Gemetzel unter motorisierten und nicht motorisierten Bürgerinnen und Bürgern an.
  3. Ein Hauptgrund, der für Autos zu sprechen scheint, ist die erhöhte individuelle Mobilität, die Möglichkeit, direkt von Haus zu Haus zu kommen. Dem stehen zum einen die oft langen Fahrzeiten gegenüber. Zum anderen könnte die grundsätzliche Verlagerung des Personenverkehrs auf öffentliche Verkehrsmittel mit dem hochsubventionierten oder gleichfalls entgeltfreien Ausbau eines Taxisystems für kurze Strecken kombiniert werden. Auch die Möglichkeit von Carsharing für „die letzten zwei Kilometer“ ist in Erwägung zu ziehen, wobei eine Nutzung in der Höhe von 50 km (oder in dünn besiedelten Gebiete auch mehr) im Monat kostenfrei wäre. Die Lieferung von Einkäufen würde nicht im privaten Autor, sondern durch Massenlieferanten erfolgen. Länder wie die Schweiz zeigen, dass ein gutes dichtes Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln die Nutzung des privaten Automobils deutlich senkt. Umgekehrt ist die Ausdünnung des öffentlichen Angebots, seine Verschlechterung oder das schlichte Fehlen entsprechender Angebote eine wesentliche Ursache des steigenden motorisierten Individualverkehrs.
  4. Die Verdrängung des Autos aus den öffentlichen Räumen unserer Städte würde deren Rückgewinnung als Räume der Begegnung, des öffentlichen Lebens auf der Straße, der gefahrlosen Begegnung mit Fremden ermöglichen. Die Belastung durch Lärm, Schmutz (Feinstaub) und Abgase würde drastisch sinken. Viele große Straßen könnten weitgehend begrünt werden. Die Möglichkeiten der demokratischen Mitbestimmung über die Stadt würden steigen. Mit deutlich gestärkten kommunalen Verkehrsbetrieben könnten Unternehmen starker bürgernaher Mitbestimmung entwickelt werden. Anstelle den Zwängen privater Mobilität untergeordnet zu werden, würden die Städte ganz anders demokratisch gestaltbar. Die Städte des „Habens“ sind die des Autoverkehrs und der Konsumtempel, oft auf der zubetonierten Wiese, die Städte des „Seins“ sind Orte öffentlichen Nahverkehrs und der Kultur.
  5. Ein Öffentlicher Nahverkehr, der zum Nulltarif angeboten wird, ist ein typisches Mitte-Unten-Bündnis.5 Er ist solidarisch mit den Schwächeren, jenen, die sich kein Auto leisten können, die auf den öffentlichen Verkehr angewiesen sind, von dessen Mängeln besonders betroffen sind, denen teilweise aber auch das Geld für eine Monatskarte fehlt. Und er ist ein Angebot für die Mittelschichten, ihre hohe Mobilität nicht als privaten Luxus der Wenigen, sondern als „Luxus des Öffentlichen“ (Mike Davis) zu praktizieren, der allen zugänglich ist und keinen ausschließt.
  6. Ein ausgebauter öffentlicher Nahverkehr zum Nulltarif wäre eines jener Projekte, die wirkliche globale Kooperation ermöglichen. Der private Autoverkehr ist nicht global zu verallgemeinern, auch wenn genau daran gerade gearbeitet wird. In den reichen Ländern des Nordens ist die gleichzeitige Aufrechterhaltung eines privaten und öffentlichen Verkehrssystems heute noch zu finanzieren, aber wohl kaum noch morgen. Im Süden ist dies schon heute ausgeschlossen. Hier ist die Mobilität sozial extrem eingeschränkt. Der Umstieg auf den ÖPNV zum Nulltarif im Norden wäre extrem wirksame Entwicklungshilfe: Er senkt die Nachfrage nach Ressourcen, verringert die Klimagefährdung, von der vor allem der Süden bedroht ist, bietet ein Modell an, dass anders als der motorisierte Individualverkehr tatsächlich global verallgemeinert werden kann, könnte mit einem entgeltfreien Technologietransfer von Nord nach Süd verbunden werden. Ein Teil der volkswirtschaftlich eingesparten Kosten könnten in die Förderung entsprechender Infrastrukturprojekte in den Entwicklungsländern investiert werden.

In der jetzigen Krise sind öffentliche Konjunkturprogramme notwendig, um eine dauerhafte Rezession zu verhindern. Die Frage ist nur, ob es Programme wie die der „Umweltprämie“ sein sollen, die Industrien und Technologien fördern, die völlig überholt sind und einem vergangenen Zeitalter angehören, oder die des langfristigen sozialökologischen Umbaus. Der Planet ist zu klein geworden, um auf seine Kosten noch weiter Ressourcen zu verschwenden. Die Not ist zu groß, um durch wachsende Staatsverschuldung überlebte Strukturen zu erhalten. Die Chancen eines Wandels liegen zu sehr auf der Hand, als dass ein phantasieloses zerstörerisches Weiter-So geduldet werden sollte. Es ist Zeit, aus der Krise eine Chance zu machen, genau das zu tun, was wir eigentlich schon immer wollten – aufbrechen in eine gute, eine solidarische und deshalb auch autofreie Gesellschaft.

Zum Autor:

Michael Brie, Prof. Dr., Philosoph, Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung[1] und Mitglied der Programmkommission der Partei DIE LINKE.

Links:

  1. http://www.rosalux.de/cms/index.php?id=ifg