jede patriotismusdebatte versetzt mich in starre

Mit dem „Russendisko“-Autor Wladimir Kaminer beim Italiener

Wir treffen Wladimir Kaminer und seine Familie bei einem Italiener im Prenzelberg. Zwischen Rotwein, Tintenfisch und Pizza kommen wir mit ihm ins Gespräch über den Kapitalismus, übers Arbeiten, übers Ausschlafen sowie über den Sex im Sozialismus.

prager frühling: Wladimir, im Oktober 2006 hast Du in einem Interview verkündet, Du wollest Klaus Wowereit beerben und in fünf Jahren Regierender Bürgermeister in Berlin werden. Wie weit bist Du damit?

Wladimir Kaminer: Das war natürlich nicht ernst gemeint. Ich wollte nur ein bisschen aufrütteln.

pf: Gesetzt den Fall, Du würdest doch noch Bürgermeister, was wäre Deine erste Maßnahme?

Kaminer: Als Provokation hatte ich mal vorgeschlagen, die Bezirke, in denen es die Nazis ins Parlament geschafft haben, zum Verkauf anzubieten.

pf: Und wenn Du statt Bürgermeister zu werden zum Bildungsminister ernannt werden würdest?

Kaminer: Da würde ich mich mit meiner Frau beraten. Die Kindheit ist eine so sensible Phase. Es ist schon verrückt, welchem Stress diese kleinen Menschen in der Schule ausgesetzt sind. Ich habe neulich gelesen, dass eine bevorstehende Klassenarbeit einem Kind einen Stress verursacht, der einen Erwachsenen umbringen würde.

pf: Also würdest Du die Noten abschaffen?

Kaminer: Von Montessori-Schulen und so halte ich nichts. Ich würde lieber die Anzahl der Noten vervielfachen. Statt fünf Noten sollte es 20 geben.

pf: Reden wir mal über Dein neues Buch „Es gab keinen Sex im Sozialismus“. Deine Kinder sind ja schon in dem Alter, wo sie lesen können…

Kaminer: Ja, aber sie interessieren sich mehr für Vampirgeschichten, als für den Sex im Sozialismus.

pf: Mal angenommen, sie sehen Dein Buch und fragen: „Papa, was ist das, Sozialismus?“ Was würdest Du antworten?

Kaminer: Ich denke, da haben die Kinder schon eine Vorstellung, aber wir können gerne fragen. (Er wendet sich seinem Sohn zu.) Sag mal Sebastian, hast du schon mal vom Sozialismus gehört?

Sebastian: In der Schule haben wir bisher nur Nationalsozialismus behandelt.

Kaminer: Oje! Seht ihr, der Sozialismus kommt in der Schule gar nicht vor.

In dem Moment kommt der Kellner an unseren Tisch, um die Bestellung aufzunehmen. Was sich angesichts der Auswahl und der komplizierten Speisebezeichnungen als gar nicht so einfach erweist.

pf: In Deiner Geschichte „Arbeit im vorigen Jahrhundert“ heißt es gleich zu Beginn: „Ich habe das Gefühl, dass niemand mehr arbeitet, alle sind nur noch mit Geldverdienen beschäftigt.“

Kaminer: Tja, jede Gesellschaftsordnung befördert halt bestimmte Eigenschaften bei den Menschen. Der Kapitalismus befördert die Gier. Man will immer mehr und meint, alles erreichen zu können. Im Sozialismus war das alles beherrschende Gefühl die Faulheit. Neulich im Netz habe ich ein Kartenspiel entdeckt, auf dem 36 Dinge waren, die jeder im Sozialismus hatte. Heute findest du niemals 36 Sachen, die jeder hat.

pf: Du hast mal geschrieben, dass „der Faule manchmal mehr erkennt.“ Wieso?

Kaminer: Das hab ich geschrieben? Na klar, weil der Arbeitsame die ganze Zeit damit beschäftigt ist, der Wurst hinterher zu laufen und deswegen nicht sieht, was um ihn herum passiert. Nur einer, der sich von seinen Bedürfnissen distanzieren kann, wird einen klaren Blick bekommen. Auch Thomas Bernhard schreibt darüber. (Kaminer blättert dabei in einem Buch. Und dann zitiert er daraus:) „Das Problem, was mich am meisten quält, ist immer mit der Arbeit fertig zu werden.“ Mir scheint, dass das ein typisch männliches Problem ist. Männer stellen sich das Leben als Arbeitseinsatz vor. Deshalb werden sie auch niemals fertig mit der Arbeit.

pf: Apropos Arbeiten. Deine Arbeit ist das Schreiben. Wo kommen Dir die besten Ideen?

Kaminer: Am schönsten sind die Geschichten, die von allein kommen, die das Leben dir einfach so serviert. Die letzten zwei Tage war ich in Münster, da hat es die ganze Zeit geregnet. Da regnet es wohl immer. Laut www.wetter.de regnet es dort heute immer noch. Ich dachte also, wenn schon nass, dann richtig und bin ins Schwimmbad gefahren. Auf dem Hinweg bin ich mit einem marokkanischen Taxifahrer gefahren, der hat mir die ganze Zeit erzählt, wie scheiße Marokko und wie toll Europa ist. Auf dem Rückweg bin ich mit einem deutschen Taxifahrer gefahren, der hatte vor kurzem zehn Wochen Urlaub in Marokko gemacht und schwärmte, was das für ein tolles Land ist und schimpfte nun, wie öde Münster ist und erzählte mir, dass er schon wieder reif für einen Urlaub in Marokko sei. Ich musste so lachen! Du machst gar nichts und dann kommt eine Geschichte und ruft, bitte nimm mich. Ist schon verrückt, nirgends sind diese Menschen glücklich.

pf: Zum Glück gehört – glaubt man Deinem Buch „Mein Leben im Schrebergarten“ – das Ausschlafen. Warum überzeugt Dich der Ausspruch „Der frühe Vogel fängt den Wurm.“ nicht?

Kaminer: Nun, die Chinesen meinen dazu: Nur der Vogel, der vorne fliegt, wird abgeschossen. Darüber sollten die deutschen Streber einmal nachdenken. Und außerdem meine ich, wer das Leben begriffen hat, der hat keine Eile.

Inzwischen wurden die Vorspeisen aufgetragen und der Rotwein ausgeschenkt. Wir stoßen mit an und kommen auf ein weniger erfreuliches Thema zu sprechen: Aufenthaltsgenehmigungen.

pf: Einige Deiner Texte handeln von Problemen mit der Ausländerbehörde bzw. dem Aufenthaltsstatus. Hast Du immer noch Ärger mit dieser Behörde?

Kaminer: Seit einigen Jahren haben wir ja nun die deutsche Staatsbürgerschaft. (Spricht und zieht seinen Ausweis zum Beweis hervor.) Aber das war ein kompliziertes Verfahren, weil es in Deutschland keine doppelte Staatsbürgerschaft gibt. Das war eine Aufgabe, die man eigentlich in einem Leben nicht bewältigen kann. Zuerst mussten wir offiziell die Staatsbürgerschaft Russlands neu beantragen. Dazu musste ich nach Russland. Und dann mussten wir uns in Russland abmelden und parallel die neue Staatsbürgerschaft beantragen. Das ist nur die Kurzfassung von gefühlten 1.000 Behördengängen. Kein Wunder, dass bei diesem Spiel viele nicht zum Ziel kommen, sondern auf dem ersten Level hängen bleiben. Ich frage mich ehrlich, was ist der Sinn von dieser ganzen – wie sagt man – Staatlichkeit?

pf: Das fragen wir uns auch…

Kaminer: Ehrlich, jede Patriotismusdebatte versetzt mich in Starre. Es gibt null, nichts, worauf man dabei stolz sein kann, auch nichts, wofür man sich schämen muss: Die Leute müssen sich irgendeine Beschäftigung suchen, wenn sie Bestätigung suchen.

pf: Reden wir zum Abschluss noch mal über die aktuelle Situation. Wie lautet Dein Statement zur Krise?

Kaminer: Es ist verrückt, dass Köhler fordert, die Finanzmärkte brauchen mehr Moral. Märkte brauchen keine Moral. Aber die Linke hat jetzt eine einmalige Chance: Die Inhalte, die früher nur die Linke vertreten hat, sind jetzt in aller Munde. Alle reden nun über Solidarität und sogar über Verstaatlichung. Die anderen laufen quasi vor der Linken mit deren Inhalten weg.

pf: Vielleicht treibt die Linke die anderen ja auch nur vor sich her…

Kaminer: Auf jeden Fall muss die Situation genutzt werden, um neue Inhalte zu setzen. Den Kapitalismus muss man nicht mehr bekämpfen. Es braucht ein neues politisches System im Sinne der Menschen und nicht der Ideologien. Die Menschen müssen viel stärker eingebunden werden. Wir brauchen jetzt eine Politik von unten, mehr direkte Demokratie.

Da der Hauptgang schon seit einigen Minuten auf dem Tisch steht und droht, kalt zu werden, schalten wir das Aufnahmegerät aus. In dem Moment dreht sich sein Sohn zu ihm und fragt: „Papa, was ist das denn nun Sozialismus?“

Kaminer: Eine Gesellschaftsordnung, in der die Produktionsmittel der Bevölkerung gehören, also die Fabriken denen, die darin arbeiten. Aber das war bisher nur in der Theorie so.

pf: Wir bedanken uns für das Interview und wünschen noch einen guten Appetit!

Das Interview führten Katja Kipping und Norbert Schepers.