08.09.2009

Die gewonnene Ehre der Carola Bluhm

Warum der Kurs der künftigen Sozialsenatorin Berlins in punkto KiTa-Gebühren richtig ist

Alban Werner
Alban Werner

"Bleib standhaft, SPD" schrieb Redaktionsmitglied Jörg Schindler in seinem Blogbeitrag[1] zur Debatte in der rot-roten Berliner Landesregierung zur Frage der Gebührenfreiheit für den Besuch von Kindertagesstätten. Sein Posting hat eine Replik von Alban Werner provoziert, welche wir an dieser Stelle veröffentlichen wollen.

Bleib standhaft, SPD.

Rot-rot in Berlin bei Kindertagesstätten über Kreuz

Von Jörg Schindler

Berlin will die Kindertagesstätten kostenfrei machen. Bis 2010 das zweite, bis 2011 auch das dritte KiTa-Jahr. Langfristig sollen auch die Kinderkrippen gebührenfrei werden. Es war ein Wahlversprechen, so wurde es zwischen SPD und LINKE vereinbart. Doch nun bricht Carola Bluhm, voraussichtlich neue sozialistische Sozialsenatorin, die Einigkeit. Angeblich geht es um die Qualität.
Zum Blogbeitrag vom 26. Juli 2009[2]

Die gewonnene Ehre der Carola Bluhm

Warum der Kurs der künftigen Sozialsenatorin Berlins in punkto KiTa-Gebühren völlig richtig ist

Von Alban Werner

Ziemlich befremdlich fand ich den Beitrag von Jörg Schindler, in dem er die Beschlusslage des rotroten Senats in Berlin gegen die eigene Parteigenossin und designierte neue Sozialsenatorin Carola Bluhm verteidigt. Dass es manchmal notwendig sein kann, sinnvolle politische Projekte auch gegen prominente AkteurInnen aus der eigenen Partei zu verteidigen, ist mir als ehemaliges SPD-Mitglied nur zu gut bekannt und wird auch hier nicht in Frage gestellt. Konkret in dieser Frage jedoch bin ich bei mindestens drei Gesichtspunkten nicht mit den Schlussfolgerungen von Jörg einverstanden. Die Debatte darüber erscheint mir auch wichtig hinsichtlich weiterer Positionsbestimmungen der Partei, deren Debatte aufgrund des diesjährigen Dauerwahlkampfes leider suspendiert ist, die perspektivisch aber auch mit Verabschiedung eines richtigen Grundsatzprogramms nicht abgeschlossen sein wird.
Jörg irrt sich meiner Meinung nach bzgl. der Fragen, (1) welche Position in der angesprochenen Frage eher einem sozialistischen Gerechtigkeitsbegriff entspricht, (2) welche Position man als „bildungsbürgerliche“ Argumentation zurückweisen und (3) auf welchem Wege man einen emanzipatorischen Universalismus in der Sozial- und Bildungspolitik durchsetzen sollte, der an der Quelle des „Infrastruktursozialismus“ stehen kann.

(1) Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit ist auch im Bildungsbereich nicht eindimensional zu beantworten. Als Linke wollen wir mittel- und langfristig Bildung als soziales Grundrecht verankern, das allen Menschen als Mittel zur freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit in Gesellschaft zusteht. „Bildung für alle, und zwar umsonst“ – dieser Slogan, der auch auf den Bildungsstreikdemos in diesem Frühsommer wieder zu hören war, ist im Grundsatz richtig. Aber er ist für sich gesprochen noch lange nicht revolutionär, und auch nicht links. Das erkennt man zum einen daran, dass auch VertreterInnen der Bündnisgrünen und der SPD außerhalb deren linker Parteiflügel dem Motto zustimmen, aber vor allem sollten sich Linke und SozialistInnen daran erinnern, dass umsonst zur Verfügung gestellte soziale Dienste im weiteren Sinne (also neben sozialer Fürsorge und Versorgung auch Dienste im Gesundheits- und Bildungsbereich) nun mal finanziert werden müssen. Finanziert werden können sie, egal in welcher ökonomischen Gesellschaftsformation, aber immer nur durch Abzweigungen aus den von den arbeitenden (heute: erwerbstätigen, d.h. hauptsächlich lohnarbeitenden) geschaffenen Neuwerten. Kurz: „Bildung umsonst für alle“ für sich alleine ist eine Illusion, denn die Rechnung muss irgendjemand bezahlen. Schon bei der Frage, wie aus der gesellschaftlich geschaffenen Wertmasse die Mittel zur Finanzierung für „Bildung umsonst für alle“ zu entnehmen sind, zeigen sich die deutlichen Differenzen zwischen den unterschiedlichen politischen Strömungen, die für gebühren- und abgabefreie Bildung streiten. Denn SPD und Grüne opponieren nicht oder nur unzureichend gegen einen Zustand, bei dem das Steueraufkommen in immer größerem Umfang von den Einkommen aus abhängiger Arbeit getragen wird, die zumeist leistungslosen Gewinneinkommen aber immer stärker entlastet wurden und (z.B. durch die Einführung der sog. Abgeltungssteuer) werden. Die Inanspruchnahme von Bildung ist aber gerade bei denjenigen sozialen Schichten am stärksten, die durch die Senkungen der Einkommenssteuersätze seit Rotgrün am deutlichsten entlastet wurden. Bietet man Bildungsangebote gebührenfrei (d.h. aus dem allgemeinen Steueraufkommen, statt aus Beiträgen finanziert an), ergibt sich faktisch eine Umverteilung der Belastungen zugunsten der „bildungsnahen Schichten“. Zur plastischen Untermauerung: Es mag für’s Auge zwar so erscheinen, als beteiligten sich Besserverdienende durch die Steuerprogression, auch wenn diese durch o.g. Reformen relativiert wurde, in stärkerem Umfang an der Finanzierung von Bildung als die „bildungsfernen Schichten“, deren Einkommen vielfach so gering ist, das sie gar keine Steuern zahlen. Ebenso wichtig wie der Blick auf den Spitzensteuersatz von 42 % ist zum einen die durchschnittliche Belastung, mit der das jeweils zusätzliche Einkommen unterhalb des Grenzsteuersatzes belastet wird, so beträgt z.B. bei einem Jahreseinkommen von 52.152 Euro die durchschnittliche Belastung tatsächlich rund 27 %. Noch deutlicher wird die verteilungspolitische Schieflage, wenn man zum anderen die Gesamtbelastung der Einkommen betrachtet, also die Sozialversicherungsbeiträge hinzunimmt. Dann zeigt sich schon für Einkommen um 1.800 Euro eine Belastung von 47 %, bei 3.600 Prozent erreicht sie ihren Scheitelpunkt mit 55 %, während sie bei Einkommensmillionären (u.a. dank nicht weiter ansteigender Progression und den problematischen Beitragsbemessungsgrenzen sowie Exit-Optionen Besserverdienender in Teilen der der Sozialversicherung) auf höchstens 41 % absinken (vgl. Hans Thie, Das Libretto vom Netto, in: „Freitag“, 30.5.2008).

(2) Mir ist klar, dass meine Argumentation in Gefahr gerät, eine optische Nähe zur Kampagne „Studienkosten belasten die Falschen“ der Initiative Neue soziale Marktwirtschaft (INSM) darzustellen. Die INSM zeigt uns einen Studierenden aus offensichtlich bürgerlichem Elternhaus, der seine Lernarbeit auf einem (siehe http://www.presseportal.de/print.htx?nr=640715) Facharbeiter sitzend verrichtet. Das Problem, was hier angesprochen wird, ist allerdings mehr als real: Die Inanspruchnahme von Bildung ist bei den Besserverdienenden ungleich höher, und einschlägige soziologische Forschungen von Michael Hartmann u.a. weisen immer wieder nach, dass selbst bei gleichen Qualifikationen Abkömmlinge „bildungsnaher“ elitärer Familien ungleich höhere Chancen auf Positionen ganz oben in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entscheidungshierarchie haben, als alle anderen BewerberInnen. Die in Mehrzahl lohnarbeitenden Erwerbstätigen finanzieren tatsächlich den Töchtern und Söhnen von ArchitektInnen, ÄrztInnen und IngenieurInnen das Studium, ohne dass ihre eigenen Kinder von der Bildungsexpansion auch nur annährend im gleichen Umfang profitiert hätten. Aber da hört das Unrechtsbewusstsein der INSM schon auf. Denn weder machen sie plausible Vorschläge, wie die Bildungsbeteilung nicht-privilegierter Schichten zu verbessern ist, noch propagieren sie ein Ende der verteilungspolitischen Schieflage. Im Gegenteil: Mit „sozial ausgewogenen Bildungskrediten“ befürworten sie letztlich nur eine Privatisierung der Bildungsfinanzierung, durch die die Ungerechtigkeit hinsichtlich Inanspruchnahme von, Zugangsmöglichkeiten zu und Finanzierung von Bildung nur weiter verschärft würde. Linke Politik darf sich nicht damit bescheiden, nur eine dieser drei Ungerechtigkeiten anzugreifen, nämlich die Zugangsmöglichkeit. Allerdings fällt diese durch die bisherige Gebührenordnung in Berlin nicht unsozialer aus in anderen Bundesländern, im Gegenteil. Durch die soziale Staffelung nach dem geltenden „Tagesbetreuungskostenbeteiligungsgesetz (TKBG)“ gilt, dass z.B. jemand mit einem Monatseinkommen bis 1.875 Euro beim Höchstbetreuungsumfang von sechs Stunden (für zwei Kinder, bei ergänzender Betreuung an Schulen, ohne Verpflegung) 16 Euro oder 0,85 % seines Einkommens monatlich bezahlt (das übrigens weniger darstellt als der Mitgliedsbeitrag bei einer DGB-Gewerkschaft), während jemand mit einem Monatseinkommen ab 6.755 Euro für denselben Betreuungsumfang 194 Euro entrichten muss (entspricht 2,87 %). Jörgs Argument, die KiTa-Gebühren seien kein Umverteilungsinstrument, stimmt also bei der Staffelung gerade nicht, weil sie anders als andere Gebühren oder indirekte Steuern keine degressive, sondern eine progressive Belastungswirkung entfalten.

(3) Als Fernziel ist eine gebührenfreie Bildung, ist ein Infrastruktursozialismus auf jeden Fall anzustreben, bei dem Zugang zu und Verwendung von öffentlicher Daseinsvorsorge und sozialen Diensten auf hohem Niveau in Anspruch genommen und demokratisch von den BürgerInnen gestaltet werden können. Der zentrale Hebel dazu ist allerdings die Steuergesetzgebung, die den Bundesländern nicht zur Verfügung steht, auch nicht Berlin. Und so bleibt angesichts ausbleibenden Geldsegens auch Linken dort nichts anderes übrig, die zur Verfügung stehenden Mittel und Belastungen nach Maßstäben sozialer (Bedarfs)Gerechtigkeit zu verteilen. Es gibt hier derzeit tatsächlich, in Abwesenheit einer gerechten Steuerpolitik, die die Länder mit deutlich mehr Mitteln für Bildungsinfrastruktur und –personal ausstattet, einen Trade Off zwischen Gebührenfreiheit und mehr Personal, das auch in Berlin dringend notwendig ist, wenn Bildung auch nur ansatzweise die Grundlage von Selbstentfaltung darstellen können soll. Somit ist es nur folgerichtig, wenn der Landeselternausschuss in einer Befragung unter KiTa-Eltern feststellt: „91,8 Prozent der Eltern wünschen sich zuerst eine Verbesserung der Bildungsqualität und würden dafür zunächst auf die Beitragsfreiheit verzichten“ (Berliner Morgenpost Online[3], 25. Juli). Deswegen ist der Bundesparteitagsbeschluss der LINKEN von Cottbus unzureichend, in dem es nur heißt: „[Die LINKE] setzt sich ein für das Recht der Kinder auf gebührenfreie, qualitativ hochwertige öffentliche vorschulische Bildung“. Dasselbe gilt für die Frage eines kostenlosen Mittagessens in den Kitas. Es sollte nicht Ziel der LINKEN sein, dieses auch für Besserverdienende freizustellen, solange nicht die verteilungspolitische Schieflage auf Bundesebene beseitigt ist, damit die Einnahmeausfälle durch kostenfreie Betreuungseinrichtungen kompensiert werden können. Nur um die fraglichen Dimensionen darzustellen: Die Beitragsfreistellung eines KiTa-Jahres kostet Berlin jährlich 18 Millionen Euro, und mit weiteren 100 Millionen Euro jährlich würden die zu Recht von den ElternvertreterInnen geforderten Verbesserungen beim Personal das Land belasten. Sich hier der Zwickmühle zu verweigern und nur trotzig zu deklarieren, es ginge beides, „wir müssen nur wollen“, unterschätzt zum einen die finanzpolitische Dimension des Problems. Zum anderen aber bedeutet es eine Orientierung auf einen naiven Universalismus, der in der oben zitierten Losung „Bildung für alle, und zwar umsonst!“ kulminiert. Für den steht auch in zunehmenden Maß die SPD, die Bildung als Schlüssel zur Emanzipation schlechthin begreift und alle Herrschaftsverhältnisse, die nur jenseits von gleichen Zugangschancen zu bekämpfen sind, ausblendet. Sie bedient damit ein Gerechtigkeitsverständnis im Sinne einer „Mittelschicht-Utopie“ (Franz Walter), die „Bildung für alle“ fordert, aber wenig Probleme damit hat, wenn ein relevanter Anteil der mit Bildungsabschlüssen Bewaffneten sich anschließend in Ermangelung eines ausreichend großen Arbeitsangebots vor allem im öffentlichen Sektor in Niedriglohn-Jobs verdingt. Der Schlüssel zur Aufhebung der Ungleichheiten in der bürgerlichen Gesellschaft, die sich insbesondere in Deutschland auch im Bildungswesen materialisieren, führt eben nicht über strikte (auch finanzpolitische) Gleichbehandlung. Die Linke Position muss angesichts der lange geronnenen Benachteiligungen und institutionell gefestigten Privilegien des Bürgertums lauten, nur Gleiches gleich, aber Ungleiches ungleich zu behandeln.

„Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein“ (Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 22).

(16. August 2009)

Zum Autor:

Alban Werner, *1982 in Aachen, Politikwissenschaftler, 1999-2004 SPD- und Juso-aktiv, 2004-2005 jd/jl-aktiv, seit 2005 bei Linkspartei.PDS und später der LINKEN, Mitglied des LandessprecherInnenrats der Sozialistischen Linken NRW, Mitglied der Redaktion der Zeitschrift "Das Argument" seit 2006.
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Links:

  1. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/331.bleib-standhaft-spd.html
  2. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/331.bleib-standhaft-spd.html
  3. http://www.morgenpost.de/berlin/article1138968/SPD_Chef_greift_kuenftige_Sozialsenatorin_an.html