23.02.2010

Westerwelles falsche Rechnung

Wer erwerbstätig ist, erhält immer mehr statt weniger Geld.

Alexander Recht, Lehrer an einem Berufskolleg in Köln
Alexander Recht

Im SPIEGEL online steht:

„Westerwelles Beispiel der Kellnerin, die mit zwei Kindern 109 Euro weniger verdient, als wenn sie stattdessen Hartz IV beziehen würde, ist ja nicht aus der Luft gegriffen, sondern Lebenswirklichkeit." (hier der Link[1])

Das Gegenteil ist der Fall: Westerwelle sagt die Unwahrheit. Sein Ziel ist Diffamierung. Überdies stimmt Westerwelles Rechnung nicht – ob dies eine bewusste Falschrechnung ist oder ob dies aus Ahnungslosigkeit geschieht, wäre woanders zu diskutieren. Dass jedenfalls die Rechnung nicht stimmt, soll anhand eines Rechenbeispiels verdeutlicht werden. Es zeigt auf, dass entgegen den Behauptungen des FDP‐Chefs Erwerbstätige ein höheres verfügbares Einkommen aufweisen als Erwerbslose.

Annahmen

Die Annahmen seien: 28‐jährige, alleinerziehende Kellnerin aus Köln mit 2 Kindern zw. 6 und 13 Jahren; skandalöser Bruttolohn im Monat 1.573,00 EUR; GRV‐Satz 19,9% (paritätisch), GAV‐Satz 2,8% (paritätisch), GPV‐Satz 1,95% (paritätisch, da die Frau Kinder hat), GKV‐Satz 14,9% (nicht paritätisch, da 0,9% nur vom AN zu zahlen sind, so dass die Kellnerin 7,9% zu zahlen hat); aktueller ESt‐Tarif bei Steuerklasse 2; aktuelles Kindergeld; aktueller Wohngeldtarif bei einer Wohnung von 60 qm für 600 EUR zzgl. 100 EUR Heiz‐ und Warmwasserkosten.

Verfügbares Einkommen der Kellnerin ohne Aufstockung

So hoch wäre das verfügbare Einkommen der Kellnerin im Monat, wenn sie kein ALG II aufstockend beantragen würde.

Bruttogehalt 1.573,00

– GRV 156,51

– GAV 22,02

– GPV 15,33

– GKV 124,26

– LSt 96,33

– SolZ 0,00

– KiSt 0,00

= Nettogehalt 1.158,55

+ Kindergeld 1 184,00

+ Kindergeld 2 184,00

+ Wohngeld 37,33

= Verfügbares Einkommen der Kellnerin ohne Aufstockung 1.563,88

Verfügbares Einkommen einer Erwerbslosen mit 2 Kindern zw. 6 und 13 Jahren

Regelsatz Erwachsene 359,00

+ Regelsatz Kind 1 251,30

+ Regelsatz Kind 2 251,30

+ Mehrbedarf für Alleinerziehende 129,24

+ Anrechenbare KdU kalt 600,00

+ Anrechenbare Heiz‐/Warmwasserkosten 82,00

= ALG II einer Erwerbslosen 1.672,84

Falscher Vergleich ohne Aufstockung

ALG II einer Erwerbslosen 1.672,84

– Verfügbares Einkommen der Kellnerin ohne Aufstockung 1.563,88

= Differenz 108,96 ≈ 109

Die Reaktion von Westerwelle und SPIEGEL online

Was sagen nun Westerwelle und SPIEGEL online? „Skandal!“, denn die Erwerbslose erhalte ja 109 EUR mehr als die Kellnerin.

Hierauf ist Dreierlei zu sagen:

Erstens ist es ein Skandal, dass man mit Vollzeit so wenig verdienen kann. Zweitens werden höhere Regelsätze, wie sie DIE LINKE fordert, den Druck für höhere Bruttolöhne erhöhen, niedrigere Regelsätze (und auch höhere Hinzuverdienstmöglichkeiten) hingegen den Druck für geringere Bruttolöhne; drittens ist die Rechnung falsch, denn zu berechnen ist, dass die Kellnerin aufstockend ALG II beziehen kann.

Anrechenbares Einkommen der Kellnerin für Aufstockung

Bruttogehalt 1.573,00

– absetzbare Sozialversich. 318,12

– absetzbare Steuern 96,33

– Kinderversicherungspauschale 30,00

– Freibetrag bei Erwerbstätigen 310,00

+ Kindergeld 1 184,00

+ Kindergeld 2 184,00

= Anrechenbares Einkommen 1.186,55

Das anrechenbare Einkommen weicht vom verfügbaren Einkommen ohne Aufstockung ab. Die Differenz von 1.563,88 EUR – 1.186,55 EUR = 377,33 EUR erklärt sich daraus, dass bei aufstockendem ALG‐II‐Bezug das Wohngeld von 37,33 EUR nicht gezahlt wird sowie der Hinzuverdienst von 310,00 EUR und die Kinderversicherungspauschale von 30,00 EUR abgesetzt werden: [37,33 310,00 30,00] EUR = 377,33 EUR.

Der Hinzuverdienst beträgt 310 EUR, da 100,00 EUR pauschal an Hinzuverdienst gewährt werden, zudem 20% vom darüber hinausgehenden Einkommen bis 800,00 EUR sowie 10% vom darüber noch hinausgehenden Einkommen bis 1.500,00 EUR bei Alleinerziehenden:

100,00 EUR 700,00 EUR · 20% 700,00 EUR · 10% = 310,00 EUR.

Aufstockendes ALG II

Was folgt daraus? Die Kellnerin erhält aufstockend auf ihr anrechenbares Einkommen die Differenz bis zum ALG‐II‐Betrag der erwerbslosen Frau mit 2 Kindern, also:

ALG II einer Erwerbslosen 1.672,84

– Anrechenbares Einkommen 1.186,55

= Aufstockbetrag 486,29

Verfügbares Einkommen der Kellnerin mit Aufstockung

So hoch wäre folglich das Gehalt der Kellnerin im Monat, wenn sie ALG II aufstockend beantragen würde (und dafür auf das Wohngeld verzichten würde).

Bruttogehalt 1.573,00

– GRV 156,51

– GAV 22,02

– GPV 15,33

– GKV 124,26

– LSt 96,33

– SolZ 0,00

– KiSt 0,00

= Nettogehalt 1.158,55

+ Kindergeld 1 184,00

+ Kindergeld 2 184,00

+ Aufstockbetrag 486,29

= Verfügbares Einkommen der Kellnerin mit Aufstockung 2.012,84

Statt ohne Aufstockung 1.563,88 EUR zu erhalten, erhält die Kellnerin mit Aufstockung 2.012,84 EUR. Die Differenz zwischen verfügbarem Einkommen mit und ohne Aufstockung ist 2.012,84 EUR – 1.563,88 EUR = 448,96 EUR. Dies entspricht dem ums Wohngeld reduzierten Aufstockbetrag. Also sollte aufstockendes ALG II beantragt werden.

Richtiger Vergleich mit Aufstockung und Fazit

Verfügbares Einkommen der Kellnerin mit Aufstockung 2.012,84

– ALG II einer Erwerbslosen 1.672,84

= Differenz 340,00

Die Differenz von 340,00 EUR ergibt sich aus der Summe von Hinzuverdienst und Kinderversicherungspauschale.

Wer erwerbstätig ist, erhält also im Vergleich zu einer erwerbslosen Person der soziologisch gleichen Kategorie – hier Alleinerziehungsstatus und 2 Kinder – immer mehr statt weniger Geld. Denn der Hinzuverdienst (ggf. zzgl. Kinderversicherungspauschale) kommt stets hinzu.

Fazit: Westerwelle und SPIEGEL online sagen die Unwahrheit.

Links:

  1. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,677518,00.html.