schrittmacher des kapitalismus?

Anmerkungen zu einer populären Zeitdiagnose

Silke van dyk

Trotzen wir dem System durch Kreativität und Nonkonformität Freiräume ab? Unterlaufen wir durch subversive Praktiken die Zurichtungen des spätmodernen Kapitalismus? Rütteln wir manchmal gar an den tragenden Säulen der Gesellschaft? Zweifelnde Fragen dieser Art begleiten wohl jede gesellschaftskritische Haltung, jede dissidente Praxis. Die größte Sorge ist unverkennbar und allgegenwärtig: ohne Wirkung zu bleiben. Was aber, wenn Wirkungslosigkeit nicht das größte Problem ist? Wer einen Blick auf aktuelle Debatten zu Dissidenz wirft, findet sich schnell mit einer ganz anderen Problematik konfrontiert: Gegenstrategien werden — so die populäre These — zunehmend als Systemressourcen entdeckt. Allerorten springt uns die Diagnose entgegen, dass Abweichung und Dissidenz von potentiellen Störfaktoren zu Produktivkräften des Kapitalismus avanciert sind.

die Vereinnahmungsdiagnose

Historisch betrachtet hat sich der Kapitalismus im Prozess der (äußeren) Landnahme zunächst in kolonialistischer Manier die nicht-kapitalistischen Gesellschaften einverleibt, um dann im Zuge der „inneren Landnahme“ die vorindustriellen Sektoren sowie die Reproduktionsbedingungen selbst der Vermarktlichung zuzuführen. Nun wird in jüngerer Zeit eine Dynamik ausgemacht, die sich als „innerste Landnahme“ beschreiben lässt: Diese laufe darauf hinaus, nicht mehr (nur) die Arbeitskraft, sondern den ganzen Mensch mitsamt seiner subjektiven Emotionen und Eigensinnigkeiten zu erschließen. Soziolog/innen haben gezeigt, dass neue Managementkonzepte als Reaktion auf die Krise der fordistischen Massenproduktion zunehmend auf Selbststeuerungspotenziale von Beschäftigten setzen: Initiativen zur Abflachung von Hierarchien und zur Förderung von Eigeninitiative entsprachen dabei ebenso wie der Ausbau von Gruppenarbeit in vielen Punkten jahrelangen Forderungen von Gewerkschaften und kritischer Industriesoziologie. Nichtsdestotrotz handele es sich um eine ambivalente Entwicklung, da „die Gewährung von Autonomie zu einer nur schwer zu durchschauenden, effizienteren Herrschaftstechnik wird“, wie Manfred Moldaschl und Günther Voß konstatieren. Auch die französischen Soziologen Luc Boltanski und Eve Chiapello haben in ihrer Studie „Der neue Geist des Kapitalismus“ aufgezeigt, dass das kapitalistische System zu seiner Rechtfertigung zunehmend die Kritik seiner Gegner/innen zur Legitimationsressource ummodeliert. Dies betreffe insbesondere die im Zuge der 68er-Bewegung einflussreich gewordene Künstlerkritik, die Entfremdung und Uniformierung thematisiert und im Gegenzug Autonomie, Kreativität und Freiheit propagiert. Im Zuge der Integration dieser Kritik sei ein projektbasierter Geist des Kapitalismus entstanden, in dem flache Hierarchien, Flexibilität und partizipative Managementtechniken an Bedeutung gewonnen haben. Die bei akademischen Linken populären Gouvernementalitätsstudien im Anschluss an Michel Foucault gelangen zu einer zugespitzten Diagnose mit ähnlicher Stoßrichtung: So konstatiert Ulrich Bröckling in seiner Studie „Das unternehmerische Selbst“, dass die Subversion der Ordnung Teil ihrer Optimierung geworden sei. Die aktuelle Orientierungslosigkeit gesellschaftskritischer Positionen hat ihm zufolge ihren Grund „in der unbequemen Erkenntnis, dass der vermeintliche Sand, mit dem man hoffte, das Getriebe blockieren zu können, dieses inzwischen als Schmiermittel am Laufen hält.“ Was wird aus Kritik und Dissidenz, wenn sie derart zu Lernhilfen einer optimierten kapitalistischen Produktion und Vergesellschaftung umgebaut werden können? Es ist ein großes Verdienst dieser Analysen, aufgezeigt zu haben, dass Fremdbestimmung und Nonkonformität im Gegenwartskapitalismus keineswegs einfache Gegensätze darstellen: Autonomie kann zur Herrschaftstechnik werden, Nonkonformität kann zum geforderten Leistungskanon gehören. So wichtig die Vereinnahmungsdiagnose in ihrer Sensibilisierung für die Anpassungsfähigkeit des kapitalistischen Systems ist, so unbefriedigend bleibt sie jedoch für die Analyse konkreter Vereinnahmungsprozesse.

eine elitäre diagnose?

Die Vereinnahmungsdiagnose ist abgehoben: Abstrakte Subjekte spazieren durch eine Welt, die jede subversive Handlung unterschiedslos zu Innovationsgeneratoren umarbeitet. Wer aber erwartet Mobilität von Flüchtlingen, die die Grenzen der Festung Europa überwinden? Welche Supermarkt-Kassiererin erfreut ihren Chef mit hoher Kommunikationsorientierung beim Kassieren? Welcher Hartz-IV-Beziehende den Fallmanager mit kreativen Ideen ohne Lohnarbeitsbezug? Um welche Verhältnisse geht es, wenn von der umfassenden Preisgabe von Kritik an das System die Rede ist? Wissenschaftler/innen und bewegte Linke scheinen über ihre privilegierte Situation zu sprechen. Verschiedene Untersuchungen — so jüngst die Studie von Francois Dubet zum Ungerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz — zeigen aber, dass die weitgehende Ausschaltung subjektiver — zumal kritischer — Potenziale in vielen Bereichen nach wie vor an der Tagesordnung ist. Der Alltag der meisten Beschäftigten ist bestimmt durch ein komplexes Ineinandergreifen von Mechanismen der Fremd- und Selbstkontrolle: „Mach, was du willst, aber nur im Rahmen des Erlaubten“. Genau dieses Konglomerat gilt es aber zu entwirren und auf konkrete Ansatzpunkte für Widerständigkeit abzuklopfen. Mitunter reicht es, eine gewünschte Praxis einfach auf einen anderen Kontext zu übertragen. Das Störpotenzial wäre garantiert.

formale analyse ohne emanzipatorisches ansinnen

Die Vereinnahmungsdiagnose ist zudem formalistisch: Kreativität, Selbststeuerung, Flexibilität oder Nonkonformität werden kaum inhaltlich rückgebunden, so dass offen bleibt, mit welchem Ziel sie zum Einsatz kommen: Selbstorganisation in Bezug auf die Selbstökonomisierung als Freiberuflerin oder die Vorbereitung von Protesten gegen den G8-Gipfel? Mobilität im Sinne der betrieblichen Erfordernisse oder im Bezug auf die eigene Fluchtgeschichte? Nonkonformität als einträgliches Kunstprojekt oder als Überlebensstrategie am Fließband? Die berechtigte theoretische Unsicherheit darüber, von welchem Standpunkt aus eine Kritik der Verhältnisse formuliert werden kann, wenn die Kritik immer schon Bestandteil eben dieser Verhältnisse ist, wird in eine Sackgasse weitergedacht. Ein Standpunkt, von dem aus die Kritik „ihr Nein formulieren könnte“ (Ulrich Bröckling), müsse aufgegeben werden, so zahlreiche Protagonist/innen der Debatte. Da man auf eine kritische Perspektive nicht gänzlich verzichten möchte, wird Widerständigkeit allein über die Umkehrung der identifizierten Systemressourcen bestimmt: Kreativität und Mobilität sind gewünscht? Dann bleiben wir zu Hause und gestalten die Tage möglichst eintönig. Wir sollen eigeninitiativ und hochkommunikativ sein? Dann werden wir eben depressiv. Es wird allein danach gefragt, ob die Verweigerung die gegebene Ordnung stört, nicht aber, ob sie in emanzipatorischer Hinsicht die Verhältnisse verbessert. Nur vor solch einem Hintergrund wird verständlich, wie aus post-strukturalistischer und gouvernementalitätstheoretischer Perspektive (immerhin derzeit der Linken liebste Theoriekinder) Entsubjektivierung, Depression, passive Resistenz oder „leere Zwischenräume der Nicht-Kommunikation“ zu Widerstandsmaximen werden können. Da wir als Subjekte immer Teil des Systems sind, sollen wir möglichst wenig Subjekt sein, und vor allem sollen wir uns nicht sichtbar organisieren. „Wirklich ‚sauber‘ bleibt ohnehin nur der Subversive, dessen Subversion keiner bemerkt.“ — wie der Autor Robert Misik jüngst konstatierte. Es drängt sich die Frage auf, ob diese Preisgabe des Politischen, ob die Absage an einen Standpunkt, ob das Abgefeiere von Spontaneität nicht die radikalste Form ist, den Verhältnissen ‚auf den Leim‘ zu gehen. Autonomie und Selbstbestimmung sind eben nicht nur Managementtechnik und Ausweis liberaler Ideologie, sondern eine grundlegende Notwendigkeit für jede emanzipatorische Perspektive.

auswege

Sowohl das kapitalistische System als auch die Praktiken der Subjekte sind so facettenreich, dass die Annahme einer einfachen Formähnlichkeit von System und Kritik nur in eine Sackgasse führen kann. Diese Diagnose funktioniert nur in der Abstraktion, doch im Abstrakten lebt und leidet niemand. Es höchste Zeit, anhand konkreter Praktiken realer Akteure auszuloten, unter welchen Bedingungen die Umarbeitung von Kritik und Dissidenz zu Innovationsgeneratoren gerade nicht gelingt. Dabei gilt es auch zu berücksichtigen, dass nicht jede dissidente Praxis durch ihre Vereinnahmung entwertet wird: Was zur Produktivkraft mutiert, verliert damit nicht unter allen Umständen seinen subversiven Charakter, kann doch jedes Schmiermittel, sobald es nicht mehr die Maschine ölt, sondern den Boden bedeckt, seine Funktion verändern. Vor allem aber sollte das Wissen darum, dass es keinen dauerhaft sicheren, von den gesellschaftlichen Machverhältnissen undurchdringbaren Ort der Kritik und Dissidenz gibt, nicht zu dem fatalen Umkehrschluss verleiten, dass es keine vorübergehend zu enternden, provisorisch zu sichernden Stand- und Widerstandspunkte gibt. Dass dieser Ort der Abweichung stets gefährdet, umkämpft und vereinnahmbar bleibt, erfordert permanente Reflexion und Praxis — und nicht die Verweigerung, ein autonomes Selbst zu sein.