21.06.2012

Auswertung des 3.Bundesparteitages

Katalin Gennburg
Schön anzuschaun, dieser Zaun!

Es war einmal ein Lattenzaun

Dieser auch ...

mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.

... es scheint so Brauch.

Ein Architekt der dieses sah,

stand eines Abends plötzlich da –

Und nahm den Zwischenraum heraus

Und baute draus ein großes Haus.

Ein Anblick grässlich und gemein.

Drum zog ihn der Senat auch ein.

Der Architekt jedoch entfloh

Nach Afri- od- Ameriko

[Christian Morgenstern,

aus „Die Galgenblätter“ (1905)]

Katja Kipping beschreibt den Bundesparteitag und seinen Ausgang als „Bruch nach vorn“. Hiervon ausgehend möchte ich einen theoretischen Exkurs wagen und im Folgenden die Idee der sozialen Konstruktion von Raum und Diskurs dazu befragen.

Pierre Bourdieu entwarf in seiner Arbeit „Die feinen Unterschiede“ eine Theorie über die soziale Konstruktion von Raum und deren Abbild. Dazu gehört auch die Verteilung der Einwohner_innen im städtischen Raum entsprechend ihrer jeweiligen Klassenlage und –zugehörigkeit. Die heute vielerorts diskutierten Phänomene „Segregation“ oder „Gentrification“, also die Verdrängungsprozesse im städtischen Raum aufgrund vor allem ökonomischer Disparitäten in einer rassistischen Gesellschaft, müssen in Anbetracht der von Bourdieu dargestellten mikro-sozialen Prozesse diskutiert werden. Das Prinzip der „Distinktion“, also der bewussten materiellen und/oder sozial-räumlichen Abgrenzung, und der „Stigmatisierung“, also der Kenntlichmachung „des Anderen“ innerhalb einer Gesellschaft sind wesentlich für Bourdieus Theorie.

An diesen Gedanken anknüpfend, spreche ich nun über die vielfach bereits in den Medien und auf dem Parteitag selbst diskutierten Dynamiken und Spannungen innerhalb der Partei; der Bundestagsfraktion und auf dem Bundesparteitag. Es ist ein offenes Geheimnis, dass sich innerhalb der Partei Die Linke. Gruppen gegenüber stehen und Machtkämpfe austragen und dabei so tun als vollzögen sich diese Auseinandersetzungen entlang ideologischer und/oder geografischer Grenzen. Ja, es sind auch ideologische Fragen die sich gegenüber stehen, ich meine aber, dass Machtinteressen diese überwiegen und politische Positionen so geopfert werden. Solche Prozesse vollziehen sich klassischer Weise überall wo es um Geld und Macht geht. Sowohl in der freien Wirtschaft, als auch in einer Partei unterliegen die besten Ideen und Forderungen, gegenüber Zugehörigkeiten zu Netzwerken und deren Zugriff auf Machtstrukturen. Und weil genau das Abbild gesellschaftlicher Verhältnisse ist und die immer wieder aufgerufene Forderung nach einer „neuen Kultur“ in logischer Konsequenz die Antwort auf die bisherige Un-Kultur ist, macht es Sinn die soziale Konstruktion des Partei-Raumes und die gesellschaftlichen Verhältnisse in ein Verhältnis zu setzen.

Dazu schrieb Bourdieu: „Der in bestimmter Weise von uns bewohnte und uns bekannte Raum ist sozial konstruiert und markiert. Der physische Raum lässt sich nur anhand einer Abstraktion (physische Geografie) denken, das heißt unter willentlicher Absehung von allem, was darauf zurückzuführen ist, dass er ein bewohnter und angeeigneter Raum ist, dass heißt eine soziale Konstruktion und eine Projektion des sozialen Raumes, eine soziale Struktur im objektivierten Zustand, die Objektivierung und Naturalisierung vergangener und gegenwärtiger sozialer Verhältnisse.“[1][1]

Der Exkurs besteht nun darin, Bourdieus Vorstellung von der sozialen Konstruiertheit des Raumes generell, auf den politischen Raum in dem wir uns erklärter Maßen gemeinsam bewegen wollen, zu übertragen. Martina Löw unterstreicht diese Möglichkeit indem sie sagt: „Sozialer Raum ist für Bourdieu eine relationale (An)Ordnung von Menschen und Menschengruppen im permanenten Verteilungskampf, das heißt auch in permanenter Bewegung. Ein sozialer Raum ist also ein Raum der Beziehungen. Er bezeichnet eine (An)Ordnung von Personengruppen auf der Basis gleicher bzw. unterschiedlicher Verfügungsmöglichkeiten über ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital, welches sich in einem ähnlichen oder verschiedenen Habitus zeigt. Der soziale Raum ist eine Abstraktion. “[2][2]

Dietmar Bartsch war lange der einzige Kandidat und auch Favorit einer großen Gruppe innerparteilicher Akteure. Ich möchte den Blick noch einmal auf die Nichtwahl Bartschs richten. Unabhängig davon was geworden wäre, wäre er gewählt worden, muss rückblickend konstatiert werden, dass Bartsch von einem Parteitag nicht gewählt wurde, dessen Delegiertenschlüssel nicht dem realen Mitgliederproporz entspricht. Man kann also nicht sagen, dass die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der Partei gegen Bartsch sprechen. Man muss vielmehr anerkennen, dass die Mitglieder jener Landesverbände, die deshalb auf dem Bundesparteitag unterrepräsentiert waren und nicht zufrieden sind mit dem Wahlergebnis, eine Integrationsleistung für die Partei vollbringen, wenn sie die Wahl mindestens anerkennen. Das ist nicht selbstverständlich. Insbesondere ist das nicht selbstverständlich angesichts der thematisierten Un-Kultur, wozu auch die inzwischen gängigen Diffamierungen politischer Gegner als „Rechte“ anzuführen wären. Die Rede der Genossin Goltze aus Brandenburg, die genau das anprangerte und unmissverständlich klar stellte, dass sie keine „Rechte“ sei nur weil sie aus Brandenburg komme, aber auch Gysis Rede, sprachen für diese bislang praktizierte Un-Kultur in innerparteilichen Frontkonstruktionen und Scheindebatten. Diese Un-Kultur ist kaum mehr zu übersehen und baut noch immer ideologische Fronten auf, anstatt Dissense in Debatten zu überführen und diskursiv zu lösen. Das diese Normalität der Abgrenzung und Stigmatisierung auf dem Parteitag endlich thematisiert wurde, war eine Erleichterung. Diejenigen die nun eine neue Kultur und, wie Katja Kipping, den „Bruch nach vorn“ fordern greifen genau diesen Missstand auf und erheben den Anspruch auf eine solidarische und demokratische Debatte. Das ist wirklich ein Erfolg des Parteitages und es bleibt zu hoffen dass sich die innerparteilichen Koordinaten, um im räumlichen Vokabular zu bleiben, zugunsten des gegenseitigen Respekts und eines Interesses an der jeweils anderen politischen Sozialisation und Arbeit verschieben.

Apropos „politische Sozialisation“ und deren physische und psychische Koordinaten: Bezogen darauf gilt es auch zu sagen, dass eine neue Kultur auch die unterschiedlichen politischen Sozialisationen in Ost wie West anerkennen muss. Den Glauben „der Ossis“ an „ihren“ sozialistischen Staat in dem sie qua Geburt zu Anti-Faschist_innen wurden, muss man mitdenken um zu verstehen, warum politische Handlungsspielräume in den neuen Bundesländern hauptsächlich in staatlichen Einrichtungen erkannt werden. Die permanente Opposition, in die man als West-Linker“ politisch gedrängt wurde, weil der Staat in dem man lebte, Feind war und ist, steht dem zumindest konzeptionell gegenüber und erklärt, warum linke Politik in der BRD, spätestens seit den Grünen, vor allem außerparlamentarisch lokalisiert wird. Beides ist zeithistorisch begründbar. Dennoch ist es arrogant und apolitisch diesen Dualismus vor sich herzutragen und damit die inhaltlichen Auseinandersetzungen zu vermeiden. So wie es bisher praktiziert wird.

Wie kann also eine neue Kultur innerhalb der Linken tatsächlich entstehen?

Mit Bourdieu lässt sich eine Perspektive aufzeigen, dass es vor allem um die „wechselseitige Anerkennung“ und das „gemeinsame Sich-Wiedererkennen“ geht.

„Mit anderen Worten, die Erfolgschancen der zur Schaffung einer geeinten Gruppe notwendigen Konstituierungs- oder Konsekrierungsarbeit (Abzeichen, Stempel und Mitgliedskarten) sind umso größer, je größer bei den so bearbeiteten sozialen Akteuren aufgrund ihrer Nähe im Raum der sozialen Positionen und auch aufgrund der mit diesen Positionen verknüpften Dispositionen und Interessen die Neigung zur wechselseitigen Anerkennung und zum gemeinsamen Sich-Wiedererkennen in ein und demselben (politischen oder sonstigen) Projekt ist.“[3][3]

Die Wahlen zum Parteivorstand zeigen, dass dies vielleicht doch möglich ist. Der neu gewählte Vorstand ist der jüngste Vorstand aller Zeiten. Nicht zu vergessen ist auch, dass insbesondere die außerparlamentarische Linke die Wahl Kippings und Riexingers als positives Signal wertet, wie bspw. Eintrittsaufrufe aus der radikalen Linken belegen. Nun beginnt die eigentliche Arbeit, nämlich miteinander politisch zu arbeiten, statt die eigene politische Sozialisation zu verteidigen.

In der Absicht die Ergebnisse des letzten Bundesparteitages als Aufbruchssignal dargestellt zu haben, verbunden mit der Überzeugung, dass jede und jeder sich eine eigene Meinung über die Wahlergebnisse bereits gebildet hat, möchte ich abschließend noch Michel De Certeau zitieren, aus dessen Arbeit „Berichte von Räumen“ ich auch das eingangs zitierte Gedicht von Morgenstern übernommen habe:

„Einerseits wird die Erzählung nicht müde, Grenzen zu ziehen. (...) Im Dunkel ihrer Unbegrenztheit unterscheiden sich die Körper also nur dort, wo die „Berührungen“ ihres Liebes- oder Kriegskampfes auf ihnen eingeschrieben werden. Das Paradox der Grenze: da sie durch Kontakte geschaffen werden (sic!), sind die Differenzpunkte zwischen zwei Körpern auch ihre Berührungspunkte. Verbindendes und Trennendes sind hier eins. Zu welchen von den Körpern, die Kontakt miteinander haben, gehört die Grenze? Weder dem einen noch dem anderen. Heißt das: niemandem?

Das theoretische und praktische Problem der Grenze lautet: zu wem gehört sie?“[4][4]


1 Pierre Bourdieu (1991); „Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum“, in M.Wentz „Stadt-Räume“; Suhrkamp 2001; S.32[5]

2 Martina Löw; Raumsoziologie; Suhrkamp 2001; S.181[6]

3 Pierre Bourdieu; "Sozialer Raum und Feld der Macht" in Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns; Suhrkamp 1998; S.50 [7]

4 Michel De Certeau; „Berichte von Räumen“; in: Die Kunst des Handelns; Merve Verlag 1988; S.233[8]

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