09.09.2013

Jenseits der Zwei-Geschlechter-Ordnung

Clara Morgen – Mein intersexuelles Kind. weiblich. männlich. fließend. Transit, 126 S., Hardcover, 14,80 Euro

Bodo Niendel

Clara Morgens Buch ist ein beeindruckender Bericht der Mutter eines intersexuellen Kindes. Intersexuell. Was ist das? Ja, genau diese Frage stellen sich Eltern, wenn sie direkt nach der Geburt oder nach dem Besuch eines Kindesarztes damit konfrontiert sind, dass ihr Kind weder männlich noch weiblich ist. Das Kind weist beide Geschlechtsmerkmale auf: Ein Kind jenseits unserer Vorstellungen der Geschlechter. Clara Morgen schockierte dies, genauso wie viele andere Eltern. Sie bekam das Kind 1984. Bücher und Filme konnten ihr keine Informationen bieten. Die Ärzte präsentierten ihr nach gängiger Lehrmeinung eine Lösung. Sie rieten zur Operation, um ein weibliches Geschlecht herzustellen, denn dies sei auch im Interesse des Kindes. Die Mutter willigte ein, um „klare Verhältnisse“ zu schaffen. „Dass ich mit dieser Einstellung damals genau die gesellschaftlichen Erwartungen nach Eindeutigkeit im Geschlecht erfüllte, das ist mir erst viel später, nach und nach klar geworden.“ Und man muss hinzufügen, es tut ihr leid. Denn ihrem Kind wurde ein Teil der Geschlechtsorgane irreversibel entnommen und damit auch ein Teil der Sexualität für immer geraubt. Später konfrontierte sie ihr nun erwachsenes Kind mit dem Vorwurf der Kastration. Doch Clara Morgen handelte so, wie es ihre die Ärzte rieten. Wie sollte sie es damals besser gewusst haben?

Clara Morgens Buch ist ein Plädoyer gegen ein Denken in nur zwei Geschlechtern und für die Vielfalt der Geschlechter. Abgerundet wird der Bericht durch kurze prägnante Interviews mit Betroffenen und ExpertInnen. Clara Morgen möchte aufrütteln und Intersexuellen und ihren Angehörigen Mut machen, dass auch ein Leben zwischen den Geschlechtern möglich ist. Dieses Buch erscheint zum richtigen Zeitpunkt und tut Not. Denn die Lehrmeinung, dass es für das Kind besser sei, wenn frühkindlich ein Geschlecht operativ hergestellt wird, ist noch nicht völlig ad acta gelegt. Es gibt weiterhin Ärzte, die diese Operationen durchführen. Betroffene und Expertinnen sind sich heute überwiegend einig, die geschlechtsnormierenden Operationen im Kindesalter müssen unterbunden werden. Das Personenstandsgesetz muss geändert, die Selbsthilfe gefördert werden und in Kitas und Schulen soll die Akzeptanz der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt vermittelt werden. Clara Morgen bringt es auf den Punkt: „Alles, was das starre männlich/weiblich-Schema in den Köpfen der Bevölkerung aufweicht und in Frage stellt, ist wichtig und nötig.“ Dies würde nicht nur Intersexuellen helfen.

Das Buch berührt auch eine aktuelle Diskussion. In Folge des im Februar 2012 veröffentlichten Ethikratsberichts und der ersten Öffentlichen Anhörung im Deutschen Bundestag zum Thema Intersexualität im Juni 2012, ist die skandalöse Menschenrechtsverletzung endlich auch auf die politische Agenda gerückt. Bemerkenswerter Weise bildete sich eine intrafraktionelle Arbeitsgruppe unter Beteiligung aller Fraktionen des deutschen Bundestags. CDU/CSU und FDP verabschiedeten sich früh, sie waren der Meinung, dass eine kleine Änderung im Personenstandsgesetz, die am 1. November diesen Jahres in Kraft tritt, bereits die Probleme lösen würde. DIE LINKE, SPD und Grüne waren anderer Meinung und einigten sich auf einen gemeinsamen Antrag, der unter anderem ein Verbot der geschlechtsnormierenden Operationen vor der Einwilligungsfähigkeit vorsieht, wie es DIE LINKE in den Beratungen stark machte. Allerdings wurde der Antrag von der Fraktionsspitze der Grünen und der SPD gestoppt, da man kurz vor der Bundestagswahl keinesfalls einen gemeinsamen Antrag mit der LINKEN machen wollte. So brachten DIE LINKE, Grüne und SPD eigene Anträge im Juni diesen Jahres in den Bundestag ein, die sich nur in Nuancen unterschieden. Eine parteipolitische Posse.

Bodo Niendel, Referent für Gleichstellungs- und queerpolitik der Bundestagsfraktion DIE LINKE