Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog
Blog: Corona

Die WHO im Kreuzfeuer

Beitrag von Dr. Andreas Wulf, geschrieben am 20.04.2020

Chronisch unterfinanziert ist die Weltgesundheitsorganisation so abhängig von nationalstaatlichen und privatwirtschaftlichen Interessen wie nie zuvor.

Die Ereignisse zur WHO und ihrer Rolle in der Bewältigung der Coronavirus Pandemie eskalieren im Wochentakt: Donald Trump erhebt in der Woche vor Ostern die massivsten Vorwürfe  gegenüber der Weltgesundheitsorganisation WHO, die ein Staatschef je gegen diese UN-Organisation erhoben hat - inmitten einer globalen Gesundheitskrise, die in Umfang und Geschwindigkeit und mit ihren massiven Auswirkungen auf die globalen Wirtschaftsprozesse unvergleichlich ist. Und keine Woche später macht er seine Drohung wahr – die Mitgliedsbeiträge der USA werden ausgesetzt. Die WHO, so Trumps Vorwurf, stehe zu sehr auf Seiten Chinas und habe deshalb zu spät und unzureichend in der sich entwickelnden Gesundheitskrise reagiert.

Auch wenn allen ernsthaften Beobachter*innen der globalen Gesundheitspolitik klar ist, dass der US-amerikanische Präsident vor allem ein „Blame-Game“ spielt, um von seinen eigenen Unzulänglichkeiten während der sich ausbreitenden Covid19-Epidemie abzulenken, so wurden doch in den ersten 100 Tagen der Pandemie tatsächlich strukturelle Defizite und Probleme deutlich, die die auf den ersten Blick starke WHO hat – jene WHO, die 1946 in ihrer Verfassung mit dem Mandat ausgestattet wurde, die „leitende und koordinierende internationale Gesundheitsorganisation“ zu sein. Diese Defizite liegen jedoch ganz woanders, als dort wo Donald Trumps Kritik ansetzt.

Das Recht auf Gesundheit

Zur Gründung der WHO als eigenständiger Teil der Vereinten Nationen gehörte auch der ihr eingeschriebene, umfassende Gesundheitsbegriff: Weit über die klassisch bio-medizinische Vorstellung hinausgehend, versteht die WHO Gesundheit als ein „vollständiges physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden“, auf dessen weitmöglichstes Erreichen alle Menschen einen Rechtsanspruch haben sollten. Dieser Anspruch hält fest, was auch die Menschenrechtserklärung der UN definiert: dass die Menschenrechte unterschiedslos für alle Menschen gelten und dass die politischen Repräsentanten, vornehmlich der Nationalstaaten, verpflichtet sind, diese Rechte zu realisieren.

Die WHO erhielt mit ihrer Gründung auch das Mandat, internationale Verträge zu verhandeln, wie sie es im Jahr 2005 mit den „International Health Regulations“ tat, die im Nachklang der SARS-Pandemie 2003 von den Mitgliedsstaaten der WHO verabschiedet wurden. Darin erhielt die WHO formal eine starke Rolle bei der Koordination internationaler Aktionen im Falle eines „öffentlichen Gesundheitsnotfalls von internationaler Bedeutung“, den der/die WHO Generalsekretär*in in Abstimmung mit den WHO Beratergremien ausrufen kann.

Und die Mitgliedstaaten verpflichten sich darin, nicht nur Informationen über aktuelle Krankheitsausbrüche und ihre Ursachen unverzüglich zu teilen, sondern auch, sich gemeinsam auf solche Ausbrüche vorzubereiten, bei ihrer Bewältigung zusammenzuarbeiten (zum Beispiel neuartige Erreger und ihre Gensequenzen in der wissenschaftlichen Community zu verbreiten, um rasch diagnostische Tests, Medikamente und Impfstoffe zu entwickeln) und sich gegenseitig zu unterstützen - nach den Empfehlungen und technischen Vorgaben der WHO.

Weltgesundheitsbehörde oder politische Theaterbühne?

Das klingt alles nach einer starken Rolle - aber in Wirklichkeit ist die WHO trotz dieses Mandats ein zahnloser Tiger. Tatsächlich steht sie als Organisation trotz mehr als 7.000 MitarbeiterInnen in 150 Länderbüros, sechs Regionalbüros in vier Kontinenten, einem Hauptquartier in Genf und sechs offiziellen Sprachen auf tönernen Füßen. Ihr Jahresbudget ist mit aktuell etwas mehr als 2,5 Mrd. USD kaum größer als das des Genfer Universitätshospitals. Die regelmäßigen Mitgliedsbeiträge der 191 Staaten, die die finanzielle Selbständigkeit der WHO sichern sollen, machen davon wiederum nur 20 Prozent aus, mehr als Dreiviertel sind thematische und projektgebundene Mittel.

Über diese können die Geber wesentlich mehr Einfluss auf die tatsächlichen Arbeitsschwerpunkte der Organisation nehmen, als es die formal alle gleichberechtigten Mitgliedstaaten mit ihren Resolutionen und Appellen in der jährlichen Vollversammlung und dem rotierend besetzten 34-köpfigen Exekutivrat tun. Vor allem die großen Mitgliedstaaten des globalen Nordens bestimmen dabei wesentlich mit. Traditionell sehr engagiert sind die USA, Großbritannien, die EU, Kanada, Japan und die skandinavischen Länder, in letzter Zeit hat sich auch Deutschland immer stärker beteiligt, was gerade in Zeiten der verstärkten Isolationismus in den USA und des Vereinigten Königreiches hoch gelobt wurde.

Darüber hinaus tragen externe Finanzgeber wie private Stiftungen zur Hälfte die freiwilligen Beiträge, und haben so ihren Einfluss auf die WHO vergrößert. So ist bei projektgebundenen Spenden die Bill & Melinda Gates Foundation regelmäßig der zweitwichtigste Geber nach den USA. Dieses Missverhältnis ist nicht neu und immer wieder Anlass zur Debatte. Der Vorwurf, die WHO sei de facto zu einem „Dienstleister“ in Sachen Globaler Gesundheitspolitik von nationalstaatlichen und privatwirtschaftlichen Interessen geworden, wird vor allem von kritischen zivilgesellschaftlichen Initiativen erhoben. Viele, darunter medico und das People’s Health Movement, haben sich 2016 in dem Global Health Hub zusammengeschlossen. Das Netzwerk setzt sich mit Stellungnahmen, Veranstaltungen und einer Lobbyarbeit „von unten“ am Hauptsitz der WHO dafür ein, dass diese die Unabhängigkeit zurückerlangt, die sie zur Bewältigung der globalen Gesundheitskrise braucht. So macht es auch darauf aufmerksam, wofür die WHO von externen Geldgebern Mittel bekommt und wofür nicht.

Einem umfangreich finanzierten Programm zur Ausrottung des Poliovirus stehen beispielsweise völlig unterfinanzierte Programme wie das zur Förderung unentbehrlicher Arzneimittel gegenüber. Zufall ist das nicht: Einem eher technisch umsetzbaren Impfprogramm, dessen Erfolge mit Bildern geretteter Kinder medial gut präsentierbar sind, sind Geldgeber wie die Gates- und die Rotary-Club-Stiftungen eher zugetan als etwa einem Projekt, das die lokale Produktion und Qualifizierung von Generikaalternativen zu patentierten Markenmedikamenten fördert. Und mit den vielen Arbeitsstellen, die in den Länderbüros der WHO für das globale Polio-Impfprogramm finanziert werden, sind auch die Länder des globalen Südens durchaus zufrieden.

Keine Autorität: Nur ein Dienstleister für die Geldgeber?

Doch die Finanzierung ist nicht das einzige Problem. Die WHO hat auch keine Möglichkeiten, ihre Mitgliedsstaaten zur Kooperation zu zwingen - so wie etwa die Welthandelsorganisation bei Verstößen gegen die gemeinsamen Abkommen Zwangsauflagen erheben kann. Zwar ist ihr neuerdings erlaubt, Daten von nicht-staatlichen Quellen zu benutzen, um zu einer eigenständigen Beurteilung der Lage zu kommen, wenn die nationalen Regierungen zum Beispiel aus Furcht vor wirtschaftlichen Folgen Krankheitsausbrüche verheimlichen oder herunterspielen wollen – dies war etwa in Westafrika zu  Beginn der Ebola Epidemie passiert. Aber weiterhin darf die WHO beispielsweise nur auf Einladung der entsprechenden Regierung eine eigene Untersuchungskommission in ihre Mitgliedsländer entsenden – dies lehnte beispielsweise die chinesische Regierung noch im Januar 2020 ab.

Erst durch die „Charmeoffensive“ des Generalsekretärs Dr. Tedros mit einem prominenten Besuch beim chinesischen Premierminister Xi Jinping am 28. Januar hinter verschlossenen Türen und einem anschließenden umfassenden Lob der chinesischen Eindämmungsmaßnahmen konnte sich Mitte Februar ein solches Team auf den Weg machen - und auch deren Report wurde von den chinesischen Behörden nur ohne kritische Zwischentöne autorisiert.

Schon damals wurde die „Umarmungsstrategie“ der WHO kritisiert, die immer wieder betont, dass sie Kritik an einzelnen Mitgliedstaaten nicht öffentlich äußert und mehr Umsetzungschancen für ihre Empfehlungen sowie die unerlässliche Kooperationsbereitschaft der Regierungen durch solche diplomatischen Maßnahmen sieht als durch ein konfrontativeres Verhalten. Das aktuell von Dr. Tedros immer wieder betonte Mantra, die Bekämpfung der Pandemie nicht zu „politisieren“ wird durch diese diplomatischen Gepflogenheiten verständlich. Dass die WHO aber ganz unabhängig von den politischen Konstellationen nur eine „technische, normgebende Funktion“ haben könnte und sich so aus den Konflikten der Mitgliedsstaaten heraus halten könnte, ist bei einem hoch politischen Thema wie der Corona-Pandemie eine falsche Hoffnung.

Stärkung der WHO ist notwendiger denn je

Die WHO könnte in ihrer Selbständigkeit gestärkt werden, wenn die Mitglieder sich gegenseitig zu höheren Beitragszahlungen verpflichten. Die Bereitschaft hierzu ist jedoch nicht nur in den reichen Staaten minimal. Insbesondere die BRICS-Staaten China, Brasilien und Russland müssten bei einer Neujustierung der Mitgliedbeiträge, wie sie die WHO vorgeschlagen hat, kräftig nachlegen. Ein Minimalkompromiss, der bei der Weltgesundheitsversammlung 2018 erreicht wurde, war die erste Erhöhung der Pflichtbeiträge seit vielen Jahren – um gerade einmal drei Prozent. Das ist Kosmetik und schafft keine Abhilfe bei den realen Finanzierungsengpässen.

Wie dramatisch die Unterfinanzierung ist, wurde auch in der aktuellen Covid19 Krise deutlich: ein nach der Ebola Epidemie 2014 eingerichteter Contingency Emergency Fund bei der WHO sollte mit 100 Mio Dollar regelmäßig gefüllt sein, um rasch handlungsfähig zu sein, daraus konnten in der aktuellen Krise aber nur 9 Mio. Dollar mobilisiert werden[1]. Der von der WHO Anfang Februar zusätzlich ins Leben gerufene Covid 19 Solidarity Response Fund mit dem 675 Mio Dollar für die Unterstützung der WHO und der betroffenen Länder im globalen Süden eingesammelt werden sollte, hatte einen Monat später nur 1,2 Mio Dollar eingespielt, Anfang April waren immerhin gut 400 Mio Dollar eingetroffen. Verglichen mit den Milliarden, die von den hauptbetroffenen Ländern in Europa und den USA zur Stützung ihrer eigenen Unternehmen und Bürger*innen mobilisiert wurden, und auch den Versprechen der G20 Staaten, 2 Billionen Dollar bereitzustellen, sind diese Summen vernachlässigbar klein und zeigen das Missverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit einer globalen Solidarität in der Krise.  

Zurück zu den Kernaufgaben

Vor diesem Hintergrund erscheint es am wichtigsten, dass die WHO selbst sich nicht nur als technische und administrative Behörde wahrnimmt, sondern zu ihrer menschenrechtlichen Kernaufgabe zurückfindet, wie es im Mandat ihrer Gründungsdokumente und in der Alma Ata Deklaration verankert ist. Hier ist die Stimme der WHO weiterhin wichtig. Nimmt sie ihre Aufgabe ernst, darf sie Konflikte mit einer Wirtschaftspolitik nicht scheuen, wenn dort Patentregeln verhandelt werden, die den Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten für alle verhindern. Genauso wenig darf sie Dienerin oder Dienstleisterin ihrer Mitgliedsstaaten sein, wenn sie als die „führende und koordinierende Institution der Weltgesundheit“ verstanden werden will. Defizite bei der WHO zu benennen, sie in ihrem Mandat aber gleichzeitig zu verteidigen und zu unterstützen – das ist mehr denn je Aufgabe der Zivilgesellschaft und ein wichtiger Teil der Arbeit von medico international und Partnern im People’s Health Movement und im Geneva Global Health Hub.

Dieser Beitrag wurde bei medico international erstveröfffentlicht. Wir danken für die Erlaubnis der Textübernahme.

[1]www.who.int/emergencies/funding/contingency-fund-for-emergencies

Blog: Corona

Manifest: Planungen für eine Welt nach Corona

geschrieben am 14.04.2020

Eine Gruppe von 170 Wissenschaftler*innen niederländischer Universitäten haben Mitte April ein Manifest mit Vorschlägen für Planungen für eine Welt nach Corona veröffentlicht. Es erschien in der Wochenendausgabe der Zeitung Trouw. Wir halten diese Intervention für ein spannendes Dokument und dokumentieren es daher in deutscher Übersetzung hier in unserem Blog:

Covid-19 hat die Welt erschüttert. Die Pandemie hat bereits unzählige Leben gekostet und zerstört, während viele Menschen hart daran arbeiten, die Kranken zu versorgen und eine weitere Ausbreitung zu verhindern. Der Kampf um die Begrenzung massiver persönlicher und sozialer Einbußen verdient unsere Anerkennung und Unterstützung. Gleichzeitig ist es wichtig, diese Pandemie in einen historischen Kontext zu stellen, um eine Wiederholung vergangener Fehler zu vermeiden.

Die Tatsache, dass COVID-19 jetzt große wirtschaftliche Konsequenzen hatte, ist teilweise auf das vorherrschende Wirtschaftsmodell der letzten dreißig Jahre zurückzuführen, ein neoliberales Modell, das einen ständig wachsenden Verkehr von Gütern und Menschen erfordert, ungeachtet der unzähligen ökologischen Probleme und der damit verbundenen wachsenden Ungleichheit. In den letzten Wochen wurden die Schwächen dieser wachsenden Maschine schmerzhaft aufgedeckt. Wir erleben unter anderem große Unternehmen, die ihre Hände halten, wenn die Nachfrage nach ihren Waren und Dienstleistungen ebenfalls sinkt, prekäre Arbeitsplätze verloren gehen und ein zunehmender Druck auf die Gesundheitssysteme besteht, die ohnehin bereits unter großem Druck standen. Bemerkenswerterweise hat die Regierung diese Berufe als "entscheidend" eingestuft, die vor nicht allzu langer Zeit um Anerkennung und ein besseres Gehalt kämpfen mussten: medizinische Versorgung, Altenpflege, öffentliche Verkehrsmittel und Bildung. Eine weitere Schwäche des gegenwärtigen Systems ist der Zusammenhang zwischen dem gegenwärtigen Wirtschaftsentwicklungsmodell, dem Verlust wichtiger Funktionen von Ökosystemen und der biologischen Vielfalt und dem Potenzial für eine rasche Ausbreitung von Krankheiten wie COVID-19. Die dramatischen Folgen davon könnten sich drastisch verschlechtern, wenn wir nicht zu einer anderen Form der Entwicklung übergehen, die über das „Business as usual“ hinausgeht. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass jährlich 4,2 Millionen Menschen an Luftverschmutzung sterben und dass die Auswirkungen des Klimawandels zwischen 2030 und 2050 voraussichtlich weitere 250.000 Todesfälle pro Jahr verursachen werden. Experten warnen davor, dass im Falle einer weiteren Verschlechterung der Ökosysteme die Wahrscheinlichkeit eines neuen und stärkeren Virusausbruchs steigt, was alles entscheidende Maßnahmen und den raschen Beginn einer Ära nach COVID-19 erfordert. Während die aktuelle Krise auch einige positive Konsequenzen hatte - wie die Zunahme kollektiver Maßnahmen und Solidarität, die Verringerung der Umweltverschmutzung und der Treibhausgasemissionen - werden sich diese Änderungen als vorübergehend und marginal erweisen, wenn keine umfassendere politische und wirtschaftliche Wende erreicht wird. Es ist daher wichtig zu untersuchen, wie die aktuelle Situation in nachhaltigere, fairere, gesündere und belastbarere Formen des Zusammenlebens umgewandelt werden kann. Dieses kurze Manifest, das von 170 in den Niederlanden tätigen Wissenschaftlern unterzeichnet wurde, die sich mit internationalen Entwicklungsfragen befassen, enthält auf der Grundlage vorhandener Forschung und Kenntnisse fünf Vorschläge für die Niederlande nach Corona:

1) Ersetzung des aktuellen Entwicklungsmodells eines generischen BIP-Wachstum durch ein Modell, das zwischen Sektoren unterscheidet, die wachsen dürfen und Investitionen benötigen (sogenannte kritische öffentliche Sektoren, saubere Energie, Bildung und Gesundheitsversorgung), und Sektoren, die aufgrund ihres grundsätzlichen Mangels an Nachhaltigkeit oder ihrer Rolle bei der Förderung eines übermäßigen Verbrauchs radikal schrumpfen müssen (z Öl-, Gas-, Bergbau- und Werbeindustrie).

2) Entwicklung einer Wirtschaftspolitik der Umverteilung, die ein universelles Grundeinkommen bietet und in eine solide Sozialpolitik eingebettet ist; eine erhebliche progressive Steuer auf Einkommen, Gewinn und Vermögen; kürzere Arbeitswochen und Jobsharing; und Anerkennung des inneren Werts der Versorgung mit wesentlichen öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheitsversorgung.

3) Übergang zu einer zirkulären Landwirtschaft, die auf der Erhaltung der biologischen Vielfalt sowie einer nachhaltigen, lokalen Lebensmittelproduktion, einer Verringerung der Fleischproduktion und einer Beschäftigung unter fairen Arbeitsbedingungen basiert.

4) Reduzierung von Konsum und Reisen mit einer radikalen Abnahme luxuriöser und verschwenderischer Formen hin zu notwendigen, nachhaltigen und sinnvollen Formen von Konsum und Reisen.

5) Schuldenerlass, insbesondere gegenüber Arbeitnehmern, Selbständigen und Unternehmern in kleinen und mittleren Unternehmen sowie gegen Entwicklungsländern (von beiden Reichen durch reiche Länder sowie internationale Organisationen wie IWF und Weltbank.
Als Wissenschaftler und engagierte Bürger sind wir davon überzeugt, dass diese Schritte dazu beitragen werden nachhaltigere und gleichberechtigte Gesellschaften; Gesellschaften, die widerstandsfähiger sind
gegen die Schocks und möglichen Pandemien, die uns noch erwarten.

Aus unserer Sicht ist die Frage nicht, ob wir diese Schritte unternehmen sollen, sondern wie wir das tun werden. Wir können die Tatsache nicht ignorieren, dass diese Krise einige Menschen stärker als andere trifft. Aber wir können den am stärksten betroffenen Gruppen gerecht werden, indem wir politische Reformen durchführen, die sicherstellen, dass zukünftige Krisen diese Gruppen - und uns alle - weniger wahrscheinlich treffen und zu weniger Angst führen oder möglicherweise sogar die nächste Krise verhindern wird. Wir
Fordern Sie Politiker, Entscheidungsträger und unsere Mitbürger auf, diesen Übergang zu unterstützen zu erreichen.

Blog: Corona

Pandemie und Globalisierung

Beitrag von Dirk Schuck, geschrieben am 14.04.2020

Die gegenwärtige Situation macht vieles sichtbarer. Marx sprach im 19. Jahrhundert dem Kapitalismus eine verallgemeinernde Kraft darin zu, dass er die Universalität der Warenform über die Welt legte. Menschen aus traditional vollkommen unterschiedlich gewachsenen Gesellschaften fingen durch das Kapitalverhältnis plötzlich an, auf gleichförmige Art und Weise zu denken und zu fühlen. Die globale Pandemie zeigt uns im Muster der Gleichheiten und Unterschiede der Reaktionsweisen der nationalen Regierungen, welche Gesellschaften auf der Welt einander – mit Blick auf die institutionelle Organisation ihrer sozialen Infrastruktur – nahe stehen, und welche weiter voneinander entfernt sind.

Dirk Schuck

Diese erstaunliche Sichtbarwerdung gilt sowohl mit Hinblick auf die ökonomische, als auch die politische Ordnung dieser Gesellschaften. Deren Überschneidungsmuster lassen dabei variante Kombinationen zu. Generell gilt, dass wir uns in Deutschland im Bereich der Luxusquarantäne befinden. Sowohl ökonomisch, als auch politisch ist die hiesige Quarantäne material erträglich und politisch liberal organisiert. Man darf das Haus verlassen und kann weiterhin unproblematisch konsumieren. In Jordanien etwa ist in den armen Bevölkerungsquartieren das klassische Quarantänemodell einer von der Armee organisierten Essensversorgung am Haus, und ein Verbot des Verlassens des Hauses unter schwerer Strafandrohung, das Foucault im mittelalterlichen Umgang mit der Pest beschreibt, in Kraft.

Doch auch ökonomisch besser gestellte Staaten wie China gehen – im Gegensatz zu den Staaten des Westens – strikt autoritär in den Pandemie-Maßnahmen vor. Dies mag hier auch damit zusammenhängen, dass es keine gewachsene liberale Regierungstradition gibt, die darauf vertrauen lassen kann, dass die Individuen die Regeln schon befolgen, die man ihnen per Dekret auferlegt. Als ein bemerkenswertes Indiz für das Vertrauen der Bevölkerung in die politische Ordnung kann jetzt schon gelten, wie durchgängig die „Selbstquarantäne“ in den Staaten des Westens befolgt wird. Zum Vergleich: im Iran wurde dagegen selbst zu dem Zeitpunkt als ein inzwischen verstorbener ranghoher Regierungsvertreter schwerkrank im Fernsehen auftrat, noch öffentlich gemutmaßt, ob es sich bei diesem Aufritt um eine bewusste Inszenierung handelte – mit dem absurden Zweck (nach dessen mutmaßlich zukünftig schneller Genesung) die Gefahren der Situation am Ende herunterzuspielen.

Auch zwischenstaatliche Verhältnisse erfahren einen Schub verstärkter Sichtbarwerdung. So wirkt das deutsche mediale Ressentiment über den Brexit mit einem auf der Intensivstation liegenden britischen Premier vollends zynisch. Der Handelskrieg zwischen den USA und China nimmt zeitweilig den Charakter eines ökonomischen Quasi-Stabilisierungspakts an, mit dem sich die beiden Giganten gegenseitig durch Handelsversprechen absichern. Die übliche deutsche mediale Reaktion auf das finanzpolitische Anliegen von Italien, Spanien und Griechenland, gemeinsame Staatsanleihen einzuführen, erlaubt die sonst gängige rassistische Abwehrhetorik gegen verschwenderische Südeuropäer in diesem Moment kaum noch.

Gleichzeitig darf man sich nicht der politischen Naivität hingeben, dass dies bedeuten wird, dass nun humanistische Argumente, weil sie die einzig noch sinnvollen sind, sich diskursiv durchsetzen müssen. Die realistische Erfahrung lehrt, dass dem nicht so ist. Vielmehr muss dieser Realismus “ausgetrickst” werden, in dem es nun deutlich zu machen gilt, dass bestimmte emanzipatorische Anliegen auch realpolitisch Sinn ergeben. Selbst wenn eine globale Gesundheitsversorgung wohl noch in weiter Ferne ist, lässt sich dennoch darauf verweisen, dass es auch im privatwirtschaftlichen Interesse liegt, für eine virale Pandemie weltweit gewappnet zu sein. Ebenso lässt sich verdeutlichen, dass auch wenn Menschen notgedrungen dazu tendieren, die ihnen Nahestehenden als erstes schützen zu wollen, dieser Schutz in einer globalisierten Welt wie der unseren nur noch dann funktionieren kann, wenn er die Anderen mit einschließt. Dass der öffentliche Blick sich von diesen “Anderen” in den kommenden Monaten zunehmend abwendet, wenn die Pandemie hier überstanden sein wird, darf nicht geschehen. Eine sinnvolle Anstrengung kann darauf zielen, die globale Vernetzung, die in ihrer weitreichenden Fortgeschrittenheit uns jetzt gerade schlagartig bewusst wird, auch darüber hinaus sichtbar bleiben zu lassen – um in der Zukunft nicht nur besser über die Globalisierung sprechen, sondern auf sie bezogen handeln zu können.      

Dirk Schuck ist Politikwissenschaftler und Soziologe.

Blog: Corona

Von Ebola lernen

geschrieben am 28.03.2020

Globales Handeln ist in der Pandemie wichtiger denn je. Das zeigt der Umgang mit einer Epidemie, von der wir auf den ersten Blick gar nicht betroffen waren: Ebola.

Einen 122 Milliarden Euro-Rettungsschirm hat die Bundesregierung gestern auf den Weg gebracht. Solo-Selbstständige, Kleingewerbe und Miniunternehmen sollen entlastet werden, Unterstützung in der Grundsicherung wurde ebenso zugesagt. „Beispiellos“ und „einzigartig“ heißt es dazu einhellig in der Presse, vollkommen zurecht. Weniger Beachtung fand ein weiterer Rettungsversuch: Fast zeitgleich zur Bundestagsdebatte wurde bekannt dass die UNO 2 Milliarden USD als „global humanitarian response to fight COVID-19 across South America, Africa, the Middle East and Asia“ bereit gestellt hat. Die Notmittel für Niedersachsen sind höher.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es ist absolut begrüßenswert, dass es in der gegenwärtigen Krise einzigartige politische Interventionen gibt und sie werden hoffentlich dabei helfen, die Angst vor dem, was kommt etwas abmildern. Der Virus hat Menschen auf der gesamten Welt die Verletzbarkeit des Körpers offenbart und die reichen Länder der Welt sind massiv getroffen. Dennoch: Die Bitte, den „Rest der Welt“ nicht zu vergessen, darf heute nicht ungehört verhallen oder gar Missmut und Wut hervorrufen. Die nationalen und europäischen Anstrengungen sind beispielhaft, aber sie dürfen nicht auf Kosten globaler Strategien gehen. Sie zeigen an, welchen Umfang ein globaler Rettungsschirm haben müsste, von dem wir derzeit noch weit entfernt sind.

Globale Verantwortung, die Verantwortung für die sich jetzt verschärfenden Folgen der Globalisierung, dürfen im national und europäisch verengten Blick auf den Corona-Ausnahmezustand nicht vergessen werden. Die Pandemie und eine weltweite Wirtschaftskrise werden die globalen Ungleichheiten vertiefen, bestehende soziale und ökologische Krisen verschärfen und die fehlenden Zugänge zu Gesundheitsversorgung offenbaren. Die Gefahr ist groß, dass die armen Regionen dieser Welt jetzt erneut alleine gelassen werden, vielleicht mehr denn je. 

Ebola: Von Afrika lernen

Dabei geht es um mehr als einseitige Hilfe. Ein globaler Blick könnte nicht erst heute von den Erfahrungen und dem Wissen profitieren, das im Umgang mit Epidemien besteht, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent. Und aus ihm könnten die naheliegenden Konsequenzen gezogen werden. Wäre die Lehre aus Ebola beherzigt worden, hätten wir heute eine ganz andere Ausgangslage. Die Lehre aus Ebola? Gesundheitssysteme gehören in öffentlicher Hand, zugänglich für alle Menschen und unabhängig von ihrem Einkommen. Das ist der einzig zuverlässige und nachhaltige Schutz gegen die Epidemien der Zukunft. 

2014 infizierten sich während der Ebola-Epidemie in Westafrika 20.000 Menschen mit dem Virus, fast die Hälfte starb daran. In Westafrika fand es damals die besten Voraussetzungen, sich zu verbreiten. Die Gesundheitssysteme der drei Epizentren Guinea, Liberia und Sierra Leone gehören zu den schwächsten weltweit. Ebola fegte auf unerbittliche Weise über diese Länder hinweg. Aufgrund der Epidemie verschlechterte sich die Gesundheitsversorgung insgesamt – in der Folge verdoppelte sich die Zahl der Malaria-Toten. Auch die Müttersterblichkeit stieg wieder an, ebenso die Neuinfektionen mit Masern.

Die Welt – und das war die eigentliche Seuche – schaute lange tatenlos zu, die Abschottungspolitik, die folgte, war so radikal, dass die Exportwirtschaft komplett zum Erliegen kam. Noch lange nach der Epidemie litten die Menschen unter den Folgen. Die Hilfe war zunächst so wenig eingebunden in die Strukturen vor Ort, dass das Misstrauen gegenüber den Helfer*innen in weißer Schutzkleidung massiv war. 

Wirksam werden konnte die lebensrettende Aufklärungsarbeit erst, als eine konsequente Einbindung aller gesellschaftlichen Kräfte erfolgte. „Do or die“ lautete die lakonische Antwort der Community-Worker auf meine damalige Frage, warum sie für die Aufklärungsarbeit täglich ihr Leben riskierten, für die sie oft nur kleinste Aufwandsentschädigungen erhielten. Sie gingen monatelang von Tür zu Tür, nie wissend, was sie dahinter erwartete, hörten zu, nahmen Anteil.

„Social distancing“ zu Zeiten von Ebola

Auch im Kleinen, Alltäglichen gab es unschätzbare Erfahrungen, die heute wieder wichtig werden. Viele erzählten damals, dass es ihnen unerträglich sei, ihre verstorbenen Angehörigen ohne Umarmungen und Liebkosungen zu verabschieden, weil die Toten so keine Ruhe finden könnten. Sie nahmen lieber ihren eigenen Tod in Kauf als das zuzulassen. Daraufhin entwickelten Imame gemeinsam mit christlichen Predigern und traditionellen Heilern alternative Beerdigungsrituale, damit die Angehörigen ihre verstorbenen Liebsten in Frieden gehen lassen konnten, ohne ihnen körperlich zu nah zu sein.

Von dieser und unzähligen anderen Geschichten könnten wir heute lernen: von den Erfahrungen der Menschen aus Sierra Leone oder Liberia. Vielleicht kann es uns helfen, wenn wir Angehörige und Freund*innen nicht in Altersheimen besuchen dürfen oder Einkaufstüten nur vor der Tür abstellen. Die Menschen in Westafrika erlebten ihr Handeln als Selbstermächtigung und haben zugleich die Abwesenheit des Staates und das Versagen der internationalen Staatenwelt beim Aufbau einer Infrastruktur im Gesundheits-und Bildungsbereich am eigenen Körper gespürt - und tausendfach mit dem Leben bezahlt.

Der Einsatz für Globale Gesundheit ist der beste Rettungsschirm

Stattdessen erlebten sie, wie weiterhin die Reichtümer ihrer Länder – Bauxit, Coltan, Kobalt und viele mehr – in den globalen Norden exportiert wurden, ohne dass Mittel zum Aufbau der sozialen Infrastruktur bereitgestellt wurden. Nach Ebola wurde immerhin ein Impfstoff entwickelt, aber die Einsicht in die Notwendigkeit von Gesundheitssystemen verschwand mit der Eindämmung des Virus. Heute gibt es im ganzen westafrikanischen Land Sierra Leone immer noch weniger Ärzt*innen als in der Frankfurter Uniklinik. Der nächste Ausbruch von Ebola in der Demokratischen Republik Kongo im Jahr 2018 wurde kaum zur Kenntnis genommen, weil er erst gar nicht als Gefahr für den Rest der Welt wahrgenommen wurde.

Die profitorientierte Privatisierung des Gesundheitssektors weltweit schafft die Bedingungen nicht, unter denen mit den aktuellen und kommenden Herausforderungen umgegangen werden kann. Im Gegenteil: Sie hat weltweit zu einer verheerenden Unterfinanzierung des Gesundheitswesens geführt, Die Weltbank drängt derzeit die Länder im globalen Süden dazu, die Probleme im Gesundheitsbereich mittels privater Finanzierung zu lösen und Notprogramme auf Kreditbasis aufzulegen. Das weist in eine völlig falsche Richtung. Benötigt wird vielmehr ein sofortiger Schuldenerlass für die ärmsten Länder und verpflichtende Finanzierungsmechanismen auf internationaler Ebene für die globale Gesundheit. Damit nach Corona nicht wieder alles Offenkundige vergessen wird und man sehenden Auges in die nächste absehbare Katastrophe gerät.

Dieser Beitrag wurde bei medico international erstveröfffentlicht. Wir danken für die Erlaubnis der Textübernahme.

Vernaldi fehlt

geschrieben am 10.03.2020

Matthias Vernaldi ist in der Nacht auf Montag gestorben. Vor acht Jahren schrieb er in einem kurzen Text im *prager frühling davon wie der Tod bei ihm schon einmal kurz im Raum stand .... und warum er damals unbedingt weiterleben wollte. Schwere Krankenheiten und medizinische Notfälle gab es danach noch viele. Aber, dass er, der lebensfrohe Stilist, der unangepasste Geist und kluge Hedonist wirklich einmal sterben könnte, daran haben wohl höchstens seine Assistenten ab und zu mal gedacht. Ihr Chef führte ein unwahrscheinliches, unwahrscheinlich selbstbestimmtes Leben. Und das schon ziemich lange.

Ihm sei die Gnade der nicht zu späten Geburt zu Teil geworden, sagt er einmal dazu auf einer Demo gegen den Euthanasiebefürworter Peter Singer.

Wäre er 20 Jahre früher da gewesen, hätte ihn der nationalsozialistische Massenmord an Kranken und Behinderten gar nicht erst ins schulfähige Alter kommen lassen. 30 Jahre später hätte pränatale Diagnostik seine Mutter vielleicht davon überzeugt, ihn gar nicht erst zu einem autarken Organismus werden zu lassen.

Politik war nicht sein Leben, dazu war zu gedanken- und humorvoll. Aber er war zeitlebens politisch. Nicht zuletzt, weil für ihn, der kein Glied seines Körpers selbst bewegen konnte, politische Entscheidungen ganz konkret über Autonomie und Überleben entschieden.[1]

In der DDR war er Kommunarde, um nicht im Heim zu landen. Nach der Wende baute er einen Assistenzverein auf, um in seiner eigenen Wohnung leben zu können. Um nicht auf Station zu müssen, demonstrierte er gegen Jens Spahns unsägliches Intensivpflegeschwächungsgesetz. All das tat er, um nach Lust und Laune schreiben, trinken, vögeln und kochen zu können. Kurz, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Und das tat er. Bis zum Schluss, bis Sonntag. Mach's gut Matthias, Du fehlst.

 

[1] https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/923.das-prinzip-almosen.html

Matthias Vernaldi auf einer Lesung der von ihm herausgegebenen Zeitschrift mondkalb

Die queer-politische Agenda erweitern!

Beitrag von Daniel Bache, geschrieben am 17.02.2020

Queere Infrastruktur gerät auch in den westeuropäischen Metropolen unter Druck. In Paris ist Traditionsbuchhandlung »Les Mots à la Bouche« durch steigende Mieten gefährdet und auch in Berlin tobt die Auseinandersetzung um queere Frei- und Lebensräume. Clubs wie die Griessmuehle oder der KitKat Club kämpfen gegen Verdrängung, sexpositive Räume und Darkrooms wie der Quälgeist e.V. berichten von Schikanen durch die Behörden. In Mitte entsteht derzeit nach langen Querelen und in veränderter Form ein lesbisches Wohnprojekt, um das sich der Verband »Rad und Tat e.V. jahrelang bemüht hat.

Von Verdrängung bedroht: »Les mots à la bouche : librairie LGBT« Steigende Mieten werden auch in Berlin zunehmend zum Problem für Szeneorte.

Explodierende (Gewerbe-)Mieten, rein profitorientierte Immobilienentwicklung, strenge Auflagen seitens der Behörden, das Ausbleiben öffentlicher Förderungen oder höllische Nachbar*innen befeuern die Verödung ganzer Stadtviertel. Institutionen queerer Selbstorganisation wie Vereine, Initiativen, Clubs, Bars, Cafés, Buchhandlungen und Galerien werden verdrängt oder müssen ganz schließen.

Umgekehrt im ländlichen Raum: Statt Wohnungsnot und Mietenproblematik gibt es hier Abwanderungsdruck für junge Menschen, denen in der Provinz Perspektiven fehlen und vorhandener Raum verwehrt wird.

Linke Politik steht vor der Herausforderung, allen Menschen ein anständiges Leben in ihrer (Wahl-)Heimat zu ermöglichen. Dazu gehört die soziale und kulturelle Vielfalt entweder zu erhalten oder weiterzuentwickeln, die Menschen vor Ort schaffen. Das heißt nicht, dass Städte und Regionen sich nicht verändern dürfen. Kreativität, technologische Neuerungen, Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur oder von kollektiven Interessen und Bedürfnissen innerhalb einer Gesellschaft prägen und verändern das Gesicht von unterschiedlichen Räumen des Zusammenlebens notwendigerweise. Die Grenze ist dann überschritten, wenn Kapital auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten die Entwicklung unserer Lebensräume an gesellschaftliche Realitäten vorbeidiktiert oder die Politik ihren Aufgaben, u.a. das Schaffen gleichwertiger Lebensverhältnisse vernachlässigt.

Queer-Politik ist mehr als Bürger*innenrechts-Politik

Es ist trivial festzustellen, dass die soziale Frage nichts an Aktualität eingebüßt hat und Queerpolitik über bloße Bürger*innenrechtsfragen hinausgehen muss. Das bedeutet z.B., dass staatliche Eingriffe in den Mietenmarkt oder umfangreiche Investitionen in eine behutsame, weil sozial und ökologisch verträgliche Stadtentwicklung Teil einer queerpolitischen Agenda sein sollten. Und es bedeutet auch, dass die Enteignung großer Immobilienkonzerne oder die Umwandlung leerstehender Immobilien in Wohn- oder Kulturprojekte durch Besetzungen ein bedeutender Teil im Kampf um queere Frei- und Lebensräume sein können.

Politische Parteien müssen gemeinsam mit Trägern und Interessenvertretungen wie der Berliner Clubcommission zusammenarbeiten, um Lösungen gegen Verdrängung oder fehlenden Raum zu finden. Politischer Spielraum muss genutzt werden, wenn Vermieter*innen und Investor*innen Lebensräume zerstören.

Kaum ein Schwein will in Quartieren leben oder arbeiten, die aus einer Monokultur von Co-Working-Spaces, Starbucks-Filialen oder Biomarkt bestehen. Übrigens genauso wenig wie in Landstrichen, in denen noch der letzte Jugendclub oder die Skateboard-Halle wegrationalisiert wurde und in der ein Konzert- oder Party-Ausflug in die nächstgrößere Stadt zum planerischen Drahtseilakt wird, weil der Schienenverkehr zwischen 18 Uhr abends und 5 Uhr morgens praktisch stillgelegt wird.

Berlin macht schon mal den Anfang …

Auf dem Land sieht man nicht überall den Regenbogen.

Linke Reformpolitik in Berlin zeigt, dass es eine Alternative zur bloßen Verwaltung des Niedergangs gibt. Hier entsteht mit dem Elberskirchen-Hirschfeld-Haus ein Großprojekt für queere Kultur und Wissenschaft. Hier legt der Senat einen Schallschutzfonds für bedrohte Clubs auf, nach dem sich auch schon die Stadtregierungen von Barcelona oder Vilnius erkundigen. Der Mietendeckel wird, neben allen anderen auch die Teile der Community entlasten, die strukturell besonders von Armut und Lohndumping gefährdet sind, etwa Trans-Personen. Und auch der geringe Spielraum der Stadt hinsichtlich der Höhe von Gewerbemieten soll genutzt werden. Dabei geht es nicht darum, die Gesellschaft mit der anhaltenden Brutalität der kapitalistischen Verwertungslogik zu versöhnen. Es geht darum, dass wir Handlungsoptionen auch im Falschen nicht verstreichen lassen, wenn sie das Hier und Jetzt ein bisschen erträglicher machen. Auch im Kapitalismus geht schlimmer immer.

Das alles reicht natürlich nicht. Eine Gesellschaft lässt sich nicht allein aus Parlamenten heraus organisieren. Auch linke Parteien in Regierungsverantwortung sind darauf angewiesen, dass wir als Community mit den Hufen scharren und renitenter werden. Nicht immer erst dann, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist oder gerade mal Haushaltsverhandlungen anstehen. Sondern jetzt, und vermutlich auch noch eine ganze Weile darüber hinaus. Die diesjährige Pride Season wirft ihre Schatten voraus und sie sollte stärker als bisher ein Kampf um queere Frei- und Lebensräume werden.

Danie Bache ist Sprecher* der Bundesarbeitsgemeinschaft DIE LINKE.queer und twittert unter @teufelsmuehle.

»Das Meer überträgt unsere Schwierigkeiten«

geschrieben am 11.02.2020

prager frühling (pf): Es gibt Gegenden auf der Welt, in denen sich der menschengemachte Klimawandel nicht mehr so einfach ignorieren lässt. Im Südpazifik sind ganze Inselketten, die im Schnitt nur 1,8 Meter über dem Meeresspiegel liegen, vom Untergang bedroht. Davon kriegt man hierzulande nicht so viel mit. Viviana und Mark Uriona, ihr habt lange zu diesem Thema gearbeitet, was genau habt ihr gemacht?

Vivi Uriona: Wir waren ein Jahr im zentralen Pazifik, vor allem auf Majuro, das zu den Marshall-Islands gehört. Dort haben wir einen partizipativen Dokumentarfilm gedreht. Wenn Leute üblicherweise eine Doku in der Region machen, sind sie maximal zwei Wochen da und fliegen wieder weg. Wir haben das anders gemacht, sind nicht einfach mit einer fertigen Geschichte im Kopf hingefahren. Wir haben zunächst mit der örtlichen NGO Jo-Jikum eine offene Veranstaltung für alle, die am Film mitarbeiten wollten, organisiert. Letztendlich kristallisierte sich aus ganz vielen Leuten, eine feste Gruppe heraus, die dann den Film mit uns gemacht hat. Das waren Leute aus allen gesellschaftlichen Schichten und mit ganz unterschiedlichen Bildungshintergründen.

Mark Uriona: Somit ist das auch nicht „unser Film“, sondern der Film von am Ende fast 80 Leuten. Partizipativer Filmdreh heißt, dass man sich in einen Austausch begibt. Die Leute lassen uns oftmals sehr nah an sich und ihre Lebenswelt heran. Wir lernen Hintergründe und kulturelle Besonderheiten kennen. Im Austausch geben wir ihnen auch etwas: Wir bringen ihnen bei, wie man Filme macht. Alle beteiligten Personen standen hinter der Kamera, haben Recherche gemacht und auch die grundsätzlichen dramaturgischen Entscheidungen mit uns gemeinsam getroffen. Es muss an dieser Stelle gesagt werden, ohne unsere großartige Produzentin, Maria Kling von Studio Kalliope, wäre das so nicht möglich gewesen.

pf: Der Untertitel des Films lautet: „We are not drowning, we are fighting.“ — Wir ertrinken nicht, wir kämpfen. Wie sehen diese Kämpfe auf den Marshall Inseln aus?

Vivi: Die sind sehr subtil und auf der anderen Seite sehr präsent. Dort ist eben nicht nur Thema wie menschengemachte Klimaerwärmung via Social Media und über Kongresse auf die Tagesordnung gebracht werden kann. Es gibt ganz viele alltagspraktische Dinge, die damit zusammenhängen. Wie geht man zum Beispiel mit Überschwemmungen um? Wie kann man bestimmte Strukturen auf der Insel so verändern, dass das Ansteigen des Meeresspiegels sich weniger desaströs auswirkt? Wie kann man den Verlust der eigenen Heimat und des eigenen Ortes verhindern?

Da geht es dann um Veränderungen der Baustruktur, um den Umgang mit der Versalzung des Grundwassers. Trinkwasser kann man vielleicht noch kaufen, aber viele Pflanzen lassen sich dann eben nicht mehr anbauen.

Mark: Kämpfen meint ja nicht das Kämpfen mit Waffen. Es geht darum, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Die pazifischen Staaten haben, obwohl sie dünn besiedelt sind, viel Aufmerksamkeit für ihre ganz klare Argumentation erzeugt. Sie sagen: Wir sind die vorderste Front des Klimawandels. Dinge, die euch vielleicht erst verzögert treffen, treffen uns schon heute. Wenn ihr euch vorstellen wollt, was mit euren Küstenregionen und in den tief liegenden Bereichen eurer Länder passiert, dann können wir euch das sagen. Wir sehen es vor unserer Haustür. Das ist der Kampf für Bewusstsein und für die Notwendigkeit, das Verhalten zu ändern. Wenn man andere ermahnt, muss man aber auch vorlegen. Und wenn man sich die Wirtschaftsleistung dieser Länder anschaut und die Möglichkeiten, die sie haben, dann geschieht dort sehr viel. Da wird darüber nachgedacht, dass Elektrifizierung grundsätzlich nur mit Solarenergie erfolgen soll. Das alte Kraftwerk auf Majuro soll ersetzt werden und mit nachwachsenden Rohstoffen betrieben werden. Es gibt Fährprojekte, wo Segel eingesetzt oder umgebaute Dieselmotoren mit nachwachsenden Rohstoffen betrieben werden. Auf dem winzigen Majuro gibt es sogar Ladestationen für Elektroautos.

Die machen zwar nur Nullkommanull-irgendwas der weltweiten Emissionen aus. Aber sie beweisen, dass es einen anderen Weg gibt. Die Botschaft an die Industrienationen ist: „Wenn wir das können, dann müsst ihr das schon lange können.“

pf: Noch mal ein Stück zurück. Es klang schon an: Das Meer prägt das Leben auf den Inseln, ist Lebensgrundlage und wird nun zu einer Gefahr. An welchen Stellen zeigt sich das im Alltag?

Mark: Wir konnten das selbst in der kurzen Zeit, wir waren ja nur knapp ein Jahr auf Majuro, beobachten. Das darf man sich nicht so vorstellen, dass das Wasser quasi einmal über die Insel schwappt und das Land mitnimmt. Das passiert, wenn ein besonders starker Sturm wütet. Aber in der Regel läuft es anders ab. Der Bewuchs der Insel hält das Land fest. Wo Pflanzen stehen, kann das Wasser ruhig einmal überschwappen. Es läuft dann eben irgendwann wieder zurück. Wenn das Land aber häufiger überflutet wird und das tut es eben, dann versalzt die sogenannte Grundwasserlinse. Auch auf den Inseln gibt es Grundwasser. Das liegt in Kammern und wenn zu oft Salzwasser reinschwappt, dann versalzt es. Die Pflanzen können nicht mit Salzwasser umgehen, sterben und halten das Land nicht mehr fest. Und das kann man sehen, wie ein ganzer Landstrich stirbt. Erst werden die Pflanzen grau, die Palmen fallen um und dann ist da am Ende eine Kieslandschaft. Wenn dann der nächste Sturm kommt, dann nimmt er das Land mit.

Das kann man auch im Film sehen. Es gibt eine Szene am Anfang, wo eine Flutschutzmauer gebaut wird und dahinter sieht man einen Baum. Der Plan war es, diesen Baum, der aus kulturellen Gründen eine große Rolle spielt, zu beschützen. Dann sieht man Arbeiter, die eine Verschalung errichten, in die später Beton gegossen wird. Wer genau guckt, sieht später links im Bild diesen wunderschönen großen Baum, der da schon zu kippen beginnt. Die Wurzeln sind freigelegt.

Vivi: Es ist ein schleichender Prozess, der gar nicht mehr so schleichend ist. Wir hatten den Gedanken: Wie können wir bildlich einen Prozess, der eigentlich sehr viel Zeit in Anspruch nimmt, festhalten? Und dann stellten wir fest, dass der gar nicht mehr so langsam abläuft. Wir waren gerade angekommen und sahen an einer Stelle Palmen stehen. Dann fahren wir noch mal ein paar Wochen später an der Stelle vorbei und dann sind sie schon am Kippen.

Ich weiß noch, wie wir uns mit Mahendra Kumar, einem unserer Protagonisten, unterhalten haben: Wie können wir Klimawandel in Bildern festhalten? Er sagt das auch im Film: Es geht nicht darum, dass etwas geschieht, das sich etwas verändert, sondern es geht darum in welcher Zeitspanne.

Mark: Das ist ein Umschlagen von Quantität in Qualität. Manche sagen: „Das Klima hat sich immer verändert.“ Stimmt. Es ist nur nicht der entscheidende Punkt. Denn es tut es jetzt derartig schnell, dass den Variablen drumherum die Möglichkeit fehlt, sich anzupassen. Der Klimawandel läuft zu schnell ab, als dass Flora und Fauna mithalten und sich die menschliche Zivilisation anpassen könnte. Das trifft auch auf die kleine Palme zu, die am Strand steht und ins Meer kippt. Das geschah früher auch, nicht normal ist, dass es in einer Geschwindigkeit geschieht, dass gar nichts nachwachsen kann und nicht bloß die Reihen gelichtet werden, damit die nächsten Pflanzen hochkommen. Wenn man das Land mit einer Drohne überfliegt, kann man die ganzen Stellen sehen, die früher mal Land waren. Man kann Teile der Vegetation und die Strukturen im flachen Wasser sehen. All das passierte in einem Zeitraum von nicht mal zehn Jahren und beschleunigt sich. Es ist schockierend.

pf: Zu welchen Konflikten führt es zwischen Menschen die unterschiedlich schwer davon betroffen sind, dass das Land unter den Füßen der Leute verschwindet?

Vivi: Das ist eine spannende Frage, die allerdings von einem Unwissen über die dortige Gesellschaft, geprägt ist. Diese Gesellschaft ist wahnsinnig friedlich. Solche Konflikte haben wir weder persönlich, noch als Erzählung erlebt. Die Leute sind sehr verbunden miteinander, so dass das keine Rolle spielt. Wenn Du auf Majuro lebst, könntest du sagen: Ich habe den Jackpot gewonnen. Besser kann es mir nicht gehen. Auf der Hauptinsel der Republik geht es sehr modern zu. Es gibt ein Krankenhaus und man kann alles kaufen. Das ist auf den kleinen Inseln anders. Und doch gibt es eine Verbundenheit: Alle gehören zusammen, alle helfen sich und alle unterstützen sich — nicht nur in schweren Situationen, sondern auch, um Sachen voranzutreiben. Soetwas habe ich persönlich noch nie erlebt. Das geht auch über eine soziale Bewegung hinaus, das ist die Art, wie diese Gesellschaft funktioniert. Dabei ist diese wahnsinnig durchmischt. Man kann nicht sagen, das seien nur die Marshallesen, sondern alle Leute, die vor Ort sind, fühlen sich verbunden. Es dauert nicht lange, wenn du angekommen bist, dass du dich ebenfalls verbunden fühlen musst, weil das die Art und Weise ist, wie die Leute, miteinander umgehen.

Mark: Es gab einfach keinen Anlass, Fragen zu stellen, wie: „Bringt euch die Klimaerwärmung gegeneinander auf? Streitet ihr vielleicht um ein Stück Land jetzt heftiger, weil das Land an einer anderen Stelle verschwunden ist?“ Hätten wir dergleichen beobachtet, dann hätten wir natürlich versucht, auch das zu ergründen. Aber es ist, das soll jetzt wirklich nicht kitschig klingen, eine unglaubliche friedliche Gesellschaft. Der Umgang mit der nahenden Katastrophe ist erst mal komplett unaggressiv — sogar gegenüber jenen, die sie letztendlich verursachen. Das Meer ja wie ein Transmissionsriemen zwischen den westlichen Industriegesellschaften und den Gesellschaften dort. Das Meer überträgt unsere Schwierigkeiten auf sie. Trotzdem gibt es da keine böse Haltung. Es gibt ein allgemein sehr respektvolles und freundliches Umgehen der Menschen miteinander. Aus dem Grund ist auch diese drohende Katastrophe nichts, was sie gegeneinander aufbringt. Ich glaube für uns ist das normal, wir kennen sozusagen den Netflix-Katastrophenfilm. Wenn das normale Gefüge der Welt gestört wird, dann bewaffnen sich alle und kämpfen um die letzte Konservendose. Dort kämpfen Leute eben nicht um die letzte Konservendose, sondern teilen sie.

Für uns hat es das alles noch viel dramatischer gemacht. Als wir das so langsam verstanden, ja was für eine Schande ist das, dass ausgerechnet diese Gesellschaften am Stärksten bedroht sind. Die sollten Seminare oder Workshops für den Rest der Welt geben, wie man miteinander leben kann.

pf: Wie hat sich eure Perspektive auf die Debatten hierzulande dadurch verändert?

Mark: Also, das ist schwierig. Der Restmarxist in mir hat natürlich versucht, das zu analysieren. Ich sehe, das ist eben keine bürgerliche Gesellschaft, nicht nur nicht im kulturellen Sinne, sondern auch in sozioökonomischer Hinsicht nicht. Es ist eine eigenartige Mischform aus einer urgesellschaftlichen Gesellschaft, die relativ spät kolonialisiert wurde und damit einige technologische Bereicherungen erfährt, in der aber ganz stark der Familienverband und eine starke Beziehung zur Natur wirkt. In der Gesellschaft ist es so, wenn irgendwer in der Familie zu Geld kommt — und Familie ist da fast ein Synonym für Kleinstadt — dann zuckt der oder die mit den Achseln. Man weiß dann schon, wo das Geld bleibt: bei allen anderen. Es ist eine Gesellschaft mit einer großen Gleichheit. Die Geschichte kann zynisch sein: Diese Welt ist weitaus besser auf den katastrophalen Einschnitt vorbereitet als unsere vereinzelnde leistungsoptimierende Konsumentengesellschaft. Kann man davon etwas übertragen? Nein, kann man nicht, die Parameter sind bei uns andere. Wir sind mit dem Irrsinn, dass wir uns bei jeder Veränderung unseres Lebens fragen, ob Andere besser dabei weggekommen sind, groß geworden.

Das liegt an der sozioökonomischen Struktur und nicht so sehr daran, dass der einzelne noch nicht klug genug ist, das abzustreifen. Man kann das deswegen überhaupt nicht übertragen, aber man kann es vielleicht als eine Art Provokation nehmen. Man kann sagen, das ärgert mich, dass diese Gesellschaften zu etwas in der Lage sind, wozu ich nicht in der Lage bin. Man kann vielleicht aus dieser Provokation, aus dieser Irritation irgendwas für sich gewinnen.

pf: Noch ein Themenwechsel. Ich weiß, dass Ihr mit Problemen gekämpft habt, die an der Schnittstelle von Technik und Gesellschaft liegen. Was war das …

Mark: Was wir als Technik bezeichnen, wird ja unter bestimmten Bedingungen getestet. Und wir sind an zwei Grenzen gestoßen. Die eine ist irgendwie noch verständlich, die andere gar nicht. Es war zunächst schwierig, mit unseren Kameras länger zu arbeiten. Die Geräte haben eine Notabschaltung, wenn eine gewisse Betriebstemperatur erreicht ist, dann fahren die runter, um eine Beschädigung zu vermeiden. Wir haben also fünf Minuten gefilmt und dann hat die Kamera sich verabschiedet. „Good bye“ steht auf dem Display und dann ist Schluss. Wir haben dann eine Weile gebraucht, um das Equipment so zu nutzen, dass das nicht mehr passiert.

Aber die zweite Grenze ist wirklich ganz hässlich und auch vorwerfbar. Als Kameramensch bei uns musste ich erkennen, dass der automatische Farbabgleich in den Kameras zutiefst rassistisch ist. Und das meine ich ganz ernst. Die sind für helle Haut gemacht und können im Automatikmodus nicht mit dunkler Haut umgehen. Da wird dunkle Haut als etwas Aufzuhellendes bewertet. Bei der Kombination aus Farbe und Belichtung, ist nur im manuellen Modus gewährleistet, dass man tatsächlich die Realität einfängt. Das finde ich krass, weil Kameras werden ja auch getestet. Da ist schwer vorstellbar, dass man das nicht bemerkt.

pf: Letzte Frage: Wo kann den Film überhaupt zu Gesicht bekommen?

Vivi: Jetzt geht der Film erstmal auf Festival-Tour. Wir haben den sowohl im deutschsprachigen Raum als auch international eingereicht. Das machen wir bis Mitte des Jahres und planen im Herbst für die Premiere in den Kinos bereit zu sein.

pf: Vielen Dank.

One Word — We are not drowning. We are fighting. Eine Produktion von Kameradisten und Studio Kalliope. Deutschland/Marshall-Inseln, 1 Stunde und 23 Minuten.

Das Gespräch führte Stefan Gerbing. Eine Rezension des Films findet sich hier.

Eine weitere Atombombe

Beitrag von Stefan Gerbing, geschrieben am 04.02.2020

In Mitteleuropa können die Anzeichen für den menschengemachten Klimawandel noch verhältnismäßig leicht verdrängt werden. Während manche hierzulande die Anzeichen noch als Häufung warmer Sommer abtun, sind in anderen Weltregionen die Auswirkungen auf den Alltag sehr präsent.

„Wir ertrinken nicht, wir kämpfen“, lautet daher der Untertitel des Films „One Word“, der derzeit auf verschiedenen Festivals gezeigt wird.

Er zeigt den Kampf der Bewohner der Marshall-Inseln mit den Folgen des Klimwandels im mittleren Pazifik. Ein Großteil der Inseln und Atolle liegt weniger als 1,8 Meter über dem Meeresspiegel und ist durch dessen besonders starken Anstieg in der Region in den kommenden 20 Jahren vom buchstäblichen Untergang akut bedroht. Bereits jetzt rückt das Meer immer stärker an die Lebensräume der Inselbewohner heran. Trinkwasserquellen versalzen, die Fischbestände gehen zurück und das Land verschwindet vor den Augen und unter den Füßen seiner Bewohner. „We are Ocean-People“, sagt einer der Protagonisten, denn das Meer war seit jeher Lebensgrundlage der Marshallesen. Nun wird es zum Feind.

Die Folgen des Klimawandels sind nur eine weitere Katastrophe, die im industrialisierten Norden ins Werk gesetzt wurde und deren Folgen die Marshallesen allein zu bewältigen haben. „Eine weitere Atombombe“ nennt sie ein Inselbewohner daher, schließlich sind bis heute Teile der Inselgruppe auf Grund von Atombombentests des US-Militärs unbewohnbar. Wegen der Strahlung wurden tausende Bewohner*innen bereits einmal umgesiedelt.

Das wiederum war nur die letzte Epoche einer mehr als hundertjährigen Kolonialgeschichte, die mit der Kolonisierung durch das Deutsche Kaiserreich begann und der japanische Besatzung und amerikanische Protektoratsherrschaft folgten.

Keinen Film über die Inselbewohner*innen wollten die Filmemacher drehen, sondern einen partizipativen Film mit ihnen. Ein Jahr lang veranstalteten sie Workshops, in denen Inselbewohner*innen Interviews führten und Material für den Film drehten. Die Auswahl aus dem Rohmaterial erfolgte gemeinsam.

Die Veränderungen der Lebensumstände ganz verschiedener Leute, die realen Zukunftsängste von Lehrern, Verwaltungsangestellten, Gewerbetreibenden und Ökoaktivisten werden so vielstimmig eingefangen. Einige der Protagonist*innen lassen die Filmemacher sehr nah an ihre Lebenswelt heran. Aber auch die Folgen der Klimaveränderung sind in ihrem Verlauf in kleinen Details sichtbar. Da sich die Filmemacher*innen ein gutes Jahr Zeit vor Ort nahmen, sieht man Bäume, die zu Beginn des Films noch aufrecht stehen und im Verlauf des Film abzusterben beginnen, weil ihnen die Versalzung des Grundwassers zu schaffen macht. (s. dazu auch das Interview: »Das Meer überträgt unsere Schwierigkeiten«)

Dennoch schöpft der Film das Potential seiner ungewöhnlichen Entstehung ästhetisch nicht immer aus. Die Protagonist*innen tauchen vorrangig als „Talking Heads“ auf. Ihre sozialen Beziehungen und überhaupt die Entstehung des Films als Projekt einer Community, reflektiert sich im Medium selbst wenig.

Andererseits wirft der Film so weitere Fragen auf, die er nicht mit einem abgeschlossenen Narrativ beantwortet und regt somit zu einer weiteren Beschäftigung mit einer Region an, mit der „wir“ stärker verbunden sind, als den meisten bewusst sein dürfte.

One Word — We are not drowning. We are fighting. Eine Produktion von Kameradisten und Studio Kalliope. Deutschland/Marshall-Inseln, 83 Minuten.

Disclaimer: Beteiligte am Film waren vor einigen Jahren im und für den *prager frühling aktiv.

 

Endlich!

Beitrag von Stefan Gerbing, geschrieben am 17.12.2019

»Bruchlinien — Drei Episoden zum NSU« von Paula Bulling und Anne König hat bisher schmerzlich gefehlt. Zwar mangelt es nicht an Texten über die rassistische Mordserie des NSU. In den Jahren seit dessen Selbstenttarnung sind zehntausende Seiten Untersuchungsausschussberichte sowie dutzende Bücher sehr unterschiedlichen Schwerpunkts und sehr verschiedener Qualität publiziert worden. So verdienstvoll einige dieser Text sind: Um ein breiteres Interesse an der „rückhaltlosen Aufklärung“, aufrechtzuerhalten, welche die Bundesregierung blumig versprochen, aber nie geliefert hat, bedarf es wohl anderer Medien als umfangreicher Reportagen oder expertisegesättigter Sammelbände.

Es fehlt an Texten, die Übersicht und Orientierung verschaffen, die wichtige offene Fragen markieren und Interesse an ihrer Beantwortung auch bei kommenden Generationen wecken. Denn viele Akten werden, wenn überhaupt erst in Jahrzehnten zugänglich. Ohne anhaltendes gesellschaftliches Interesse wohlmöglich nie.

Dokumentarische Comics und Graphic Novels könnten all dies wohlmöglich leisten. Sie sind spätestens seit den 1990er Jahren Medien, die gesellschaftliche Konflikt- und Gewaltgeschichte verhandeln und Einstieg für eine weitergehende Beschäftigung mit komplexen Themen. Die bisher einzige Graphic Novel über die Ausläufer des NSU-Netzwerks in Dortmund war auch deshalb eine große Enttäuschung, weil sie von diesem Potential keinen Gebrauch machte. »Weiße Wölfe« von David Schraven und Jan Feindt widmete sich eindimensional den Tätern. Erzählung und Illustration reproduzierten einen sensationalistischen und zur heimlichen Identifikation einladenden Blick auf rechte Männer in und um Blood & Honour sowie Combat 18.

»Bruchlinien« geht einen ganz anderen Weg. Das Buch erzählt keine abgeschlossene Geschichte, sondern wirft im ersten Teil drei erzählerische Schlaglichter auf unterschiedliche Akteure im NSU-Komplex. Im Mittelpunkt der ersten Episode stehen Haupttäterïnnen des NSU. In schlichten, durchgängig im Zweifarbdruck reproduzierten Illustrationen von Paula Bulling wird über Alltag und Beziehung von Susann Eminger und Beate Zschäpe erzählt. Eminger, enge Freundin der Rechtsterroristin Zschäpe, unterstützte das NSU-Kerntrio unter anderem mit Ausweispapieren und Legendierungen. Sie gehört, nicht zuletzt auf Grund hegemonialer Geschlechterbilder, zu den öffentlich wenig wahrgenommenen Teilen des NSU-Netzwerkes und musste sich bisher keiner Anklage als Unterstützerin stellen.

In der zweiten Episode geht es um Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, die entgegen eigener Bedenken schließlich doch auf Anweisung ihres Dienstvorgesetzten Axel Minrath (Deckname Lothar Lingen) die Akten wichtiger V-Personen im NSU-Netzwerk vernichteten. In einer fiktionalen Erzählung aus dem Nachleben der pensionierten Sachbearbeiterïnnen, steht die Episode exemplarisch für den banalen Alltag einer Behörde, deren Führungskräfte lieber Akten vernichten und das Parlament belügen, als exekutives Handeln nachträglich in Frage stellen zu lassen.

In der dritten Episode werden in kurzen Szenen Erfahrungen der Familien des vom NSU in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşık und des in Kassel getöteten Halit Yozgat erzählt. Die strukturell rassistischen Ermittlungen gegen die Opfer und ihre Stigmatisierung durch die falschen Verdächtigungen der Polizei, werden hier angedeutet, aber auch die Handlungsmacht und das ignorierte Wissen der Betroffenen markiert.

Diesem ersten Teil des Buches schließt sich ein umfangreicher Anhang mit Interviews u.a. mit Sebastian Scharmer, Nebenklagevertreter in München; Ayşe Güleç, Mitgründerin der der Initiative 6. April sowie den Journalisten Christian Fuchs und Toralf Staudt an.

Besonders berührt das Gespräch mit Candan Özer-Yılmaz. Während die zuvor genannten einen Sprechort als Expertïnnen haben, gehört Özer-Yılmaz zu denen, die von den Gewalttaten des NSU betroffen sind, ohne dass ihren Perspektiven je besondere Aufmerksamkeit geschenkt würde. Özer-Yılmaz‘ späterer Mann wurde beim Bombenanschlag in der Keupstraße in Köln schwer verletzt. Er litt nach dem Anschlag an Angstzuständen und Depressionen und starb vor zwei Jahren, nicht zuletzt auf Grund der psychischen Spätfolgen des Anschlags. Özer-Yılmaz beschreibt drastisch und präzise den erfolglosen Kampf um Anerkennung der Spätfolgen durch die Sozialbürokratie. Schonungslos benennt sie die Belastung ihrer Ehe durch die Spätfolgen des Attentats. Präzise benennt sie die Asymmetrie des Wissens über Opfer und Täter und kritisiert deutlich die Ignoranz von Wohlmeinenden, die das Gedenken nutzen, um sich an den Betroffenen vorbei ins Rampenlicht zu drängen.

Paula Bulling und Anne König ist facettenreiches und vielschichtiges Buch über Täterïnnen, Ermöglicherïnnen, Opfer und Betroffene des NSU-Terrors gelungen. Es füllt eine bisher klaffende Leerstelle.

 

König, Anne; Tania, Prill (2019): Bruchlinien. Drei Episoden zum NSU. Unter Mitarbeit von Paula Bulling. 1. Auflage. Leipzig: Spector Books OHG. 24 Euro.

Martin Dannecker: Fortwährende Eingriffe

Beitrag von Bodo Niendel, geschrieben am 04.11.2019

Martin Dannecker war bis 2005 als Professor für Sexualwissenschaften und Vizedirektor des Instituts für Sexualwissenschaften in Frankfurt tätig. Er gilt als Urgestein der westdeutschen Schwulenbewegung. Fast schon ikonisch ist das Foto von der ersten deutschen Schwulendemonstration in Münster 1972, auf dem Dannecker ein Pappschild mit dem Slogan „Brüder & Schwestern warm oder nicht. Kapitalismus bekämpfen ist unsere Pflicht!“ trägt.  Dannecker war der schwul-lesbischen Bewegung stets solidarisch aber immer auch kritisch verbunden. Der auf einem von Rosa von Praunheim und ihm verfassten Drehbuch beruhende Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt“ war einer der Auslöser für die Entstehung der westdeutschen Schwulenbewegung. Danneckers Publikationen griffen in wissenschaftliche Debatte ein und haben maßgeblich zum Verständnis und der Etablierung schwuler und queerer Lebensweisen beigetragen. Dannecker wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, so 2010 mit dem Zivilcouragepreis des Berliner CSD, die Laudatio hielt Gregor Gysi. Etwas weniger bekannt ist Danneckers Engagement als HIV- und Aidsaktivist.

Das Buch „Fortwährende Eingriffe. Aufsätze, Vorträge und Reden zu HIV und AIDS aus vier Jahrzehnten“ gibt einen Überblick über sein politisches und sein intellektuelles Engagement in diesem Bereich. 1985 wandte er sich in einem offenen Brief gegen seinen einstigen Mitstreiter Rosa von Praunheim. Dieser hatte Schwule im Angesicht von Aids dazu aufgefordert, ihre Sexualität nicht mehr zu praktizieren. In scharfen Worten kritisierte Dannecker „Wie jede Identifikation wirkt die Identifikation mit dem Aggressor entlastend. Zu bekommen ist diese Entlastung jedoch nur um den Preis der Unterwerfung.“ Er führt weiter aus, dass die „stärkere Akzentuierung des Triebes unter Homosexuellen keineswegs gleichbedeutend mit einer unmäßigen Triebhaftigkeit (ist). Sie scheint mir jedoch eine der Wurzeln für den geheimen Neid, ja Hass auf Homosexuelle zu sein.“ Man erkennt hier schon den starken Bezug auf Siegmund Freud. Die mahnende Figur der Identifikation mit dem Aggressor durchzieht Danneckers Schriften und dies ist seine mahnende Kritik an einer nur auf Bürgerrechte fokussierten Politik.

Paradoxien von HIV/Aids

Dannecker sah Entwicklungen voraus, so als er 1986 schrieb: „Zu den Paradoxien (…) wird es gehören, dass Aids die Integration der Homosexuellen in die Gesellschaft voranbringen wird.“ Zugleich gab Dannecker zu bedenken, dass sich mit Aids auch die Sexualität der Schwulen verändern werde. „Umerziehungsprogramme“, die nicht zuletzt von schwulen Organisationen selbst propagiert werden würden, veränderten die schwule Sexualität und stünden einer sexuellen Liberalisierung konträr gegenüber. Damit richtete er sich nicht gegen „Safer Sex“, sondern gegen einen damit einhergehenden „antisexuellen Diskurs.“ Wenn auch nicht gewollt, so würden auch die Aidshilfen diesem Diskurs Vorschub leisten. Dannecker gibt zu bedenken, dass man Sexualität nicht auf Rationalität reduzieren könne. Gerade das Irrationale sei Teil der Sexualität. „Safer Sex“ und die damit verbundene Moral, sei nichts weiter als eine Idealvorstellung, „an deren Einlösung die Menschen immer wieder scheitern werden.“

Gerade schwule Männer veränderten ihr Sexualverhalten im Angesicht von Aids gravierend und dennoch starben in der schwulen Community zu Ende der 1980er Jahre, bedingt durch die lange Latenzzeit des Virus, besonders viele Menschen. Aids hatte zu dieser Zeit eine „monströse Präsenz“ für schwule Männer. Auch für Martin Dannecker persönlich, er verlor seinen langjährigen Gefährten zu Beginn der 1990er Jahre. Dannecker hoffte (1991) auf einen bald kommenden Impfstoff gegen HIV und verband damit die fast schon religiöse Hoffnung, dass danach Homosexuelle wieder frei auf ihre Sexualität blicken könnten und dieser neue Möglichkeiten abgewinnen könnten.

Vancouver verändert alles

Auf der Weltaidskonferenz in Vancouver 1996 wurde die Kombinationstherapie, eine neue Zusammensetzung von Wirkstoffen, die den HI-Virus in Schach halten, vorgestellt. HIV/Aids wurde so  zu einer behandelbaren Krankheit, mit einer durchaus hohen Lebenserwartung. Doch Aids hatte die schwule Community auch zusammengeschweißt, sie hatte für sich und andere Hilfesysteme aufgebaut, die in ihrem emanzipatorischen Charakter über sich selbst hinauswiesen, wie Dannecker betont.  Die Möglichkeiten der Kombinationstherapie und das Verschwinden der direkten Todesdrohung bezeichnete Dannecker als „neues Aids.“ Er prägte damit in Vorträgen und Artikeln einen Begriff, der Zugleich zu einem Umdenken aufrief. Wieder einmal trug er eine solidarische Kritik an die Selbsthilfen aber auch an die Ärzteschafft heran. Er rief dazu auf, den Bedeutungswandel von Aids in die Arbeit mit HIV-Positiven und die Prävention einzubeziehen, statt weiterhin auf Ängste, die mit dem „alten Aids“ verbunden waren, zu beziehen. Schwule Männer reagierten schnell auf das „neue Aids.“  Der Wunsch auf Sexualität ohne Kondom wurde in die Tat umgesetzt. Die Todesdrohung war verschwunden und dies hatte Folgen. Die Lust ließ sich nicht mehr mit den alten Ängsten – auf die die Präventionsbotschaften setzten – unterdrücken. Dabei schreckte Dannecker auch nicht vor drastischen Worten zurück. „Ihre humane Orientierung büßt die Prävention ein, wenn sie zu einer Diktatur der Gesundheit und damit einhergehender normativer Vorstellungen von einer angemessenen sexuellen Lebensführung wird“, so Dannecker 2005 zum Weltaidstag in der Frankfurter Paulskirche. Dannecker drückte damit insbesondere seine Kritik an der Ärzteschaft aus, die aus Danneckers Perspektive stets versuche, schwule Sexualität einzuhegen.

Trauer und Selbsthilfe

Seine Rede zum Wandel der Trauerarbeit der Selbst- und Aidshilfen aus dem Jahr 2012 ist sehr persönlich und dabei so berührend, dass man sie eigentlich nur als Ganzes zitieren darf. Trotzdem ein Satz, der seine tiefe Verbundenheit zur Aids- und Selbsthilfe ausdrückt und ihre Bedeutung in Hinblick auf die öffentliche Trauer über die HIV Verstorbenen unterstreicht. Diese Form der Trauer vermittele: „Man kann ein richtiges Leben gelebt haben und trotzdem an Aids sterben.“ Ein vortreffliches Lob, denn was kann eine Selbsthilfe im öffentlichen Bewusstsein mehr erreichen?

Zur Prä-Expositions-Prophylaxe - also der Einnahme von HIV-Medikamenten durch HIV-Negative, um keine HIV-Infektion zu bekommen – schreibt er eine solidarische Kritik, die zugleich freudianisch eine Gesellschaftskritik formuliert: „Denn auch in den Reihen der Gruppen, die von den Aids-Hilfen repräsentiert werden, gab und gibt es Widerstände gegen diejenigen, die scheinbar bedenkenlos herumficken oder sich neuerdings ihr kondomloses Ficken durch die Krankenkassen bezahlen lassen wollen. Es gibt also eine nicht stillzulegende Tendenz des Ausschlusses der angeblich Hemmungslosen aus den eigenen Reihen. Zurückzuführen sind die dieser Tendenz inhärenten Aggressionen auf den Sexualneid derjenigen, die sich wegen der mit der Sexualität verknüpften Infektionsrisiken beständig einschränken, auf diejenigen, denen diese Risiken angeblich gleichgültig sind.“ Dieses längere Zitat vermittelt aus meiner Sicht, wie tiefschürfend, reflektierend und gesellschaftskritisch sein Blick auf Aids, die Bedeutung für die Gesellschaft und auf schwule Lebensweisen ist. Danneckers Eingriffe zeigen einen Intellektuellen in Bewegung. Wer Aids – in seiner gesellschaftlichen Bedeutung als Metapher und Realität – verstehen will, kommt an diesem Buch nicht vorbei.

Bodo Niendel, Referent für Queerpolitik der Bundestagsfraktion DIE LINKE.

Martin Dannecker: Fortwährende Eingriffe: Aufsätze, Vorträge und Reden aus vier Jahrzehnten zu Aids und HIV, Berlin 2019. Eine Onlinefassung gibt es auf der Seite der Aidshilfe

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