Nen fetten Zungenkuss für den Feminismus der ersten und zweiten Welle

Lady Dr. Bitch Ray über Diss und Dissen, Feminismus und „Femen“, Bitches und „Bitchsm“

Katja Kipping

prager frühling: Wie möchtest du von mir angesprochen werden?

Reyhan: Für dich als Genossin gerne Reyhan, für alle anderen „Dr. Şahin“.

pf: Dein Künstlerinnenname Lady Dr. Bitch Ray besteht ja aus scheinbar gegensätzlichen Bezeichnungen …

Reyhan: Mein Künstlername vereint verschiedene Frauenrollen, in die ich schlüpfe: in die Rolle der „Lady“, der „Doktorin” und der „Bitch“. Es geht mir darum, klassische Rollen zu hinterfragen, indem ich sie neu kombiniere, scheinbar Unvereinbares zusammenbringe und damit für Irritation sorge. Darauf beruht auch mein Verständnis von Feminismus. Lady und Bitch stehen ja schon für verschiedene Stereotypen. Jetzt hab ich `n Doktortitel und bin Dr. Lady Bitch Ray!

pf: Was untersuchst du in deiner Dissertation?

Reyhan: Es geht um die Bedeutung von Kopftüchern für die Frauen, die sie tragen. Im theoretischen Teil habe ich mich mit Semiotik, also der Zeichentheorie, auseinandergesetzt, im zweiten Teil habe ich empirisch gearbeitet und Kopftuchträgerinnen interviewt, fotografiert und an ihrer Lebenswelt teilgenommen. Ich habe herausgefunden, dass fast alle von mir interviewten Kopftuchträgerinnen von einer streng muslimischen Bekleidungsvorschrift auf eine selbst bestimmte Weise abweichen. So kombinieren viele Kopftuchträgerinnen der zweiten und dritten Generation das Kopftuch mit auffälliger Kleidung — hochhackigen Schuhen oder Jeans. Da tiefe Ausschnitte verpönt sind, machen viele Frauen Kompromisse, indem sie einen Rolli, aber darüber ein ausgeschnittenes Shirt anziehen und somit der Ausschnitt optisch angedeutet wird, ohne dass Haut gezeigt wird. Eine Frau sagte mir, wir leben als deutsche Muslimas in Deutschland, also mixe ich mein Kopftuch mit modischen Klamotten.

pf: Damit widersprichst du der Deutung des Kopftuches als Symbol der Frauenunterdrückung?

Reyhan: Das Kopftuch kann sehr verschiedene Bedeutungen haben, z. B. als religiöses Symbol, weil sich die Frauen in Abgrenzung von ihren Eltern „den wahren Islam“ aneignen wollen. Oder als Symbol der Weiblichkeit, als sexuelles beziehungsweise Balzsymbol, weil man als Kopftuchträgerin gute Chancen auf dem muslimischen Heiratsmarkt hat. Viele strenggläubige muslimische Männer bevorzugen Frauen mit Kopftuch, weil sie damit bestimmte muslimische Werte in Verbindung bringen wie etwa Treue, Pflichtbewusstsein, Ehrlichkeit, Frömmigkeit.

pf: Die Debatten in der Mehrheitsgesellschaft über das Kopftuch sind also auch eine Fundgrube für rassistische Ressentiments?

Reyhan: Ja, leider. Gerade diejenigen Kopftuchträgerinnen, die das Kopftuch mit modischer Bekleidung kombinieren, legen sich mit verschiedenen Lagern an: Erstens mit der Mehrheitsgesellschaft, weil sie nicht aufs Tuch verzichten und dann noch, weil sie es auf eine modische Art und Weise tragen! Viele Nichtmuslime kommen dann zu den Frauen und sagen: „Sag mal, ist das im Islam nicht verboten, dass man Kopftuch und enge Jeans trägt?“ Sie wollen die Frauen in muslimisch-traditionelle Rollen schieben. Zusätzlich müssen diese Frauen sich auch in ihren muslimischen Communities rechtfertigen. Man muss jedoch wissen, dass dieser Stil Ausdruck ihrer hybriden Identität ist. Die Frauen gehen halt ihren Weg.

pf: Auch du musstest mit so manchem Widerstand umgehen ...

Reyhan: Ja, auch ich fühlte mich 2008 als Künstlerin missverstanden und ausgegrenzt. Die Folge waren schwere Depressionen und ein völliges Burnout. Davor hab ich z. B. sehr darunter gelitten, dass ich kein Album veröffentlicht bekam und meine Kunst immer nur auf Provokation reduziert wurde. Der männliche Sexismus wird verkauft, wenn eine Frau das konterkariert, entdecken die Labels und die Gesellschaft plötzlich ihre prüde Seite …

pf: Neben der Promotion hast Du „Bitchsm“ geschrieben. Worum geht‘s?

Reyhan: Ich wollte meine teilweise unsortierten Vorstellungen von Feminismus in einer Philosophie zusammen bringen, diese Philosophie heißt „Bitchsm“. Die Übersexualisierung von Lady Bitch Ray ist keine Taktik, Leute: Das bin ich und mein Leben!

pf: In „Bitchsm“ verwendest du „schwul“ mehrmals abfällig. Muss das sein?

Reyhan: Ich betitel damit Macho-Typen wie Bushido, die sich selbst abfällig über Homosexuelle äußern. Sie sollten selber einmal spüren, wie es sich anfühlt. Als überzeugte Queer-Anhängerin bin ich ansonsten dafür, sich den einst abfällig gemeinten Begriff „schwul“ anzueignen und positiv umzudeuten. Also Mushido: Du bist schwul! und ich wünsche dir, dass dein Sohn schwul wird!

pf: Wenn du den Wikipedia-Beitrag für den Begriff „Bitchsm“ selbst schreiben könntest, wie würdest du „Bitchsm“ erklären?

Reyhan: „Bitchsm“ ist ein neofeministisches Pamphlet, das radikalfeministische Ideen ausdrückt.

pf: Apropos Neofeminismus. Was ist deiner Meinung nach charakteristisch für die aktuelle Welle von feministischen Aktivitäten?

Reyhan: Nähe zur Popkultur: Frauen versuchen sich Romane, TV-Serien und Soaps anzueignen und umzudeuten, man denke an Feuchtgebiete von Charlotte Roche. Auch der Do-it-yourself Ansatz und das generelle Hinterfragen von Kategorien wie Geschlecht erscheinen mir charakteristisch. Das Spiel mit Irritationen gehört dazu. Ich bin Teil davon.

pf: Es gibt eine heftige Kontroverse um die Aktionen der Frauenorganisation „Femen“. Wie ist Deine Position?

Reyhan: Ihre Aktion gegen das Kopftuch kritisiere ich genauso wie die Sichtweisen von Alice Schwarzer. In dieser Debatte nehmen sie die islamfeindliche Perspektive „westlicher Feministinnen“ ein. Ich möchte aber als „Bitch“, die für feministische Inhalte kämpft, andere Frauen, die ebenso für Frauenrechte kämpfen, nicht schlecht machen. Fakt ist, dass Femen einige gute Dinge mit ihren Oben-ohne-Aktionen thematisieren, z. B. gegen Sexisten wie Putin oder Berlusconi agieren oder mediale Sexismen wie Heidi Klums „Germanys Next Top Model“ kritisieren. Sie nehmen hohe Risiken in Kauf, sie sind bereit, sich mit Mächtigen anzulegen. Wir Frauen sollten uns gegenseitig nicht bekämpfen, sondern solidarisieren und zusammenhalten!

pf: Was können wir heute von früheren Feministinnen lernen?

Reyhan: … dass wir genauso radikal sein sollten wie damals. Aber wir sollten uns auch mal bei den Frauen bedanken, die früher feministischen Fortschritt erkämpft haben. In „Bitchsm“ schreibe ich dazu: Die Feministinnen von heute sollten den Feministinnen der ersten und zweiten Welle einen dicken Zungenkuss geben.

pf: Was planst du als Nächstes?

Reyhan: Ich überarbeite gerade meine Dissertation für die Veröffentlichung und habe einen Forschungsantrag am laufen. Ich schreibe neue Songs, lass mich von meinen Lustknaben verwöhnen und arbeite an einem Roman. Mein „Votzensekretariat“ unterstützt mich bei allem.

pf: Wir bleiben gespannt. Dir alles Gute.

Reyhan: Pussy deluxe. Freedom for Pussy Riot und FIGHT THE VAGINA-POWER!

Autoreneinfo

Dr. Reyhan Şahin schrieb ihre Doktorarbeit zur Bedeutung von Kopftüchern für die Frauen, die sie tragen. In diesem Jahr erschien ihr Buch „Bitchsm“. Sie rappt unter dem Künstlerinnennamen Lady Bitch Ray und ist bekannt für ihren „Vaginastyle“.

Das Gespräch fand nach der Diskussionsrunde: „Weibsbilder“ mit ihr, Jasna Lisha Strick und Katja Kipping im LIDO statt. Einen Mitschnitt dieser Diskussionsrunde gibt es hier[1].

Links:

  1. http://www.katja-kipping.de/de/article/705.podiums-diskussion-weibsbilder-das-bild-der-frau-in-medien.html