„Veröffentlichen, Vervielfältigen und Bearbeiten für jedermann erlaubt“

Interview mit Mathias Schindler über das erfolgreichste aller digitalen Commons-Projekte

Die Wikipedia gilt als bislang erfolgreichstes und viel gelobtes Projekt einer digitalen Wissensallmende. Viele machen mit, alle profitieren. Gibt es noch Entwicklungspotenzial in technischer, sozialer oder kommunikativer Hinsicht? Oder bleibt sie, wie sie ist?

Wenn sie sich nicht weiterentwickelt, wird sie irgendwann von etwas anderem abgelöst werden. Und das geschieht im Zweifel in sehr sehr kurzer Zeit. Derzeit arbeiten viele Entwickler und noch mehr Nutzer in einem jungen Schwesterprojekt mit, das den Aufbau einer Wissensdatenbank zum Ziel hat: Wikidata. Der Nutzen für Wikipedia ist offensichtlich: Es ist witzlos, die Einwohnerzahl Istanbuls in 40 Sprachausgaben von Wikipedia parallel pflegen zu wollen. Wikidata ist in der Lage, solche Angaben zentral zu speichern und auch konkurrierende Angaben anzuzeigen. Vielleicht hat ja das Land Berlin unterschiedliche Vorstellungen zu seiner Einwohnerzahl als das Statistische Bundesamt.

Die nächste Baustelle ist die Bearbeitung, hier arbeitet die Wikimedia Foundation seit einiger Zeit an einem „Visual Editor“, also der Möglichkeit, ohne das Erlernen einer eigenen Formatierungssprache Wikipedia-Artikel bearbeiten zu können.

Ein entscheidender Bestandteil des Allmendegedankens auch bei der Wikipedia besteht in der freien Nutzung durch alle. Welche Rolle spielen rechtliche Regelungen und Lizenzen bei der Pflege der Allmende?

Noch nutzen es nicht alle und noch haben längst nicht alle Menschen Zugang zu Wikipedia und anderen Projekten. Die Gründe daran liegen neben der Nichtverfügbarkeit von Inhalten in allen Sprachen auch im fehlenden Zugang zum Netz. Richtig ist allerdings: Die Inhalte der Wikipedia stehen unter einer Lizenz, die das Veröffentlichen, Vervielfältigen und Bearbeiten für jedermann erlaubt – auch zu kommerziellen Zwecken. Das schafft zum einen Rechtssicherheit für die Nachnutzer und auch für die Autorenschaft auf Wikipedia selbst: Es ist schlichtweg nicht mehr möglich, die Inhalte wieder einzufangen und den Zugang dazu auf dem Wege des Urheberrechts zu verhindern. Andere Wege zur Unterdrückung bleiben bestehen, viele Nutzer in China, Saudi-Arabien oder Usbekistan melden Probleme, auf die Seiten zuzugreifen.

Freies Wissen klingt zunächst nach einem Gegenstück zur Privatwirtschaft. Wie steht Ihr zu einer kommerziellen Nutzung freier Inhalte?

Die kommerzielle Nachnutzung der Inhalte ist ausdrücklich zugelassen. Wer einen Weg glaubt zu finden, damit Geld zu verdienen, soll es bitteschön probieren – der gleiche Weg stünde dann aber auch jeder anderen Person offen. In der Praxis geht es mit der Erlaubnis zur kommerziellen Nutzung vor allem darum, Rechtssicherheit für die vielen Grauzonen zwischen kommerziell und nicht-kommerziell zu schaffen, angefangen von „Darf ich 40cent Materialkosten für eine DVD-Kopie von Wikipedia-Inhalten verlangen?“.

Wie siehst du das Zusammenspiel etwa mit Unternehmen wie Google, die digitale, auch freie Inhalte nutzen, um ihr Geschäftsmodell mit privaten Daten darauf aufzubauen? Brauchen wir nicht mehr gemeinnützige Infrastrukturen für die Commons?

Die meisten Firmen erkennen irgendwann, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, etwas an die Projekte zurückzugeben, auf die sie ihr Geschäftsmodell aufbauen. Inzwischen stammt der Großteil der Arbeit am Linux-Kernel von Angestellten dieser Firmen, die sich selbst und mittelbar dem Rest der Welt damit etwas Gutes tun. Im Falle von Wikipedia finde ich es naheliegend, dass auch Firmen die Inhalte für eigene Produkte im Rahmen der Lizenz nutzen.

Euer Verein Wikimedia setzt sich auch für die „Befreiung“ öffentlicher, also steuerfinanzierter Daten und Inhalte ein. Was versteht Ihr darunter?

Der Staat setzt nicht nur die urheberrechtlichen Regeln, er schafft ja auch selbst Werke, von denen ein großer Teil urheberrechtlich geschützt ist. Wir interessieren uns sehr dafür, nach welchen Regeln diese Werke von jedermann nachgenutzt werden können und wie stichhaltig die Gründe sind, eine generelle freie Nachnutzung für solche Werke derzeit noch zu verneinen. Inzwischen haben wir beispielsweise genug Zahlen gesammelt, um das Argument zu entkräften, eine generelle Freigabe würde zu dramatischen Einnahmeausfällen des Staates führen – so große Einnahmen gibt es schlichtweg nicht. Und bisher hat mir noch niemand erklären können, dass die Qualität bestimmter staatlicher Werke davon abhängt, ob sie urheberrechtlich geschützt sind. Urheberrecht als Anreizmodell scheidet hier in der Regel völlig aus, es gibt ja meist einen gesetzlichen Grund, warum der Staat bestimmte Werke schafft – angefangen beim Wetterbericht.

Gäbe es freies Wissen auch ohne das Internet?

Ohne das Internet? Das wäre schwierig geworden, aber ich höre von Schülern, die heutzutage ihre Filmsammlungen auch nicht mehr über das Netz, sondern durch den Ringtausch von USB-Sticks auf dem Schulhof austauschen.

Genauso könnte man ja auch jeweils Updates für Enzyklopädieartikel verbreiten. Das Vor-Vor-Vorgängerprojekt Interpedia hatte sich dezentrale Verbreitungen von Artikeln überlegt. Aber abseits dieses Gedankenspiels: Das Internet hat vor allem massiv kollaborative Textentwicklung und ad-hoc-Qualitätssicherungsprozesse möglich gemacht. Davon haben Projekte wie Wikipedia profitiert.

Der „Prager Frühling“ wird mit dieser Ausgabe ein ausschließliches Online-Magazin – unter einer CC-Lizenz. Wie findest du das?

Wenn es eine freie CC-Lizenz ist: Super. Wenn es eine andere CC-Lizenz ist: Das ist Euer Recht.

Matthias Schindler bloggt über Bücher, Wikipedia und alles dazwischen. Er ist Projektmanager bei Wikimedia Deutschland im Bereich Politik und Gesellschaft.