Die Grenzen des Medienbaukastens

Über strukturelle Hürden der Massenkommunikation

Dieter Rucht

Wer Botschaften und Aktivitäten für Massenmedien inszeniert, „bedient“ unausweichlich mediale Erwartungen: Dazu gehören Spektakel, Drama, Konflikt, Vereinfachung, Zitierfähigkeit, Unterhaltungswert. Naiv ist dabei die Vorstellung, Akteure, die weder über institutionelle Macht noch über ökonomisches Gewicht verfügen, könnten ein „symbiotisches“ Verhältnis[1] mit den Medien eingehen („Die brauchen das Spektakel, wir liefern es.“). Tatsächlich sind die Medien fortwährend mit einem Überangebot an Themen und Nachrichten konfrontiert und betreiben deshalb eine rigorose Auslese. Angesichts des grauen Einerleis der staatsmännischen Krawattenträger sind gelegentliche Farbtupfer (bunte Demos, knallige Zitate, steile Thesen) zwar willkommen, aber für Medien nicht bestandsnotwendig. Prinzipiell besteht eine strukturelle Asymmetrie: Progressive Akteure brauchen die Massenmedien, aber die Massenmedien brauchen nicht progressive Akteure. Daraus ergeben sich einseitige Anpassungsleistungen. Zudem bleibt die Anpassung nicht ohne Rückwirkungen auf die, die Aufmerksamkeit suchen. Beispielsweise verführen Mikrofone und Kameras dazu, Widersprüche im eigenen Lager zu verdecken oder kleinzureden, medial erzeugte Rollen zu akzeptieren sowie eigene Bedenken und Zweifel bezüglich der bevorzugten Lösungsmöglichkeiten zu verschweigen.

Die Anpassung an die medialen Spielregeln fördert zudem die Bereitschaft, in einen Überbietungswettbewerb mit der Gegenseite einzutreten: Nach dem Motto „Was die Agentur Scholz & Friends kann, das können wir schon lange.“ Aber wie wäre es mit Attacke statt Anpassung? Das ist nicht aussichtslos. Allerdings bliebe es ein Kampf gegen Windmühlenflügel, wollte man als einzelne Gruppe oder Initiative ein anderes Verhalten der Medien anmahnen oder gar erzwingen. Ein Großteil der Medien wird sich, ähnlich wie die Arbeitgeber angesichts einer industriellen Reservearmee von Arbeitslosen, einem für sie bequemeren Anbieter zuwenden. Aber es gibt auch Verbündete innerhalb des Mediensystems, die diesem kritisch gegenüber stehen.

Und ein weiterer Trost: Der Weg über Massenkommunikation ist nur einer unter mehreren im Geschäft politischer Aufklärung, Meinungsbildung und Intervention. Neben der quantitativen Mobilisierung bestehen auch wirksame Formen der qualitativen Mobilisierung, z.B. das eingehende persönliche Gespräch. Qualitative Mobilisierung kann eine tief greifende Motivation, anhaltendes und vielleicht auch riskantes Engagement fördern. Allerdings werden damit nicht die Massen erreicht.

Und die Grenzen der neuen Medien

Deutscher Gegenentwurf zur Radiotheorie: der Volksempfänger bzw. die Goebbelsschnauze.

Dass das Radio die ihm von Brecht zugedachte Funktion, nämlich die Hörer in „Lieferanten“ zu verwandeln, letztlich nicht zu erfüllen vermochte, hat der Dichter bald einsehen müssen. Ebenso blieb die im „Medienbaukasten“ von Enzensberger formulierte Hoffung unerfüllt, dass Tonbandgeräte, Bild- und Schmalfilmkameras, also jene „Produktionsmittel“, die sich „heute schon in weitem Umfang im Besitz der Lohnabhängigen“ befinden, „massenhaft […] in allen gesellschaftlichen Konfliktsituationen auftauchen“, um am Ende in einer „freien sozialistische[1]n Gesellschaft“ ihre volle Produktivität zu entfalten.

Aber jetzt haben wir doch das Internet! Der leicht abgewandelte und runderneuerte Brecht läse sich dann so:

Das Internet ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Das Internet wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, es wäre es, wenn man es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also die Nutzer nicht nur empfangen, sondern auch senden zu lassen und sie nicht zu isolieren, sondern sie auch in Beziehung zu setzen.“[2]

Und kann nicht Enzensbergers Schlüsselsatz, der freilich noch nicht auf das Internet gemünzt sein konnte, heute unverändert, und mit mehr Berechtigung denn je, übernommen werden? Denn so viel scheint sonnenklar: „Die neuen Medien sind ihrer Struktur nach egalitär.“[3]

Die überwiegend progressiv gestimmten Teile der Netzgemeinde werden heftig applaudieren, sind sie doch begeistert vom neuen Baukasten Internet, begeistert nicht zuletzt von sich selbst. Doch die Vorstellung eines technisch induzierten Emanzipations- und Demokratisierungsschubs bleibt auch im Zeitalter des Internet unrealistisch. Gewiss, die Mediennutzung kann sowohl für das Dampfradio, die Holzmedien und erst recht die digitalen Medien partizipativer als heute ausfallen, aber eine „partizipatorische Revolution“ ist nicht zu erwarten. Daran werden auch weitere, vermeintlich geniale Bausteine wie Liquid Feedback wenig ändern.

Warum? Das liegt zum ersten am verhaltenen Interesse an Politik, das seit langem ziemlich konstant ist und, laut Shell-Studien, bei Jugendlichen eher ab- als zugenommen hat. Die stetig wachsende Ausbreitung des Internets hat in der Bundesrepublik weder zu einem steigenden politischen Interesse noch zu einem höheren Protestvolumen geführt.

Das liegt zweitens an den Kapazitätsgrenzen der Nutzer_innen von Medien. Diese können (und wollen) nicht alles aufnehmen, verarbeiten und in politische Handlungen umsetzen, was im Angebot ist. Massenkommunikation wird Kommunikation von Wenigen mit Vielen bleiben, also weitgehend das strukturelle Format einer „Massensendung“ beibehalten.

Zum dritten würde eine deutlich gesteigerte Nutzung der interaktiven Tools deren Anbieter überfordern. Sich auf all diese Interaktionen ernsthaft einzulassen, hieße die bestehenden Vorteile geringer Transaktionskosten des Internets preiszugeben. Denn die Beantwortung bzw. Verarbeitung individueller Anfragen, Kommentare, Vorschläge und Forderungen – gleich ob per Telefon oder im Netz – erfordert einen enormen Zeit- und Personalaufwand. In den USA hat dies dazu geführt, dass elektronische Eingaben und Einsprüche der Bürgerschaft nur noch mit automatisierten Suchprogrammen bearbeitet und auf knappe Berichte mit Häufigkeitsauszählungen reduziert werden.

Auch die aktuellen Bemühungen, politische Partizipation über standardisierte elektronische Unterschriftensammlungen von darauf spezialisierten Kampagnennetzwerken zu gewährleisten, entsprechen nicht den Brechtschen und Enzensbergerschen Ideen einer Vervielfältigung der Produzenten. Zudem vermögen sie kaum, wirksamen politischen Druck zu entfalten. Politische Entscheidungsträgern wissen ebenso wie das Publikum, dass hinter dem bequemen „Clicktivism“ nicht unbedingt starke Motive und Opferbereitschaft stehen. Im übrigen kann diese Art von Engagement, ähnlich wie der Scheckbuch-Aktivismus von 570.000 Greenpeace-Förderern, auch kontraproduktiv wirken, weil es die Eigeninitiative schmälert. Denkt man die Tendenz elektronischer Unterschriftensammlungen zu allen Fragen der Zeit zu Ende, sind sie lediglich eine informative Ergänzung des demoskopischen Baukastens, der darauf angelegt ist, Stimmungen zu erkunden.

Das Internet trägt dazu bei, dass themenfokussierte Netzwerke schneller und vermutlich auch zahlreicher zustande kommen, aber sich auch ebenso schnell wieder zerstreuen können, und zwar sozial wie thematisch. Occupy lässt grüßen! Das Internet verstärkt und beschleunigt gelegentlich Massenmobilisierungen und sorgt für Nachahmungseffekte, aber es ist für solche Vorgänge keineswegs eine notwendige Bedingung, wie zahlreiche frühere Protestereignisse und Kampagnen beweisen. Im Übrigen sind die meisten netzbasierten Kampagnennetzwerke längst dazu übergegangen, Online- mit Offline-Aktionen zu verbinden. Wenige Erfolgsgeschichten (zuletzt die Verhinderung von ACTA), die auch und vielleicht sogar vor allem Straßenprotesten zu verdanken ist, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Kampagnen im Sande verlaufen.

Dieter Rucht ist Bewegungsforscher beim Wissenschaftszentrum Berlin. Bei der summer factory des Instituts Solisarische Moderne diskutierte über die Linke und die Medien. Dieser Text ist eine gekürzte Fassung des Thesenpapiers von Dieter Rucht, dass er im Rahmen des ExpertInnen-Workshops „Linksregierung und die Medien“ auf der Summerfactory des Instituts Solidarische Moderne zur Diskussion stellte.

Anmerkungen

[1] Wolfsfeld, Gadi (1984): Symbiosis of Press and Protest: An Exchange Analysis. In: Journalism Quarterly 61 (3): 550-555.

[2] Bertolt Brecht (1967): Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. In: ders., Gesammelte Werke, Bd. 18. Schriften zur Literatur und Kunst, Bd. 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 129.

[3] Enzensberger, Hans Magnus (1970): Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: Kursbuch 20/März 1970: 167.

Links:

  1. http://de.wikipedia.org/wiki/Sozialismus