Slactivists of the world, unite!

Thesen der Redaktion zu Öffentlichkeit, Aktivismus und Widerstand im Netz

Prager frühling erscheint diesmal als Online-Ausgabe. Das Medium ist die Botschaft: Papier, wir schätzen Dich, aber die Zukunft ist digital. Unsere Botschaft ist allerdings weniger binär als ihr Medium. Unsere Autor_innen erkunden in dieser Ausgabe die Ambivalenzen des digitalen Zeitalters in Hinsicht auf soziale und individuelle Emanzipation, Aktivismus und linke Medienarbeit im Netz und die Redaktion rahmt die Ausgabe wie immer mit den Thesen: diesmal ausnahmsweise mit binärer Nummerierung.

0001 Die Verwirklichung der Radiotheorie durch IT

Die gute Nachricht: Das Netz könnte beim gegenwärtigen Stand der Programmierkräfte das zentrale Versprechen von Brechts Radiotheorie einlösen. In zeitgenössisch analogen Kategorien forderte der Dramatiker einst: „Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, […] das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen.“ In der Welt der Blogosphären und Onlinemagazine kann nicht nur jede ihre eigene Publizistin werden, sondern auch jede ein Kommentator. Doch nicht nur das: Liquid democracy ermöglicht Entscheidungs- und Diskussionsprozesse so zu verflüssigen, dass potentiell alle über alles informiert sind und im Lichte umfassender Informiertheit entscheiden können. Das ganze unmittelbar und mit flachen Hierarchien. Jede und jeder macht Eingaben an Vorstände und ParlamentarierInnen und nutzt mal eben die Fahrt in der U-Bahn zur Web-Abstimmung. In Sekundenschnelle entstehen Stimmungsbilder, gemeinsam kann an Texten und Anträgen gewerkelt werden Arbeitsnomaden und PendlerInnen erhalten einen Ort der politischen Zugehörigkeit. Open Data – die freie Verfügbarkeit von Daten, die durch öffentliche Stellen erhoben wurden – ermöglicht allen Interessierten, sich ein eigenes Bild von Konsequenzen politischer Entscheidungen zu machen. Mit etwas Kenntnissen von Statistik und Datenauswertung kann sich jede und jeder von den bisherigen InterpretationsmonopolistInnen unabhängig machen.

Die schlechte Nachricht: Es ist nicht nur komplizierter, es ist kompliziert.

Nicht vorgesehen ... Dislike.

0010 If you „like“ it or not ...

Unter gegebenen Bedingungen der Google- und Facebookkratie bringt das Netz die Menschen nicht zum Sprechen, sondern meist nur zum „liken“. Wo das Ziel ein attraktives Werbeumfeld ist, sind Dissidenz, Wut und Unzufriedenheit nicht vorgesehen. Im Facebook-Universum ist das Sagbare stark vorstrukturiert. In einem Regime von Sichtbarkeit und Konkurrenz müssen Glück und Erfolg ausgestellt werden. Wer auf Firmenprofilen auf Facebook kritisch kommentiert, wird unauffällig „unsichtbar“ gestellt, ohne dass er oder sie es merkt.

Es ist eine Binsenweisheit, dass die vielen scheinbar kostenfreien Angebote der Blog- und Wikianbieter mit den Daten ihrer NutzerInnen bezahlt werden. Doch wenn selbst die (erfolgreiche) Hamburger Initiative für ein Transparenzgesetz, auf einem durch personalisierte Werbung finanzierten Wiki diskutiert, schlägt Sorglosigkeit in etwas Schlimmeres um.

Die Forderung nach Transparenz und Vollinformation ist im Zweifel zahnloser Kappes. Ob das Netz von Sicherheitsapparaten und Internet-Konzernen beispielsweise kontrolliert wird, ist kein Problem des transparenten Verfahrens, sondern ein Problem der Eigentums- und Herrschaftsordnung. Kein Lokalparlament mehr, dass nicht alle seine Entscheidungen im Netz dokumentiert, keine Experten-Kommission, die nicht mehr alle Informationen sichtet – am Ende sind die inhaltlichen Entscheidungen der Knackpunkt und gerade nicht die fehlende Transparenz.

Doch für Kulturpessimismus, wie ihn einstige Theoretiker emanzipatorischen Mediengebrauchs und die klügeren der alt gewordenen Cybertheoretikerinnen mittlerweile pflegen, besteht kein Anlass. Denn emanzipatorische Medien- und Gesellschaftstheorien unterschieden sich von kalifornischen Cyberutopisten oder piratischen Ideologien immer dadurch, dass sie einen Blick für Machtverhältnisse hatten. Das emanzipatorische Potential liegt nie in der Technik, sondern immer in ihrem Gebrauch und in dessen Präfiguration durch ökonomische und politische Machtverhältnisse.

0011 California — über alles!

Kalifornische Ideologie aus Sicht der Dead Kennedies

Genau das war der blinde Punkt von Cyberidealisten wie John Perry Barlow, der 1996 die viel zitierte Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace[1] verkündete. Für ihn war der Cyberspace ein quasi transzendentaler Ort, zu dem jeder Zugang unabhängig von Privilegien habe und in dem jeder seine Überzeugungen ohne Angst vor Konformitätszwang kund tun könne. Diese Utopie scheitert nicht erst, wenn der Cyberspace mehr Personen umfasst, als einen kleinen Kreis von weißen, amerikanischen Programmierern. Diese Idee markiert von vornherein ein gleichermaßen elitäres Projekt wie auch eines, das keine Vorstellung von Herrschaft hat. Die Vorstellung der edlen Cybernomaden, deren virtuelle Insel durch den kolonisierenden Staat und durch die Vertreter bürokratisch organisierter Telekommunikationsunternehmen bedroht ist, ist griffig in der Personalisierung und sie schafft eindeutige Feindbilder. Doch zum Verständnis des digitalen Kapitalismus oder des digitalen Patriarchats und wie Widerstand dagegen zu organisieren wäre, trugen diese Zerrbilder auch früher nichts bei.

0100 Kampf um digitale Öffentlichkeit

Der digitale Raum ist kein geschichtsloser Ort. Soziale Kämpfe um Zugang und um Verfügung müssen auch hier gefochten werden. Auf der Makroebene gilt es selbstverständlich gegen staatliche Zensurversuche und die Speicherung digitaler Spuren genauso wie gegen die Quasimonopole wie Google anzugehen. Doch der Kampf um den digitalen Raum hat noch eine weitere Dimension, den Kampf gegen Ausschluss.

Wenn Barlow schreibt, dass im Netz Identitäten keine Körper haben, übersieht er, dass z. B. Gender – das soziale Geschlecht auch ohne „echten“ Körper hergestellt wird, denn Geschlecht, Alter und Herkunft sind seit jeher soziale Konstruktionen und keine biologischen Tatsachen. Kurz gesagt „Doing Gender“ findet auch im virtuellen Raum statt. So ziemlich jede, die sich im Netz bewegt, kennt daher auch die hässliche Seite der patriarchalen Geschlechterordnung. Das Netz unterscheidet sich in Bezug auf unzweideutige Angebote, Stalking und Bullying wenig von anderen öffentlichen Räumen. Die Effekte des Cybersexismus wirken nicht zuletzt auf den Meatspace zurück. Der Cybersexismus produziert Ausschlüsse außerhalb des Cyberspaces, indem er entmutigt, im Netz die Stimme zu erheben und die Sprachen des Netzes zu lernen. Doch FeministInnen haben sich nie von jenen abschrecken lassen, die ihnen den Zutritt und die Stimme verwehren wollen. Statt auf jene zu hören, die sagen: Meide diesen und jenen Ort – für dich ist er gefährlich, eignen ihn sich Geekgirls und Nerdettes diesen an. Wie Laurie Penny so schön sagt: Geek sein bedeutet neugierig sein und nicht in einem gescheiterten Startup zu sitzen und Frauen zu hassen. Geek sein heißt herauszufinden wie Dinge funktionieren und sie zu verändern. Das können Programme und Codes sein oder eben Geschlechterverhältnisse.

0110 Das Missverständnis der Schwarmintelligenz

Der Hype um „Twitter-Revolutionen“ und „Facebookaufstände“ vor dem vorerst blutigen Ende der Arabellion, setze als Subjekte sozialer Veränderung die Technologie. Es schien, als stürzten Twitter und Facebook Desposten und nicht die poltischen AkivistInnen, die jene Technologien nutzen. Aber auch hier gilt wieder: Es sind nicht die Technologien, die soziale Veränderung bewirken. Die Demonstrationen und Akte zivilen und militanten Ungehorsam bedürfen einer Organisierung, on- wie offline. Dass die AktivistInnen die errungenen Freiräume schnell wieder veloren haben — erst an die Muslimbrüder, dann ans Militär — wirft Fragen der Organisierung auf. Um Konsens über strategische oder auch nur taktische politische Ziele herzustellen, eignet sie sich der digitale Raum nur begrenzt. Das lernen die Piraten gerade schmerzhaft.

Dieser Schwarm war nicht intelligent genug, nicht ins Netz zu gehen. Fischmarkt in Japan.

Gerade erfolgreiche Beispiele digitaler Dissidenz wie der #Aufschrei zeigen eines: Digitale Mobilisierung funktioniert dann, wenn individualisierte Erfahrungen als kollektive Betroffenheit z.B. von Sexismus markiert wird. Dies setzt aber mindestens bei den Initatoren ein politisches Bewusstsein und ein Reflektionsvermögen voraus, das sich nicht spontan bildet. Der digitale Schwarm ist nicht intelligent, weil er aus vielen besteht, sondern weil er ein gemeinsames Ziel verfolgt. Die Verständigung über diese Ziele ist ein langwieriger und zwingend kollektiver Prozess. Mit dem weit verbreiteten Slacktivismus, der politisches Handeln darauf beschränkt, dutzende Online-Petitionen zu unterzeichnen und immer wieder den Facebookdaumen für Anliegen zu heben, ist es nicht getan.

0111 Die trotzige digitale Radikaldemokratie

Trotz der Misserfolge von Weinmetaphern in der Politik: Nach all dem Wasser, den wir in den gesüßten Wein des Cyberidealismus gekippt haben, stellt sich die Frage wie ein besserer Tropfen gekeltert werden könnte. Abgesehen davon, dass Maschinen, die in der Cloud stehen, schwer zu zerschlagen sind, wer sie anstelle der Bastionen der Herrschaft stürmt, wird mit Steinzeitkapitalismus bestraft. Ein kritischer Digitalismus nutzt die Potentiale neuer Technologien um Freiheitsspielräume zu erweitern, ohne allerdings auf die falschen Versprechungen interessierter DatenkapitalistInnen hereinzufallen.

Auch mit kleinen Schritten ließen sich z.B. soziale Netze fördern, die wirklich in Nutzerhand sind. (Vgl. dazu den Beitrag von Caroline Wiedmann) Denn wer in Informatik schon einmal einen Server für ein offenes soziales Netz aufgesetzt hat, der findet in Zukunft seine FreundInnen bei Diaspora[2] und nicht bei Facebook wieder.. Er oder sie benutzt letzteres nur noch, um Shitstorms zu entfachen.

Bei der Verwirklichung von Open Data und Open Government bleibt für linke Kommunal- und LandespolitikerInnen genug zu tun. Ein Blick auf das Verwaltungsdatenportal GOVDATA zeigt, dass noch viel Potential bei den wirklich interessanten Daten ist. Man kann gespannt sein, wann die erste Optionskommune genug Mut findet oder ausreichend politischen Druck erfährt, um die Zahl ihrer ausgesprochenen Hartz-IV-Sanktionen sowie die der erfolgreichen Widerspruchsbegehren zu veröffentlichen. Auf die App, welche die sozialrechtlich repressivste Gemeinde an den Pranger stellt, sind wir jedenfalls hochgradig gespannt.

Linker Journalismus im Netz müsste mehr sein, als ein zusätzliches Twitter- oder Facebookprofil. Statt Flugblättern im Netz: Diskussion! Statt Vereinsmeierei: Verlinkung des nicht zusammen gedachten! Statt zwei Zeilen Hass: Drei Zeilen Analyse! Statt statischem Text: Neue Darstellungsformen! Denn: Wer Open Data fordert, muss auch etwas damit anfangen.

In diesem Sinne: Die digitale Revolution ist großartig. Alles andere ist Quark.

Links:

  1. https://projects.eff.org/~barlow/Declaration-Final.html
  2. https://joindiaspora.com/