Gretchenfrage

Wie hältst Du es mit dem Prokrastinieren?

Julia Soergel, Konzepterin

„Es mag manchmal nötig sein, Dinge zu tun, die einem nicht gefallen, aber erstens ist das noch unbewiesen, und zweitens lebt man glücklicher, wenn man den Anteil dieser Tätigkeiten so gering wie möglich hält“, schreiben Kathrin Passig und Sascha Lobo. Hätte ich einen beschissenen Job, wäre ich Profi-Prokrastiniererin. Doch glücklicherweise ist das nicht der Fall. Mit einem Freund treibe ich unsere Softwarebude voran. Die ToDos sind bunt und zügig abfrühstückbar, die Kundenkontakte meist sympathisch und der Gesamtumfang luftig genug für etwas Frühlingssonne. Mein Kalender erinnert mich an Termine und Deadlines. Das Allermeiste bekomme ich so pünktlich weggeschaufelt, mit Vergnügen. Prokrastinationsfallen sind langweilige bis leidige Aufgaben ohne fixe Deadline und schattige Siebentausender, die noch nicht überschaubar heruntergesprengt wurden. Und Dinge, die ich eigentlich direkt mit einem klaren Nein hätte ablehnen sollen. Überhaupt, das Nein! Ein zu selten eingesetztes Wunderwerkzeug.

Michael Seemann; Blogger

Ich prokrastiniere nicht. Prokrastination ist das Aufschieben von Tätigkeiten, die man eigentlich zu tun hätte, durch andere Tätigkeiten geringerer Priorität. Zwar klicke auch ich mich stundenlang durch das Internet oder liege einfach nur so rum. Aber ich sehe genau das als meine eigentliche Aufgabe. Ich bin Blogger. Ich schreibe über die Umwälzungen durch das Internet und den digitalen Technologien in der Gesellschaft. Diese Gedanken kommen nicht aus dem Nichts, sondern entwickeln sich langsam. Auf dem Bett, im Park und vor dem Monitor. Irgendwann wache ich auf und habe einen Artikel bereits fertig geschrieben im Kopf. Wenn der Gedanke gut ist, er also viel kommentiert, diskutiert und verlinkt wird, bekomme ich Aufträge. Dann soll ich Artikel für Zeitschriften schreiben, Vorträge über das Thema halten oder Unternehmen beraten. Und während ich diese Dinge vorbereiten sollte, tue ich meine eigentliche Aufgabe: rumliegen und rumklicken. Ohne schlechtes Gewissen, denn was andere Prokrastination nennen, nenne ich mein Geschäftsmodell.

Katrin Passig, Autorin

(u.a. „Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin“)

Prokrastination hat zu Unrecht einen schlechten Ruf. Man kann regalweise Ratgeber darüber kaufen, dass man sich nur mal zusammenreißen müsse, um ohne Trödelei alle Pläne umzusetzen, alle Ziele im Leben zu erreichen. Aber dass wir mehr Freiheiten und Handlungsspielräume haben als unsere Vorfahren oder die Bewohner vieler anderer Länder, bedeutet eben nur, dass wir einen kleinen Teil dieser Möglichkeiten wirklich ausschöpfen können. Der Rest verfällt. Die Prokrastination ist ein wichtiges Diagnosewerkzeug, denn sie teilt uns mit, was wir eigentlich schon als Verschwendung unserer knappen Lebenszeit erkannt haben. Dass der Körper hin und wieder durch Schmerzen auf Überlastung im Job oder Unglück in der Beziehung aufmerksam macht und man besser auf ihn hört, ist seit Jahrzehnten akzeptiert. Aber die Prokrastination gilt als Signal, das unbedingt ignoriert werden muss. Wo Prokrastination ist, da gibt es etwas zu verbessern. Zum Beispiel, indem man das Hinausgeschobene einfach bleiben lässt.

Julia Lehnhof, Kooperative „Bildung in Bewegung“

Dass Prokrastination so verbreitet ist, ist Ausdruck der entgrenzten Formen, in denen wir leben und arbeiten. In meinen Seminaren erlebe ich oft Menschen, die sich angesichts gestellter Anforderungen ohnmächtig fühlen. Durch prekäre Lebensumstände, Leistungsdruck und Unverbindlichkeit in der Kommunikation fehlt meist Zeit für Pausen oder die kritische Prüfung von Aufgaben. In diesem Sinne ist Prokrastination meiner Ansicht nach ein (teilweise unbewusster) Ausdruck der Verweigerung gegen das Regime von Leistungsorientierung und als Freiheit getarnten lebensfeindlichen Anforderungen. Was helfen kann? Mir erscheint das Durchbrechen von Vereinzelung die einzig wirksame Möglichkeit. Konkret: Arbeitsorte mit Menschen teilen, Arbeit und zu erledigende Aufgaben gemeinsam organisieren, Nachfragen, was mit Aufgaben und Anforderungen bezweckt wird. Meine persönliche Hoffnung ist es, dass wir einen Weg finden, Zeit für Muße und Reflexion als selbstverständlichen Teil von Arbeit zu begreifen.

Friedrich Hasse, Schnelllesetrainer

Ich prokrastiniere gern. Als mein Studienabschluss bevorstand, bin ich erstmal zum Tangotanzen nach Buenos Aires geflogen (so was ging damals noch) und kam mit ein paar guten Ideen zurück. Morgens stelle ich nochmal den Wecker auf Snooze, tagsüber geht es in die Hängematte: Prokrastinieren ist ein behagliches Strohfeuer der Augenblickslust, die sich dem bürgerlichen Diktat des Triebaufschubs – „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ – frech entgegenstellt. Doch mit dem nahtlos getakteten Just-in-time-Regime wird nicht nur die Arbeit zunehmend verdichtet, sondern auch der private Alltag. Schon als Teenager soll man jetzt seinen künftigen Lebensweg im Voraus marktkonform asphaltieren. Da treibt das zarte Unkraut der Prokrastination schon fast ein subversives Unwesen. Aber: Man muss sich das auch leisten können, will man nicht untergehen. Wer zumindest phasenweise effizient arbeiten kann, hat mehr Zeit fürs Nichtstun. Schneller lesen – länger daddeln!

Eva Olivin, freischaffende Künstlerin

Indem ich diese Zeilen schreibe, prokrastiniere ich. Eigentlich sollte ich meine Webpräsenz auf Vordermann bringen, die Quartalsbuchhaltung erledigen oder wenigstens eine der vielen Ideen in ein real existierendes Kunstwerk verwandeln, aber dazu bin ich gerade nicht in der Lage. Nun prokrastiniere ich zumindest gut getarnt: Der Zustand, den viele immer noch abwertend als „faul sein“, „Wesentliches vertändeln“ oder schlicht als „vom Weg abgekommen sein“ betrachten, lässt sich besser verschleiern, wenn man auf die Tastatur einhämmert. Doch auch wenn ich stattdessen ohne dringende Notwendigkeit Russisch lernen würde: Ich bin fest davon überzeugt, dass gerade diese Umwege Kraft und Muße für die Verwirklichung der eingangs genannten Ziele generieren. Manchmal später als gedacht und oftmals in viel höherer Qualität als geplant. Nur den Kopf muss man hochhalten, während die Umwelt versucht, ihn dir zu waschen: Das ist keine Untätigkeit. Dies ist ein Tanz mit unbekannter Choreografie.