Beschleunigte Leben

Dimensionen des Geschlechts und der Generation

Katharina Gröning

Im Mittelpunkt von Hartmut Rosas Theorie des „Wandels der Temporalstrukturen“ stand die durch technischen Wandel bedingte Verdichtung von Handlungsketten. Die Menschen sind mit einer Technologie konfrontiert, die das menschliche Vermögen, Zeit zu beherrschen, faktisch außer Kraft setzt. Seit den 1980er Jahren haben sich die Temporalstrukturen des Arbeitslebens im Sinne der Beschleunigung verändert. „Just in Time“ ist neben Wissenschaft und Technik zur zentralen Produktivkraft geworden. Die Herstellung von „Just in Time“, also die Synchronisierung von Zeit betrifft zentral das menschliche Arbeitsvermögen. Neue, zeitliche Moralen und Tugenden hinsichtlich der Arbeit sind institutionalisiert worden. Flexibilität, Verfügbarkeit, Mobilität treten als neue Anforderungen neben die alten Arbeitnehmertugenden Disziplin, Fleiß, Leistung und Loyalität. Hinzu tritt eine Identifizierung mit der Arbeit als zentrale Sinnstruktur des persönlichen Lebens. Arbeit wird im Sinne des Berufsmenschentums (Max Weber) libidinös besetzt und zur Leidenschaft und zwar auch für soziale Gruppen und Berufe, die abgewertet sind. Dies spiegelt sich in der Rede vom Arbeitskraftunternehmer, einer Berufsethik, die den Habitus der Führungskraft auf alle Beschäftigten überträgt.

„Karrierefrau“ und „Kapovazfrau“

Klösterliche Tugenden des Dienstes (protestantische Ethik) und des zeitweisen Lebensverzichts sind mit Modernisierungsanforderungen vor allem der Geschlechterrollen zusammengefallen. Für Frauen bedeutet dies, dass sich die typische Erwerbsform der weiblich dominierten Teilzeitarbeit zur „kapazitätsorientierten variablen Arbeitszeit“ (Kapovaz) und zum ungeschützten Beschäftigungsverhältnis entwickelt hat. Für hoch qualifizierte, akademisch gebildete Frauen bedeutet das, dass sie den Anforderungen des Berufs nur entsprechen können, wenn sie Karrierefrauen werden, also zu Gunsten des Berufs Lebenswünsche zurückstellen und sich dem Beruf gewissermaßen „schenken“. Beide Erwerbsformen, die „Kapovazfrau“ wie auch die Karrierefrau haben spezielle zeitliche Konflikte und Synchronisierungsleistungen zu bewältigen. Während bei der Karrierefrau Stunden nicht zählen — Arbeit Leben und Leben Arbeit ist, ist die „Kapovazfrau“ vor den Konflikt gestellt, dass ihre Arbeitszeit zunehmend nicht mehr verlässlich ist. Jederzeit kann die Zeitanforderung des Betriebs ihre Synchronisierungsleistung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zunichte machen und die Aufstellung eines neuen Zeitplans für den Tag, die Woche, den Monat nach sich ziehen. Und noch eine Dimension der Zeitsynchronisierung innerhalb des Arbeitslebens wird wichtig. Schon in den 1990er Jahren ist von Zentrifugaleffekten in Organisationen (v.a. im Gesundheitswesen) die Rede gewesen. Gemeint ist die schwere Integrierbarkeit von zeitlichen, funktionalen und sinnhaften Abläufen und Maßstäben. Die zeitliche Synchronisierung von Abläufen über Grenzen von Organisationen, von Abteilungen, Berufsgruppen und Hierarchien hinweg ist heute eine zunehmend wichtig werdende Form der Arbeit. Zeitliche Synchronisierung bedeutet vor allem Verhandlungskunst, Kommunikationsarbeit und die Fähigkeit mit Spannungen, Affekten und Störungen umzugehen. Da viele Betriebe im Sinne der Weberschen Organisation noch als Territorien funktionieren, als klassisch männlich-hierarchische Abteilungen, die funktionalen (zeitlichen organisatorischen und konzeptionellen) Anforderungen aber steigen, steigt der Synchronisierungsstress. Zusammenhalten, was auseinander strebt (Maria Rerrich) – dies wird häufig den Frauen, wegen ihrer Kommunikationsfähigkeit, ihrer Fähigkeit zum Umgang mit Störungen, ihrer Ambiguitätstoleranz und ihrer Fähigkeit, Konflikte in einen Kompromiss zu führen, überlassen. Als professionelle und zu bezahlende Kompetenzen gelten diese Tugenden nicht.

Rationalisierung der Kindheit

Doch die soziale Beschleunigung hat das Arbeitsleben längst verlassen und gewinnt im Kontext von Kindheit und Alter sowie im Kontext von Familie eine andere Gestalt. Als (haupt-)verantwortliche Elternteile haben es Mütter neben der klassischen Reproduktionsarbeit mit sich wandelnden Kindheiten zu tun. Kindheit findet heute seltener im Kontext stabiler Lebenswelten und Umwelten statt, sondern ist „verinselt“ (Bertram) und bedarf ebenfalls der Synchronisierung. Kindheit findet an entfernten Orten statt, wird zunehmend formal organisiert und von Experten (mit)bestimmt. Mütter müssen ihre Kinder heute fahren – zum Sport, zur Nachhilfe, zur Musikschule, zum Sprachförderunterricht, zur Ergotherapie oder zum Spielen. Kinder treffen bei diesen Pflichten nicht mehr auf Freund_innen, sondern auf Schicksalsgenoss_innen und Expert_innen, die ihnen etwas beibringen wollen, etwas an ihnen verrichten und dafür bezahlt werden. Diese Rationalisierung der Kindheit entwertet wichtiges Weltwissen des Kindes und formalisiert die zeitliche Struktur des Alltags. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf heißt heute nicht nur, wer holt das Kind aus dem Kindergarten ab, sondern auch, wer fährt es danach zum Zahnarzt, Musik- oder Sprachunterricht. Da Familie eine Herstellungsleistung ist, die täglich über Rituale und Kommunikation institutionalisiert wird, ist Zeit für dieses „doing family“ ein zentraler Faktor. Hinzu kommt eine gewandelte Einstellung der Mittelschichten zum Kind.

Micha Brumlik schreibt, das Kind sei zunehmend ein „zu gestaltendes Gesamtkunstwerk“, das gelingen soll. Dagegen versucht er den Gedanken aufzunehmen, dass die Generationen sich gegenseitig eine zeitliche Heimat geben sollten. Diese Fähigkeit — gegenseitiges Geben von Heimat — ist ein wichtiger Schlüssel zum Sinn des Lebenslaufes und zur Erfahrung von Glück. Auch Bourdieu versucht in „Widersprüche des Erbes“ (1997) zu erklären, warum der Stress im Eltern-Kind-Verhältnis so stark zugenommen hat. Er argumentiert, dass sozialer Aufstieg in der modernen Klassengesellschaft zwar maßgeblich, aber nicht vollständig von der Herkunft bestimmt sei. Dies bedeute für die bürgerlichen Kinder, dass sie ihre Chancen und sozialen Optionen durch kulturelles Kapital legitimieren müssen. Die Demokratisierung des Bildungswesens in den 1970er Jahren habe dazu geführt, dass feinere Formen der sozialen Unterscheidung sich durchgesetzt hätten, die die klassischen Bildungsgüter beträfen. Wer aufsteigen wolle, müsse sich durch eine besondere Erziehung ausweisen, die nicht ohne Weiteres in den allgemeinen Schulen und staatlichen Universitäten zu haben sei. Alte Sprachen, ästhetische Erziehung, besondere Schulen — es hat sich ein großer Markt entwickelt, der Aufstiegsversprechen verkauft. Gleichzeitig sind die Bildungsanforderungen an die Kinder gestiegen. Immer kürzer, immer früher, immer schwerer – vor allem das junge Hirn könne und wolle nur das eine – Lernen. Dass am kindlichen Supergehirn noch eine verletzungsoffene Seele und ein zu beschützender und zu pflegender Körper hängt, gerät dabei aus dem Blick. Eine Zweitsprache, vielleicht gleich ein internationaler Kindergarten, neben Sport auch Musikunterricht, ein eher konservatives Gymnasium und das alles im Rahmen von G8. Die Kindheit hat sich auf diese Weise nicht nur beschleunigt, sie ist „unter Druck“ geraten. Beschämende Erfahrungen des Scheiterns, des nicht Genügens sind so wahrscheinlicher geworden. Der Anstieg des Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) wird von kinderpsychiatrischer Seite zwar ganz im Sinne einer klassischen psychiatrischen Lehre nicht in Verbindung mit den neuen Anforderungen an Kinder gebracht. Bourdieu hingegen sieht die Eltern aufgrund von eigenen unbewussten Bindungen an die Herkunft, das Erbe und die Vergangenheit in einer faktischen „Agentenrolle“ gegenüber dem Kind. Sie verpflichten das Kind auf ein symbolisches oder materielles Erbe, was faktisch verhindert, dass sie ihrem Kind die zentrale Fähigkeit mit auf den Lebensweg geben, die Eltern ihren Kindern mitgeben können, nämlich „a life for us“ (Nussbaum) zu führen. Eine Gesellschaft mit mangelnder sozialer Mobilität verstärkt diese Dynamik.

Generative Lebensform und Prekarisierung

Die Problematik von geschlechtstypischer Beschleunigung bezieht sich auf den jugendlichen Lebenslauf in ganz besonderem Maße. Heute sind Lebensphasen, die einst einen Freiraum dargestellt haben und in der Jugendliche und junge Erwachsene Zeit zum Ausprobieren von Identitäten und Stilen hatten, verschwunden und durch eine Verdichtung von Entwicklungsaufgaben ersetzt. Die Universität Bielefeld hat eine explorative Studie zu der Frage durchgeführt, wie viele Studierende in generative Aufgaben eingebunden sind. Wir wollten wissen, ob und in welchem Umfang es neben der Kindererziehung weitere generative Aufgaben gibt, die neben Studium und Job bewältigt werden müssen. Elf Prozent der Studierenden, so das Ergebnis, sind heute in die Pflege eines schwer erkrankten Elternteils oder Großelternteils eingebunden. Zusammen mit den zehn Prozent Eltern an den Universitäten leistet circa ein Fünftel der Studierenden neben Studium und Job generative Arbeit. Auch bei der Pflege und Sorgearbeit sind es mehrheitlich Studentinnen, die sich um ihre demenzkranken Großeltern und krebskranke Eltern kümmern. Sie ziehen wieder nach Hause, um den gesunden Elternteil zu unterstützen, studieren und arbeiten. Obwohl der Alltag für sie eine große Herausforderung der Synchronisierung von Zeit wird, betonen sie die Bedeutung von guten generativen Bindungen. Sie positionieren sich im Hinblick auf die Sorge für Eltern oder Großeltern kaum im Sinne einer Belastungsrhetorik, sondern heben Verantwortung und Solidarität hervor.

Die Problematik der Pflege und Sorge betrifft indes nicht nur die junge Generation, sondern Frauen und Männer, deren Eltern alt sind und die sich selbst in der ursprünglichen so definierten Lebensphase der späten Freiheit befinden. Diese ehemals vom Gedanken an Freizeit und Konsum als zentrale gesellschaftliche Institutionen bestimmten Lebensphasen werden heute zunehmend durch eine Alterssozialpolitik umdefiniert, die anstelle von später Freiheit, Rente plus Arbeit vorsieht. Die amtliche Pflegestatistik zeigt, dass zunehmend rund um den Beruf gepflegt wird. Das gilt für Männer sowieso. Ihre Beteiligung an der Pflege bezieht sich zumeist auf die Ehepartnerin, ein Pflegesetting, welches meist erst nach der Erwerbsarbeit im Rentenalter eintritt. Diese Tendenz zur „Pflege rund um den Beruf“ und die Entwicklung zur „Bohnenstangenfamilie“ (Rosenmayr) – wenig Kinder, dafür leben vier oder fünf Generationen gleichzeitig, wird die Tendenz möglicherweise weiter verstärken, dass die ganz Alten von den entberuflichten Älteren und den noch nicht voll berufstätigen Enkeln gepflegt werden, während die Lebensphasen des Erwerbs von zunehmender Unvereinbarkeit mit generativen Aufgaben geprägt sind. Ein verantwortlicher Lebenslauf ist nicht abzulehnen, er kann und ist ja auch zumeist die Erfahrung von Sinnhaftigkeit und Befriedigung und ein Gegenstück zur Inkorporation von Beschleunigung. Die generativen Lebensformen dürfen jedoch nicht mit Prekarisierung einhergehen. Die Erfahrung, trotz Leistung, Verantwortung und Solidarität sozial desintegriert zu sein, ist eine massive Beschämung der Betroffenen. Sie fühlen sich zu Recht verhöhnt, wenn ihre Lebenszusammenhänge ungeschützt, ihre Leistungen aber benutzt werden.

Katharina Gröning ist Professorin an der Universität Bielefeld. Sie leitet die Abteilung Frauenstudien und ist Mitglied des Interdisziplinären Frauenforschungszentrums.

Fußnoten:

Bourdieu, Pierre (1997): Widersprüche des Erbes. In ders. Et. Al. Das Elend der Welt. Konstanz, S. 651ff.

Brumlik, Micha (2002) Bildung und Glück. Berlin.

Rosa, Hartmut (2005). Soziale Beschleunigung. Über die Veränderung de Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt/M.