Die Ohnmacht der Getriebenen

Selbstverwirklichung als Handlungszumutung

Claus Leggewie

Burn-out ist zur Volkskrankheit geworden. Betroffenen hilft das Beispiel bekannter Sportler, Politiker und TV-Prominenter, ihr Leiden bekannt zu machen und sich in Behandlung zu begeben. Und Ärzte trauen sich eher eine psychiatrische Diagnose zu; in den 1990er-Jahren haben Hausärzte nur jeden zweiten Depressiven erkannt, mittlerweile sind es 60 bis 70 Prozent. Ganz gleich, ob es eine reale oder eine gefühlte Zunahme gibt, ergibt die Krankheitslast psychischer Störungen einen beachtlichen Handlungsbedarf. Burn-out ist keine Modekrankheit.

Doch während sich Kliniken und Praxen mit Fällen von Depression füllen, bleiben die Härten der Arbeitsorganisation bestehen, die Beschäftigten und Auszubildenden wenig Platz lässt für persönliche Netzwerke, für Familien- und Vereinsleben und für sich selbst. Es trifft alle: Hier die Getriebenen und angeblich Unersetzlichen, dort die Unbeschäftigten und vermeintlich Überflüssigen: Auch sie laufen leer, auch bei ihnen sterben Familie, Geselligkeit und sie selbst allmählich ab. Ein ganzer Zweig aktueller Gesellschaftsdiagnose befasst sich mit dem neuen Persönlichkeitstyp des Ausgebrannten, der die Abläufe nicht durch laute Obstruktion stört, sondern durch stumme Verweigerung.

Als Ursache dafür gilt eine neokapitalistische Kultur, die Fähigkeiten des kreativen Individuums in den Himmel hebt, es aber zugleich unbarmherzig ausbeutet und entwertet. Der Typus des „Arbeitskraftunternehmers“ (Pongratz/Voß), der in der IT-Branche und in der Buntzone der Kreativwirtschaft tätig ist, verkörpert diese Paradoxie der Individualisierung: Weil die Wahlmöglichkeiten zunehmen, kann das Individuum eine Idee verfolgen, die im Kern romantisch und künstlerisch ist: den eigenen Lebensweg frei zu gestalten, sich permanent neu zu erfinden. Auf dieser Vorstellung beruht das „unternehmerische Selbst“ (Ulrich Bröckling), das in Stellenangeboten vom Praktikum an gefragt ist und sich entsprechend anpreisen muss.

Den „unique selling point“, das Alleinstellungsmerkmal kitzelt man heute schon im Kindergarten heraus. Das Problem der Individualisierung besteht darin, dass sie eine Zunahme von Autonomie und Authentizität bedeuten kann, aber auch eine hintergründige Steigerung der Konformität, wenn nämlich die Selbstverwirklichung des Einzelnen ihm als Handlungszumutung der Gesellschaft entgegentritt: Sei kreativ! Die unternehmerische Illusion durchwirkt selbst ungeschützte Leih-, Teil- und Heimarbeitsverhältnisse, jene „Knochenarbeit“ (Frank Hertel), die auch mitten in Europa keineswegs verschwunden ist und durch die kontinuierliche Zufuhr oftmals illegaler Migranten am Leben gehalten wird. Nicht nur in der Mittelschicht, auch „ganz unten“ werden Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Anomie als persönliches Problem herausgestellt. Die Häufung von Depressionen und Suchtkrankheiten aller Art führt auf die Überforderung des (post)modernen Menschen zurück, in Erfüllung des Versprechens der autonomen Persönlichkeit jederzeit für alles selbst verantwortlich sein zu sollen. Depressiv wird er demnach nicht, weil ihm Möglichkeiten verwehrt bleiben, sondern „weil er die Illusion ertragen muss, dass ihm alles möglich ist“ (Alain Ehrenberg).

Unter diesem Druck fallen Menschen empfindungslos in sich zusammen und explodieren in der Sucht nach Reizen, Drogen, Neuro-Enhancement. Unter Umständen, schrieb einmal der Sozialpsychiater Christoph Bialluch, kann eine psychische Störung eine durchaus sinnvolle Reaktion auf eine krank machende Umwelt sein. „Ohne den Leidensdruck romantisieren zu wollen, kann eine Form von Hysterie wieder wichtig werden, die das vermeintliche Wissen über die seelischen Krankheiten unterläuft und Fragen nach dem Sinn aufwirft. Pointiert könnte es auf die Maxime gebracht werden: mehr Christoph Schlingensief, weniger Robert Enke“ (taz 11. März 2011).

Empörung ist angebracht – über das, was Patienten angetan wurde, über Verhältnisse, die derartige Ungerechtigkeiten systemisch produzieren, und über die Hilflosigkeit der therapeutischen Profession angesichts der Schwerkraft dieser sozialen Krankheiten. Die Psychosomatik eines Alexander Mitscherlich ging einmal davon aus, dass jede Gesellschaft ihre (neuen) Pathologien hervorbrächte, womit die Frage nach den sozialen Krankheiten gestellt war.

Therapeuten müssen diesen Konnex mehr ins Auge fassen und selbstreflexiv den Alltag von Kliniken und Praxen durchdringen. Das Gesundheitssystem ist selbst weit stärker ein Teil der Unmenschlichkeit, als das den meisten bewusst ist, die dort, gerade in leitender Funktion, tätig sind. Dazu haben Kostendruck, Bürokratisierung und unreflektierte Routinen des ärztlichen Berufs geführt. Sicher haben Ärzte und Therapeuten genug Ärger mit der nicht enden wollenden Gesundheitsreform, dennoch müssen sie als kritische Zeitgenossen den Perversionen eines Gesundheitswesens begegnen, das heilen soll, oft aber selbst im sozialen Sinne krank ist. Hilfesuchende, die unter dem sinnlosen Stress des Arbeitsprozesses oder einer willkürlichen Hierarchie zusammengebrochen sind, haben nicht viel zu erwarten von einer Einrichtung, die genau dies in ihrem Inneren selbst praktiziert.

Therapeuten sind objektiv überfordert, wenn sie Menschen „heilen“ sollen, die an soziale Grenzen gestoßen sind. Das Problem für viele ist nicht persönliches Versagen, es besteht vielmehr darin, dass vorhandene Fähigkeiten und Talente nicht mehr angemessen bewertet werden. Unlösbar wirkende Konflikte der Individuen sind vielfach in externen Zwangslagen begründet, welche Ingenieure und Sozialarbeiter, Studierende und Therapeuten geradezu zwingen, schlechte Arbeit abzuliefern – unter deren Mangelhaftigkeit sie dann leiden und krank werden. Die Patienten werden bei gelungener Therapie vielleicht wieder arbeitsfähig, aber sie werden doch auch immer wieder an die eisernen oder gläsernen Gehäuse von Herrschaft stoßen.

Wir müssen den Entwurf einer neuen politischen Praxis wagen. Gegen den „kollektiven Burn-out durch Langeweile“, gegen eine substanzlose Produktion von Prestigeobjekten und die Sprachlosigkeit familiärer Kommunikation, kann jenseits der (unbedingt gebotenen!) Reparatur individueller Neurosen auch die Kraft gemeinschaftlicher Ideen und Projekte etwas ausrichten. Das Burn-out-Bild macht uns kleiner als wir sind, erste Schritte sind längst unternommen. Das oben gescholtene Projektemachen des unternehmerischen Selbst bekäme dann einen Sinn. Niemand will ernsthaft zurück in starre Unternehmens- und Familien-hierarchien, bei all seiner Ambivalenz ist das unternehmerische Selbst eine Errungenschaft. Produktiv wird sie aber erst, wenn jenseits bloßer Wohlstandsvermehrung und Katastrophenabwehr neue Ziele erkennbar werden, wenn die Sorge um die soziale und natürliche Umwelt keine Phrase bleibt und wir echte Verantwortung für künftige Generationen übernehmen.

Claus Leggewie ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen und Mitherausgeber der Blätter für deutsche und internationale Politik.