Ökonomie der Zeit

Die Kreativität des Lebens im Widerstreit mit ihrer effizienten Ausnutzung

Frigga Haug

In Wikipedia erfährt man: „Ökonomie ist die Gesamtheit aller Einrichtungen und Handlungen, die der planvollen Deckung des menschlichen Bedarfs dienen.“ Bleibt die Frage, was menschlicher Bedarf ist und wer plant. Fragt man ergänzend nach der Ökonomie der Zeit, wird man sogleich ins marxistische Vokabular eingeweiht, allerdings mit dem Zusatz, Ökonomie der Zeit bedeute Zeiteinsparung. Offen bleibt, wozu und von wem. Später geht es kritischer zu. Ökonomie der Zeit wird auch mit einem guten Leben verbunden und weiter (mit Marx) offen gelassen, wie viel Zeit die einzelnen für die möglichen tätigen Weisen in der Welt zu sein, ausgeben wollen, sobald sie das Nötigste zum bloßen Überleben getan haben. Aber das gehört schon ins Reich der sozialistischen Perspektive. Zwischen Zeiteinsparung und frei verfügbarer Zeit spannt Profitgier das Verhältnis radikal – Arbeitslosigkeit und Überarbeit markieren den Entwicklungsweg. Peter Hartz beschreibt in seinem Buch „Jobrevolution“, wie Zukunft zu planen sei. Er denkt Menschen als Maschinen und will für ihre optimale Auslastung in der Zeit sorgen: rennen, rackern, rasen. (1)

Was weiß sie von Ökonomie, die Zeit?

So kapitalismuskritisch können wir einverständig darüber sprechen, dass über Zeit von anderen für Profitzwecke verfügt werde. Oder dass abgeschoben wird, wer nicht mehr gebraucht wird. Allerdings bleibt ein nagender Zweifel, ob wir den Zeitpark tatsächlich zur Gänze abgeschritten haben, wenn wir uns die Frage der Zeitökonomie so planvoll und rational im Verhältnis von Individuum und Kapital kritisch zurechtgelegt haben.

Eine Erzählung über den Tagesablauf einer Frau

Flüchten wir zur Abwechslung in eine andere Gesellschaft, in die vergangene sozialistische, die, was immer gegen sie vorzubringen ist, ihre Zeitökonomie nicht unter dem Diktat des Profitzwangs betrieb. 1969 erschien in der Zeitschrift Novy Mir eine Erzählung über die Tagesabläufe einer Frau, die eigentlich alles hat, was zur Befreiung der Frau gehört. (2) Eine gute Ausbildung, eine verantwortliche Stelle im Betrieb, ein gutes Arbeitskollektiv, Weiterbildung und Verantwortung; sie liebt ihre Arbeit, ihren Mann Dima und ihre zwei Kinder. Sie haben eine Wohnung. Und dennoch ruft sie: „Soll doch alles zum Teufel gehen.“ Und am Ende fragt sie: „Und wenn ich das alles nicht bräuchte?“

Die Erzählung erregte großes Aufsehen und wurde in viele Sprachen übersetzt. Auch mir blieb sie unauslöschlich in Erinnerung, dabei beschreibt sie wenig mehr als Dauerstress. Olja rennt unaufhörlich, kommt immer zu spät, verpasst den Bus, die Anfangszeiten, das Seminar, rennt weiter. „Die Sitzung beginnt. Los. Ein bisschen schneller… Warum verspäten Sie sich dermaßen?“ Sie hat die Sitzung nicht vorbereitet. Sie hat vergessen, Dima zu sagen, dass das Seminar nach Arbeitsschluss stattfindet und er den Kindern zu essen geben muss. Es ist nichts vorbereitet. – Im Betrieb wird ein Fragebogen ausgegeben zum Zeitverbrauch – wie viel Zeit für die Kinder, die Familie, die Arbeit usw. Sie hat keine Zeit, ihn rechtzeitig auszufüllen, sie kann es nicht, weil sie die Zeit nicht messen kann? Wie viel Zeit für die Kinder? „Es stellt sich heraus, dass wir für zu Hause achtundvierzig bis dreiundfünfzig Stunden Zeit haben. Warum reichen sie nicht? Warum ziehen wir soviel Unerledigtes von Woche zu Woche hinter uns her? Wer weiß das? Wer weiß wirklich, wie viel Zeit das fordert, was sich ‚Familienleben‘ nennt? Und was das überhaupt ist?“ Aus dem Kindergarten bringen die Kinder fortwährend Krankheiten mit, sie müssen dennoch hin, denn die Eltern können nicht einfach zuhause bleiben. Ohnehin hat Olja so viele Krankmeldungen, ein Drittel ihrer Gesamtarbeitszeit, dass sie alles nicht mehr schafft: Nicht die Untersuchungen im Labor, nicht die praktischen Messungen und deren Protokolle, nicht den Einkauf, aber wenn denn doch, dann jedenfalls nicht die Wäsche, das Putzen zuhause. Aber manchmal gibt es Ruhe am Wochenende. Dann erinnern sich die beiden ihrer Liebe und schon vergessen sie, den Wecker zu stellen für den Montag. Zu spät rasen sie mit den Kindern in Krippe und Kindergarten, können keine Rücksicht darauf nehmen, dass der Junge nicht gehen will, weil ihn die Kindergärtnerin fälschlich beschuldigt. Für Olja bleibt keine Zeit zum Frühstücken. Der Bus ist zu voll. Sie nimmt den nächsten, kommt wieder zu spät, wird gerügt. Sie könnte mehr aus sich machen. – Sie weiß nicht, warum sie am Ende der Woche nicht aufhören kann zu weinen. „Und wenn nie Zeit ist, miteinander zu reden?“

Die Erzählung handelt nicht einfach von der Doppelbelastung der Frau, wie der Verlag einordnend verkündet. Das wäre vergleichsweise einfach zu lösen, indem die Arbeiten und Zuständigkeiten noch gleichmäßiger verteilt würden. Sie handelt von der Unvereinbarkeit von gesellschaftlicher Arbeitsplanung und individuellem Leben. Letzteres ist nicht planbar. Da melden sich Krankheiten und Müdigkeit von Körper und Geist, Bedürfnisse nach Liebe und Umsorgtsein, nach Gesprächen, nach Muße. Da ist die Suche nach dem Sinn des Lebens, für die keine Zeit bleibt, weil alles überverplant ist. Das notwendige Hinterherrennen hinter allem lebt sich als Stress. Das Glück rennt hinterher und kann die Forteilenden nicht einholen. Es gibt keine einfache Lösung.

Keine harmonische Lösung

Aber es lässt sich lernen, dass wir bei unseren Vorstellungen, wie eine bessere Gesellschaft sein müsste, in erster Linie auf die Kämpfe um Zeit orientieren. Es geht nicht um ein Entweder/Oder – Erwerbsarbeitszeit oder Freizeit oder Familienzeit. Mit einfacher Umverteilung lassen sich die ganz verschiedenen Bereiche nicht unter einen Hut bringen, wenn dieser zu eng ist, die unterschiedlichen Zeitlogiken aufnehmen zu können. Die vielfältige Kreativität des Lebens widerstreitet der Stoppuhr effizienter Ausnutzung. Es wird keine harmonische Lösung geben. Aber die Kämpfe um Zeit sind so zu führen, dass die nichtverplante Zeit so großräumig gefasst wird, dass Leben überhaupt möglich ist. Die notwendige Praxis wollen wir die Kunst des Lebens nennen. Sie sich anzueignen braucht Zeit.

Frigga Haug war bis 2001 Professorin für Soziologie an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik. Sie ist Vorsitzende des „Berliner Instituts für kritische Theorie“ und engagiert sich im Kuratorium des „Instituts Solidarische Moderne“.

Fußnoten:

1) Vgl.: Haug Frigga, Schaffen wir ein neues Menschenbild! Von Ford zu Hartz, in: dies. Die Vier–in–Einem–Perspektive. Hamburg 2008 3A 2011.

2) Natalja Baranskaja, Woche um Woche. Frauen in der Sowjetunion, Frankfurt/M 1979.