Gesang der Eule

Die revolutionäre Kraft des späten Schulbeginns

Caren Lay

„Wir brauchen keine Bildungsreform, sondern eine Bildungsrevolution“, fordert Deutschlands Populärphilosoph Richard David Precht auf dem Klappentext seines neuen Buches. Wer wie ich als eines von wenigen Mädchen ein altsprachliches Jungengymnasium besucht hat, braucht das Buch nicht zu lesen, um zu wissen, dass der Mann recht hat. Der Forderung nach einem späteren Schulstart am Morgen kommt bei der Revolutionierung des Schulsystems eine besondere Bedeutung zu. Üblich ist in Deutschland der Schulbeginn ab 8 Uhr, es gibt sogar Schulen, die beginnen um 7 Uhr. Rechnet man die langen Anfahrtswege gerade auf dem Land hinzu, so kann es passieren dass SchülerInnen um 5 Uhr aufstehen müssen. Der gesunde Menschenverstand lehrt, dass das nicht gut sein kann.

Die Eulen unter uns können ein Lied davon singen. Wir wurden um eine behütete Kindheit und den Genuss der Jugend gebracht, weil der Wecker noch vor dem Morgengrauen so unerbittlich klingelte. Es ist nicht ehrenrührig zu sagen, dass es einfach viel mehr Spaß macht, länger zu schlafen. Kein Unterrichtsbeginn vor 9 Uhr, das erscheint mir logisch! Schützenhilfe kommt aus der Wissenschaft: Schlafforscher und Bildungsforscherinnen, Psychologen, ja sogar Verkehrswissenschaftlerinnen plädieren für einen späteren Schulstart am Morgen. Deutlich mehr Schüler bekommen so mehr Schlaf, Konzentration und Leistung steigen, es wird weniger geschwänzt, die SchülerInnen sind weniger depressiv. Ja, es sinkt sogar die Zahl der Autounfälle, da weniger Eltern übernächtigt zur Schule rasen müssen.

Die GegnerInnen des späten Schulbeginns argumentieren: Ein späterer Schulbeginn würde die flächendeckende Einführung der Ganztagsschule bedeuten. Doch das spricht eher dafür, als dagegen. Die Integration von Sport- und Musikangeboten in den Unterricht wäre eine Entzerrung des gesamten Tagesablaufs. Die Bereitstellung eines gesunden Mittagessens an jeder Schule wäre ebenso eine Konsequenz wie das Wegfallen von Hausaufgaben. Kurzum: eine Reihe von weiteren, längst überfälligen bildungspolitischen Forderungen müssten eingeführt werden und würden das gesamte Schulsystem revolutionieren. So positiv der Zuspruch ist, den der späte Schulbeginn inzwischen in der bildungspolitischen Diskussion erfährt, so wird die revolutionäre Kraft desselben für die gesamte Gesellschaft noch immer unterschätzt. Ganz banal macht weniger Hektik am morgen bessere Laune, glücklichere Familien und entspanntere Menschen. Das ist an sich ein Gewinn. Hinzu kommt: Der frühe Schulbeginn passt zum Fordismus, mit seinenAnforderungen an Disziplin und Unterordnung, Funktionieren und Malochen. Die Schule, die sich darauf ausrichtet, ist nicht nur abschreckend, sie ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Ein anderes gesellschaftliches Leitbild, das sich am Genuss und der Selbstverwirklichung, am lustvollen Sozialismus orientiert, muss auch eine andere Schule haben. Eine, die sich an Kreativität und Entdeckungslust, an Neugier und Motivation orientiert. Weg mit Disziplin und Gehorsam, her mit dem schönen Leben! Das Recht auf Ausschlafen ist ein Angriff auf die protestantische Arbeitsethik, den Geist des Kapitalismus. Und weil der Schulbeginn nicht nur den Rhythmus für SchülerInnen und LehrerInnen, sondern auch den der Betriebe strukturiert, kann man sagen: Sollte sich das Recht auf Ausschlafen für SchülerInnen durchsetzen, wird es auf absehbare Zeit auch für die ArbeiterInnenklasse gelten.

Caren Lay kam meistens zu spät zum Unterricht und macht auch heute noch gerne die Nacht zum Tag.