22.10.2013

Das Handeln der Einzelnen

Gottfried Oy/Christoph Schneider: Die Schärfe der Konkretion. Reinhard Strecker, 1968 und der Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Historiografie, Münster, 2013, 252 S. , 24,90 Euro

Bernd Hüttner

Der 1930 geborene Reinhard Strecker organisierte 1958 aus dem SDS heraus eine Petition an den Bundestag, in der eine Verfolgung der Straftaten von Richtern, Ärzten und Staatsanwälten während des Nationalsozialismus gefordert wurde. Aus den dafür mühsam zusammengetragenen Materialien erstellte er zusammen mit anderen eine Ausstellung, die erstmals – eher halböffentlich – im Mai 1959 im Rahmen einer Konferenz des SDS in Frankfurt/Main gezeigt wurde. Thema der Konferenz war der zehnte Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes. Größere Resonanz erzielte sie allerdings erst als sie unter dem Titel „Ungesühnte Nazijustiz[1]“[1] im November 1959 in einem Lokal (!) in Karlsruhe gezeigt wurde und erste Fürsprecher wie den damaligen Generalbundesanwalt und späteren CDU-Bundestagsabgeordneten Max Güde fand. Er bestätigte die Echtheit aller in der Ausstellung gezeigten Dokumente. Die Ausstellung nannte Namen und Nachkriegskarrieren und verwies ebenso auf die strukturelle Untätigkeit bei der Verfolgung von NS-Tätern. Sie wurde danach an weiteren Orten, auch im Ausland, gezeigt.

Im ersten Drittel des Buches findet sich ein Interview mit Strecker, das im Herbst 2011 geführt wurde. Es enthält viele Einzelinformationen, liefert aber kein wirkliches Bild der Biografie von Strecker, will dies vielleicht auch nicht. Der Leserin fällt es aber schwer, aus dem Interview ein einigermaßen kohärentes Bild von Strecker zu erzeugen, etliches bleibt unverständlich, wie etwa die mehrmals angesprochene finanzielle Dimension des Ausstellungsvorhabens. Das Interview zeigt aber, was rund um die Ausstellung hinter den Kulissen passierte und gibt Einblicke in das Privatleben des dann ab 1970 beim Goethe-Institut in Berlin arbeitenden Strecker.

Der zweite Teil des Buches, ein Essay von Gottfried Oy, skizziert die theoretischen Debatten und Aktivitäten der neuen Linken zum Antisemitismus und zum Umgang mit dem Nationalsozialismus vor »1968 «. Oy kann anhand des Wirkens von Margarete von Brentano eine auf der Rezeption der Kritischen Theorie beruhende wissenschaftliche Debatte nachweisen, die jenseits der Totalitarismustheorie und der ökonomistisch-verkürzten Faschismusdefinition liegt.

Der Essay von Christoph Schneider schließt den Band ab. Er geht auf die mentale und ökonomische Situation des wirtschaftlich aufblühenden, postfaschistischen Deutschlands der 1950er und 1960er Jahre ein. Die Forschung geht heute von 250.000 TäterInnen als Beteiligte alleine bei der Ermordung der europäischen Juden aus, von denen nur circa 6.500 verurteilt wurden. Die Täter waren Ende der 1950er Jahre längst wieder integriert und akzeptiert. Viele Taten waren juristisch verjährt, der Antisemitismus, den es freilich weiterhin gab, vom Antikommunismus überformt und abgelöst. Die antifaschistische Kritik, wie sie vom SDS, von Strecker und anderen vorgebracht wurde, erschien deshalb so anachronistisch. »Verantwortung zu übernehmen«, wovon dann so gerne in den 1980er und den darauffolgenden Jahren gesprochen wurde, hätte damals personelle Konsequenzen bedeutet.

Oy und Schneider haben mit ihrem Buch das Wirken von Strecker und anderen Einzelpersonen gewürdigt. Neben der lesenswerten Gesellschaftsdiagnose liefern sie ein eindrückliches Beispiel dafür, dass das engagierte Handeln von einzelnen Menschen sehr wohl Bedeutung und Folgen hat.

[1] Vgl. Stephan Alexander Glienke 2008: Die Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« (1959–1962). Zur Geschichte der Aufarbeitung nationalsozialistischer Justizverbrechen, Baden-Baden.

Zum Weiterlesen: Diskussionsrunde „Die Bedeutung der Faschismusdiskussion in den 60er Jahren“[2] mit Wolfgang Lefèvre und Reinhard Strecker.

Links:

  1. http://de.wikipedia.org/wiki/Ungesühnte_Nazijustiz
  2. http://www.glasnost.de/hist/apo/apo882.html