Hungrig im Sozialstaat

Deutschland verletzt systematisch das Recht auf Nahrung

Richard Klasen

Am 22. Februar feierte Deutschland „20 Jahre Tafeln“. Gäste aus Politik, Gesellschaft und Wirtschaft waren geladen. PolitikerInnen aller Couleur nutzten die Gunst der Stunde und bedankten sich bei den Ehrenamtlichen medienwirksam für den „mildtätigen“ Einsatz für ihre „bedürftigen“ Mitmenschen. Nur eines war dabei kaum zu hören: Dass es eigentlich die Pflicht des Staates wäre, sich um eine gesunde und ausgewogene Ernährung der innerhalb Deutschlands Grenzen lebenden Menschen zu kümmern – und dass die Tatsache, dass der Staat diese Aufgabe zunehmend an die Zivilgesellschaft outsourced, ein Skandal, und kein Grund zum Feiern ist.

Grundgesetz und Recht auf Nahrung

Das Recht auf Nahrung ergibt sich schon aus dem im Grundgesetz festgelegten Sozialstaatsgebot: Die in Artikel 1 festgelegte Menschenwürde umfasst auch das Recht auf angemessene Nahrung. Im selben Sinn sind auch die Artikel 20 und 28 zu verstehen, welche die Bundesrepublik als Sozialstaat definieren. Die „Ewigkeitsklausel“ des Artikel 79 schließlich schützt den sozialstaatlichen Charakter der Verfassung ausdrücklich vor Abänderungen jeder Art.

Das Recht auf Nahrung ist im Grundgesetz jedoch im Gegensatz zu den die Freiheit der BürgerInnen vor einem totalitären Regime schützenden Bürgerrechten kaum ausformuliert. So regeln die in den ersten 19 Artikeln der Verfassung definierten Grundrechte detailliert die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis sowie die Versammlungsfreiheit, während sich kein gesonderter Artikel zum Recht auf Nahrung finden lässt. Und das, obwohl 1949, als das Grundgesetz Gestalt annahm, Hunger noch ein verbreitetes Phänomen im zerstörten Nachkriegsdeutschland war.

Das westdeutsche Wirtschaftswunder und die anziehende Konjunktur machten einen Praxistest dann lange Zeit unnötig. Auch der Kampf der Systeme im Kalten Krieg, in dem ein funktionierender Sozialstaat – und damit auch eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung – ein Pfund war, mit dem man wuchern konnte, verhinderte eine Aushöhlung des Sozialstaatsgebots der Bundesrepublik. In diesem Sinn ist es vielleicht kein Zufall, dass das Phänomen der „Tafeln“ Anfang der Neunziger Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auftrat: Demnach bedeutete das von Francis Fukuyama postulierte Ende der Geschichte auch das schleichende Ende des Sozialstaats.

Deutscher Staat verletzt Menschenrecht auf Nahrung

KritikerInnen wenden gerne ein, dass es echte Armut – und damit echten Hunger – in Deutschland gar nicht gibt. In der Tat ist es so, dass es den meisten Menschen in Deutschland im internationalen Vergleich immer noch vergleichsweise gut geht. Dennoch machen Wohlfahrtsverbände, Kinderschutzorganisationen, Asylverbände oder das FoodFirst Informations- und Aktions-Netzwerk (FIAN) schon seit Jahren auf von Ernährungsarmut betroffene Gruppen in Deutschland aufmerksam.

Besonders alleinerziehende Frauen, Kinder und Jugendliche, in Pflegeheimen untergebrachte Menschen sowie AsylbewerberInnen und andere Flüchtlinge sind demnach von unzureichender Ernährung betroffen. Und die Zahl der Betroffenen nimmt stetig zu.

Zu den Kritikern deutscher Sozialpolitik zählt auch der Sozialausschuss der Vereinten Nationen. Bereits 2001 zeigte sich der Ausschuss mit Sitz in Genf über die Zustände in deutschen Pflegeheimen besorgt. Bemängelt wurden zum Teil gravierende Probleme bei der Versorgung der betroffenen Menschen mit Nahrung und Flüssigkeit. 2011 erneuerte der UN-Sozialausschuss seine Kritik und wies auch auf die menschenunwürdige Ernährungssituation von Asylsuchenden und die wachsende Kinderarmut in Deutschland hin. Grundlage der Kritik waren unter anderem die Leistungen für AsylbewerberInnen und die willkürlich festgelegten Regelsätze für Hartz-IV beziehende Kinder und Jugendliche sowie deren Familien.

Statt Konsequenzen zu ziehen, wertete das zuständige Arbeits- und Sozialministerium die Kritik als unwissenschaftlich und unangebracht ab. Dabei stand der UN-Sozialausschuss mit seiner Kritik nicht alleine da und berief sich bei seinen Einlassungen explizit auf das „Hartz IV-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts von 2010: Das höchste deutsche Gericht bemängelte damals die Regelleistungen als nicht „transparent und nachvollziehbar“ und verlangte ein „menschenwürdiges Existenzminimum“.

UN-Völkerrecht auch für Deutschland verbindlich

Die kritische Einschätzung der Ernährungssituation in Deutschland durch den UN-Sozialausschuss fußt auf dem „Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte“, kurz UN-Sozialpakt genannt. Dieser Pakt trat 1976 in Kraft und wurde von beiden deutschen Staaten ratifiziert. Artikel 11 des UN-Sozialpakts regelt das „Recht auf angemessenen Lebensstandard, das Recht auf Schutz vor Hunger und das Recht auf Nahrung“.

Der UN-Sozialpakt besitzt in Deutschland den Rang eines Bundesgesetzes. Er hat damit keinen Verfassungsrang. Umso bemerkenswerter war der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 über die Verfassungswidrigkeit der aktuellen Sozialleistungen für Asylsuchende: Erstmals betonte das Verfassungsgericht auch die völkerrechtlichen Verpflichtungen des Staates bei der Sicherung des Existenzminimums und verwies dabei ausdrücklich auf den UN-Sozialpakt. Demnach habe der Gesetzgeber die dort festgesetzten Regelungen zu achten. Der UN-Sozialpakt und die völkerrechtliche Verpflichtung Deutschlands wurden mit diesem Urteil aufgewertet. Dem muss nun eine politische Aufwertung folgen.

Ein erster Schritt wäre die Ratifizierung des Zusatzprotokolls zum UN-Sozialpakt: Dieses Zusatzprotokoll wurde 2008 von der UN-Generalversammlung in New York auf den Weg gebracht. Es würde Menschen, deren im UN-Sozialpakt definierten Menschenrechte verletzt wurden, die Möglichkeit geben, ihr Recht beim UN-Sozialausschuss einzufordern, sobald der nationale Rechtsweg erschöpft ist. Auch in Deutschland Betroffenen stünde dann dieser Rechtsweg offen. Doch das in Deutschland für den UN-Sozialpakt zuständige Arbeits- und Sozialministerium unter Ursula von der Leyen wehrt sich bis dato gegen eine Ratifizierung.

Woher kommt der Widerstand aller bisherigen Bundesregierungen gegen eine Aufwertung des UN-Sozialpakts? Der Grund liegt in einem protektionistischen Politikverständnis, der in einer Anerkennung und Aufwertung der sozialen Menschenrechte und damit des UN-Sozialpakts eine unerwünschte Einmischung in den deutschen Politikbetrieb sieht. Deutsche PolitikerInnen wünschen sich auch in Zukunft freie Hand bei der Ausgestaltung des Sozialstaats. Dabei liegen sie zumindest teilweise einem Irrtum auf: Die sozialen Menschenrechte setzen zwar Standards fest, überlassen deren Anwendung aber sehr wohl nationalen Regierungen und Parlamenten. Der Wille, menschenrechtliche Standards zu respektieren und politisch umzusetzen, wäre zukünftig aber besser messbar und das Recht auf Nahrung sowie andere soziale Menschenrechte einklagbar.

Richard Klasen ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er arbeitet für das FoodFirst Informations- und Aktions-Netzwerk (FIAN).