Kritik der Unmittelbarkeit

Wieso es kein jenseits der Repräsentation gibt

Philipp Schink

Eine Kritik an der derzeitigen Verfassung real existierender demokratischer Strukturen ist mehr als angebracht. Das gilt für die unzureichende Kontrolle von Regierung und politischer Entscheidungsfindung sowie für die mangelnde Fähigkeit soziale Machtungleichheiten auf der politischen Ebene nicht einfach nur widerzuspiegeln. Für die Interessensdurchsetzung gesellschaftlicher Eliten auf Kosten sozial Abgehängter und die Entkopplung parlamentarischer Politik von Belangen der Bürgerinnen gilt gleiches. Ob diese Diagnosen nun unter den Titel der „Post-“ oder der „Publikumsdemokratie“ gestellt werden, regelmäßig wird ihre Pointe darin gesehen, dass sie auf eine Kritik des Prinzips der Repräsentation hinauslaufen. Bemerkenswert ist, dass auch gleich eine Kur empfohlen wird. Das probate Mittel gegen die Malaisen der demokratisch-repräsentativen Verfahren sei eine Verstärkung direkt-demokratischer und allgemein partizipativ-unmittelbarer Elemente. Dass nun die Idee direkter Demokratie gegen jene der Repräsentation gesetzt wird, ist alt. Im Hintergrund stehen unterschiedliche Vorstellungen von Legitimität und von den Rationalitätspotentialen von Politik und Demokratie.

Interessant ist, dass diese Idee im Zuge des zunehmenden Bedeutungsgewinns des neuen Internets – des Web 2.0 — die Überlegungen vieler orientiert. Wenn das Aufkommen neuer Kommunikationsmittel eine Kritik der repräsentativen im Namen direkter Demokratie animiert, dann liegt dem ein weitverbreitetes Missverständnis zugrunde. Die Idee, politische Strukturen auf Prinzipien der Repräsentation beruhen zu lassen, ist keinesfalls der Größe heutiger Staaten und Gesellschaften geschuldet. Repräsentation ist nicht ein defizitärer Behelf, leider erforderlich, da wir nicht in einer antiken Polis oder Rousseauschen Städterepublik leben und nicht in einer öffentlichen Versammlung gemeinsam zu Entscheidungen kommen können. Stattdessen werden gerade in der republikanischen Tradition vor allem zwei Eigenschaften mit Repräsentation verbunden: Erstens eine verbesserte Meinungsbildung und bessere politische Entscheidungen durch politische Deliberation. Entscheidungen können nur dann „demokratisch“ getroffen werden, wenn auch ein Raum entsteht, in dem Argumente ausgetauscht und Diskussionen stattfinden können. Zweitens eine Arbeitsteilung, die es denjenigen, die den Sinn ihres Lebens nicht in der politischen Partizipation sehen, oder aufgrund beruflicher oder privater Verpflichtungen keine Zeit zum Engagement für die öffentliche Sache haben, dies ermöglicht und ihnen zugleich eine Teilhabe an der Kontrolle der Politik sichert.

Vote The Bastards Out

Repräsentative Prinzipien wurden in Kritik der Unzulänglichkeiten direkter Demokratie entwickelt. Insofern besteht die Gefahr, dass man durch die Demokratisierung das Kind mit dem Bade ausschüttet, da die zu begrüßenden Eigenschaften, die mit dem Prinzip der Repräsentation verbunden sind, durch direkt-demokratische Verfahren schwinden werden. Zudem wird schon beim einfachen Blick auf die Prozesse im Web 2.0 oder das Verfahren der Liquid Democracy deutlich: Auch hier kommen die Beteiligten in der Regel irgendwann auf Mechanismen der Repräsentation zurück. Es gibt praktisch kein jenseits der Repräsentation. Das spricht nicht prinzipiell gegen partizipative Demokratie und auch nicht gegen Volksentscheide. Aberes sollte sehr kritisch geprüft werden, ob denn eine Verstärkung direkt-demokratischer Anteile in den politischen Verfahren tatsächlich das beste Gegenmittel zu den diagnostizierten Problemen der „Postdemokratie“ ist. Die Erfahrungen mit den jüngsten Volksentscheiden zeigen: Mal geht so etwas gut aus, mal nicht. Das herrschaftskritische Bewusstsein einer Kluft zwischen Regierenden und Regierten ist erforderlich, damit die Regierten tatsächlich von ihren Kontrollmöglichkeiten Gebrauch machen. Dies ist so etwas wie eine dritte Eigenschaft der Repräsentation: Der Basso Continuo des „Vote the bastards out“, der nicht legitimationstheoretisch befriedet werden sollte. Am Ende bleibt auch hier das eherne Problem des politischen Kampfes der Machtlosen, jene zu mobilisieren, die die Opfer und Elenden der Verhältnisse sind. Dies bleibt die eigentliche Schwierigkeit, die man mit keiner institutionellen Phantasie gelöst bekommt.

Philipp Schink ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie an der Universität Frankfurt. Er forscht zu Problemen der Freiheit und des Republikanismus.