Im Land der Frühaufsteher

Eine Graphic Novel erzählt die Geschichte eines doppelten Verbrechens

Stefan Gerbing

In schlichten Bildfolgen erzählt Paula Bulling in „Im Land der Frühaufsteher“ die Geschichte zweier Verbrechen. Das erste ist der gewaltsame Tod eines Menschen, der wahrscheinlich für immer unaufgeklärt bleibt. Der Asylbewerber Azad Hadji wurde 2009 im sachsen-anhaltinischen Möhlau mit schweren Brandverletzungen vor dem Tor der örtlichen Flüchtlingsunterkunft gefunden. Er starb wenig später. Das zweite Verbrechen ist die Unterbringung von Menschen in (von FlüchtlingsaktivistInnen „Dschungelheime“ getauften) Orten. Die BewohnerInnen sind von öffentlichen Verkehrsmitteln abgeschnitten, in ihrer Bewegungsfreiheit durch die Residenzpflicht eingeschränkt und müssen in ehemaligen Kasernen oder heruntergekommenen Containern leben.

Bulling entwickelt einen beeindruckenden Stil, die Trostlosigkeit solcher Orte darzustellen. Die Dialoge sind karg, ganze Sequenzen kommen ohne Text aus. Die einzelnen Panels nehmen über lange Strecken lediglich Verschiebungen der Blickperspektive vor. Es gibt keine Bewegungslinien, die Dynamik andeuten. Immer wieder durchbrechen Skizzen einzelner Objekte den Erzählfluss: der alte Elektrokocher und die triste Tischtennisplatte aus Waschbeton. Bei der Darstellung von Personen verzichtet Bulling auf die in Comics üblichen rassistischen Klischees. Hautfarbe ist gerade nicht Unterscheidungs- und Individualisierungsmerkmal und variiert je nach Perspektive und Lichteinfall. An diese künstlerische Leistung reicht die Erzählebene der Graphic Novel nicht heran. Zwar will die Autorin ihren Figuren die eigenen Stimmen belassen. Teile des Textes sind französisch. Regeluntypisches Sprechen von Personen, deren Primärsprache nicht Deutsch ist, hat sie gemeinsam mit Noel Kaboré, einem Hallenser aus Burkina Faso, erarbeitet. Ihr gelingt aber keine überzeugende Dramaturgie. Ihre Figuren bleiben konturlos, das Buch bleibt eine Aneinanderreihung von Szenen. Wir erfahren nichts über die Figur Paula und ihre Motive und ebenso wenig über die Flüchtlinge, denen sie begegnet. Wir wissen nichts über ihre Geschichte, ihre Wünsche, Träume und Leidenschaften. Wir wissen nicht, was der Tod von Hadji für ihr Leben bedeutet.

Stark ist der Text, wo die Autorin sich mit eigenen Konflikten in den Text einschreibt. Eindrücklich sind die Wechsel zwischen der von ihr bewohnten Welt und jener der Flüchtlinge. Sie leben im selben Land, aber auf einem anderen Planeten. Der aus Hilflosigkeit geborene Zynismus der links-alternativen UnterstützerInnenszene ist pointiert dargestellt. Die verletzende Infragestellung ihrer Arbeit durch einen Freund markiert eine wichtige Reflexionsebene. Ohne zu wissen, was Paula vorhat, unterstellt dieser Freund, dass sie als weiße Frau die Festschreibung der Flüchtlingsaktivisten auf eine Opferrolle fortsetze. Die Autorin Paula antwortet mit einer geschickten Wendung der Geschichte und zeigt, dass solch kritisch anfühlende Selbstgerechtigkeit gelegentlich im Weg steht, wenn konkretes solidarisches Verhalten gefordert ist. Der erzählerische Kniff, der das Selbstreferentielle des Vorwurfs offenlegt, übergeht aber auch die im Kern berechtigte Frage. Was kann ihre Erzählperspektive über eine dokumentarische Darstellung rassistischer Strukturen hinaus leisten? Welche subversiven Erzählstrategien sind möglich? Wegen der vielen Stärken des Buches auf der Bildebene hätte man Bulling eine überzeugende Antwort zugetraut. Vielleicht gelingt diese im nächsten Buch.

Paula Bulling ist 1986 in Berlin geboren und aufgewachsen. Sie zog 2006 nach Halle (Saale), um an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein Keramik und Illustration zu studieren. Ihre Graphic Novel „Im Land der Frühaufsteher“ erschien im Sommer bei Avant und kostet 17,95 Euro. Weitere Informationen über sie und ihre Arbeit unter www.paulabulling.net[1]. Mehr Infos über Möhlau und den Tod von Azad Hadji www.ludwigstrasse37.de/nolager[2]. Die Rezension verfasste Stefan Gerbing. Die Gemeinschaftsunterkunft besuchte auch Jörg Schindler für den prager frühling und berichtete darüber in Ausgabe 8.

Links:

  1. http://www.paulabulling.net
  2. http://www.ludwigstrasse37.de/nolager