Sterne Europas

Warum Weltbürger keine Europäer sein können

Mark Wagner
Erich Soos

Erich Soos ist Flugbegleiter und er ist es gerne. Auf langen Flügen geht er nachts zufrieden an den Reihen seiner schlafenden Passagiere vorbei bis an die Tür des Cockpits. Hinter ihm liegt dann der Rumpf des Fliegers und die Menschen, deren Nerven er beruhigt und deren Wünsche er erfüllt hat. Soos hat ihnen Drinks, belegte Brote oder Kopfschmerztabletten gebracht. Viele Stunden war er für andere da. Dieser Moment gehört ihm. Soos klopft an die Tür des Cockpits. Die Piloten bitten ihn herein. Soos setzt sich auf den Reservesitz, gurtet sich an und schaut wortlos auf die Sterne. Der Flieger gleitet auf 12000 Metern Höhe dahin. Hinter der Cockpitscheibe beträgt die Temperatur minus 50 Grad. Die Luft ist dünn und sehr klar. Die Milchstrasse scheint über dem Flugzeug zu schweben. Milliarden Pünktchen funkeln über der Erdoberfläche, die zu finster ist, um sie auszumachen. Das Flugzeug ist ein Raumschiff geworden, es durchquert das All. Nur ab und zu bricht die Illusion. Dann sieht Erich Soos am Boden blaßgelbe Lichtinseln. Das sind die menschlichen Städte. Er sagt, er fühle sich als Weltbürger. Deutscher sei er nicht. TÜV und Schnitzel sagten ihm nichts. Vancouver sei ein drittes Zuhause und München sein zweites. Seine erste Heimat wäre der Globus. Vor zwölf Jahren schmiss Soos sein Leben als Werbekaufmann hin und begann völlig neu. Er hatte keine Lust mehr, Menschen davon zu überzeugen, Dinge zu kaufen die sie nicht brauchen.

Jura Schöder ist Manager bei eBay. Er weiß nicht, was Menschen kaufen sollten. Aber es interessiert ihn sehr, ob sie dabei zufrieden sind. Das Unternehmen stellt den virtuellen Marktplatz für Produkte, die andere auf diesem Marktplatz anbieten. Schöders Beruf ist es, die Zufriedenheit von KäuferInnen und MarktstandbesitzerInnen zu erkunden. Schöder fliegt viel. In den flachen Hierarchien von eBay ist die persönliche Anwesenheit für einen Manager wichtig. Erich Soos und Jura Schöder könnten sich im Himmel über Europa begegnet sein. Der Flugbegleiter stellt einen Saft ab. Der junge Manager bedankt sich und bittet, nicht gestört zu werden. Er möchte schlafen, um ausgeruht in seinem zweiten Zuhause anzukommen. Das ist Dublin. Dort hat eBay-Europe eines seiner beiden Hauptquartiere. Das andere liegt in Berlin. Dort wohnt Schöder. Das Café Sarotti in Kreuzberg nennt er sein zweites Wohnzimmer. Hier treffe ich ihn. Wir knabbern Salzstangen und suchen nach Europa. Schöder nennt Dublin eine europäische Stadt. Doch das sei nicht so, weil Dublin in Europa läge, sondern weil sich Europa in Dublin befände. Die Hälfte der EinwohnerInnen der Stadt sind keine Iren. Dublin ist ein Schmelztiegel. In der Kantine von eBay fusionieren die KöchInnen das europäische Essen. Schöder erzählt, dass die französischen Mitarbeiterinnen größten Wert auf die Einhaltung ihres „französischen Tages“ legen. „Jedes Mal, wenn sie aus der Kantine zurückkehren“, sagt er, „erklären sie hinterher, das Ganze habe mit französischer Küche absolut nichts zu tun. Aber sie sind strikt gegen die Abschaffung ihres nationalen Essenstages: „Non! C'est pas possible!“ Schöder lacht. Er sagt, es werde noch etwas dauern, bis die Menschen in Europa sich als Europäer fühlen. Ich frage ihn, woran das liegt. Er lächelt und denkt nach. Vor den Fenstern des Sarotti zieht die Berliner Nacht auf. Aus 12 000 Meter Höhe betrachtet wäre sie nur ein blasser gelblicher Punkt in der Finsternis.

Anders als Jura Schöder habe ich den Flugbegleiter Erich Soos nicht persönlich treffen können. Sein aktueller Flugplan führt ihn nicht nach Berlin. Zwei Flaschen Wein haben wir dennoch gemeinsam geöffnet. Wir telefonieren lange. Er trinkt einen „Spanier“ in München, ich einen „Franzosen“ in Berlin. Ich frage ihn, ob er sich als Europäer fühlt. Soos sagt: „Europa ist klein.“ Die Leitung bleibt still. „Denk mal nach“, sagt er, „es gibt keine Fremden auf diesem Globus. Niemand, den du hier unten treffen könnest, ist dir wirklich fremd. Aber du triffst auch kaum jemandem, dem genau das überhaupt bewusst ist. Wir definieren uns über Kultur, Sprache oder Glauben. Aber nichts davon ist wirklich so wichtig. Vielleicht müssten uns tatsächlich einmal Außerirdische besuchen. Vielleicht würden wir dann unser Menschsein neu und anders sehen und unsere lächerlichen Grenzen niederreißen. Ich fliege so oft über diese Grenzen und ich kann sie nicht einmal sehen. Das ist mein Leben. Es formt mich und vertieft, was ich als wahr empfinde. Aber für die allermeisten Menschen ist das Leben ganz anders. Sie fühlen sich in ihren kleinen Staaten sicher und bereits Europa macht ihnen tierisch Angst. Die Angst hat reale Hintergründe. Die Wirtschaft hat sich der europäischen Idee bemächtigt und die soziale Sicherheit ist ein nationales Produkt geblieben.“

Jura Schöder sieht durch die Scheiben des Cafés dem Strom der Autos zu, die sich über den breiten Mehringdamm schieben. Draußen ist Feierabendverkehr. Wer es sehr weit hat, fährt 100 Kilometer von der Arbeit nach Hause. Die meisten überbrücken in ihren kleinen Zellen des Wohlbefindens wohl kaum ein Zehntel davon. Der Manager erzählt, er habe den Ausbruch der Finanzkrise in Irland miterlebt. „Das war der einzige Moment, in dem es in Dublin kurzfristig schwierig war, ein Deutscher zu sein. Ich kann mir gut vorstellen, was die Griechen jetzt von der deutschen Regierung halten. Die haben die Schnauze voll von einem Europa, in dem wir Deutsche den anderen die Bedingungen des Zusammenhalts diktieren. Dennoch ist Europa der richtige Weg. Bei eBay kennen wir bereits einen echten „europäischen Kunden“. Wir haben dazu eine eigene Studie in Auftrag gegeben. Und siehe da: Die Leute kaufen im EU-Raum über die Grenzen hinweg, weil sie Vertrauen in die angeglichenen Rechtsordnungen haben. Sie wissen, wenn sie ein Produkt zurückschicken wollen, dann klappt das einfach, egal, ob die Ware aus Barcelona oder Bonn stammt.“ Ich frage Schöder, ob er sich als Europäer fühlt. „Ich bin vielleicht Weltbürger“ sagt er. „Aber Europäer ... Europa ist doch eher ein wirtschaftliches Projekt! Es fehlt ihm die gesellschaftliche Idee. Ich sage: Europa fehlt die Solidarität.“

Jura Schöder

Der Kellner bringt neue Salzstangen. Schöder nimmt eine, bricht sie in zwei Hälften und hält die Hälften in die Luft. „Das Mindeste ist doch, dass die Idee des solidarischen Ausgleichs in Europa selbstverständlich wird. Eine europäische soziale Marktwirtschaft brauchen wir und die europäische Demokratie dazu. Allein die Tatsache, dass wir darüber diskutieren, zeigt doch, wie weit wir von den Selbstverständlichkeiten entfernt sind, die uns zu Europäern machen würden.“

Erich Soos klingt am Telefon klar und konzentriert. Entweder verträgt er deutlich mehr Wein als ich oder er trinkt ihn bedeutend langsamer. Er sagt: „Güter kannst Du überall hin befördern. Du kannst sie durch ganz Europa transportieren und du kannst auf die Verpackung schreiben, dass es europäische Produkte sind. Doch Identitäten kannst du nicht transportieren. Sie können sich nur selber auf die Reise machen. Stell dir vor, wir lebten in einem ganz anderen Europa. Sagen wir einfach, es wäre ein Europa mit einer erneuerten Demokratie, ohne soziale Angst, mit gerechten Löhnen, ohne Atomkraftwerke und mit einem ökologischen Bewusstsein und einer gerechten Außenpolitik und so etwas wie einer dezentralen Produktion und ...“ „Aber was wäre denn dann?“ frage ich ihn. „Na dann“, lacht er durch das Telefon, „dann würden sie alle sagen, dass Europa total geil ist und sie würden ihren Kindern erzählen, wie öde und blöd das damals war, als sie noch alle in ihren kleinen Staaten zwischen ökologischen und sozialen Schwierigkeiten festgesessen haben. Ist das nicht klar? Dann hätten wir ein europäisches Bewusstsein. Das ist so einfach, wie es schwer ist.“

Ich nicke und denke, dass Soos nicht sehen kann, dass ich das tue. Ich bitte ihn, ein Foto von sich zu schicken. Wir legen auf. Ich knabbere am Bleistift, trinke mein letztes Glas Wein und stelle mir vor, wie sich zwei Weltbürger treffen, die endlich auch Europäer sein können. Der Flugbegleiter mit den grauen Haaren stellt einen Saft ab. Der alte Manager bedankt sich. „Gern geschehen“ sagt Soos. „Beeilen sie sich aber bitte damit. Wir landen in wenigen Minuten.“ Aus den Lautsprechern an der Decke schnarrt die Stimme des vollautomatischen Piloten: „Wir werden Athen in etwa 15 Minuten erreichen. Wir begrüßen Sie in der Haupstadt der sozialistischen Staaten von Europa. Die Temperatur beträgt an diesem Morgen 24 Grad. Wenn sie in die Innenstadt wollen, empfehlen wir Ihnen den Quadrokopter. Der Landverkehr staut sich derzeit wegen der Massendemonstrationen für das europäische Marsprogramm. „Du lieber Himmel!“, sagt Schöder, „früher haben die jungen Leute hier für soziale Gerechtigkeit demonstriert. Jetzt suchen sie sich Unbequemlichkeiten auf fremden Sternen. Na, warum auch nicht.“ „Von den Sternen“, sagt Soos, „Von den Sternen könnte ich Ihnen jede Menge erzählen.“

Mark Wagner ist Redakteur des prager frühling. Mit Chris Fischer gründet er 2011 das Fotografiekollektiv „Kameradisten“. Einige seiner Arbeiten sind unter www.kameradisten.de[1] veröffentlicht. Jura Schöder ist Manager bei eBay. Erich Soos ist Flugbegleiter und er ist es gerne.

Links:

  1. http://www.kameradist-wagner.de/