Gesagt wird – richtig ist

prager frühling räumt mit den größten EU-Mythen auf

Gesagt wird: Die EU ist das Europa des Kapitals.

Richtig ist: Die EU ist insofern kapitalistisch, als dass die EU-Institutionen den Europäischen Binnenmarkt absichern und regulieren. Das neoliberale Binnenmarktprojekt hat seit den 1980er Jahren an Fahrt gewonnen und die jetzige Krise hervorgerufen. Dass die EU dem Binnenmarkt eine politische Form zur Verfügung stellt, ist nichts Neues. Das hat der Nationalstaat für den Kapitalismus auch schon gemacht. Nicht jede europapolitische Entwicklung lässt sich deshalb schematisch aus dem Kapitalismus ableiten: So ist die EU beispielsweise in Migrations- und Antidiskriminierungsfragen im Vergleich zu den Nationalstaaten oft fortschrittlich. Und es gibt auch positive Anknüpfungspunkte: Beispiele dafür sind die Urteile des Europäischen Gerichtshofs zur sozialen Unionsbürgerschaft. Sie besagen, dass alle EU-Bürger unabhängig von ihrer Nationalität an ihrem jeweiligen Lebensort Zugang zu Sozialleistungen haben. Aussagen vom Typ „Gott lenkt die Welt“ sind zwar gegenüber Ungläubigen durchaus sinnvoll, sie helfen aber in der Sache oft nicht weiter.

Bamm! So ist's richtig

Gesagt wird: Die EU ist eine technokratische Bürokratie.

Richtig ist: In der Europäischen Kommission sind ca. 30.000 Mitarbeiter_innen beschäftigt. Zum Vergleich: In Berlin arbeiten ca. 90.000 Beamte und Beamtinnen. Ein Europa, das auch soziale Umverteilung sicherstellt, wird sicherlich einen noch höheren Bedarf an Verwaltungstätigkeit stellen. Tatsächlich haben sich in der EU Regierungstechniken entwickelt, die entpolitisierend wirken: Wie im Nationalstaat etablieren sich zunehmend Expert_innengremien und offene Koordinierungsmethoden in Kernbereichen der politischen Auseinandersetzung (etwa Renten- und Beschäftigungspolitik), die gesellschaftliche Kernfragen nicht durch die Auseinandersetzung im Parlament klären.

Gesagt wird: Die EU ist so weit weg von den Menschen.

Richtig ist: Von Aachen nach Brüssel sind es ca. 150 Kilometer. Von Aachen nach Berlin ca. 650 Kilometer. Von San Francisco nach Washington ca. 3000 Meilen. Räumliche Nähe kann kein Kriterium für die Qualität politischer Entscheidungen sein. Dies gilt umso mehr in einer Zeit, in der die modernen Kommunikationsmittel die Bedeutung räumlicher Nähe komplett unterlaufen. Frankfurter IT-Nerds haben mit Londoner IT-Nerds mehr gemeinsam als mit der Frau Rauscher auf der Sachsenhäuser Klappergasse. Die europäische Integration ist soweit fortgeschritten, dass die Frage nicht lautet, ob man für oder gegen Europa ist, sondern welches Europa man will.

Gesagt wird: Die EU befördert eine Einheitskultur.

Richtig ist: Es hat schon immer so was wie eine hegemoniale kulturelle Orientierung gegeben. Im 18. Jahrhundert sprach der Adel Europas französisch, im 19. Jahrhundert popularisierte sich das Englische. Wer Karl Marx aufmerksam liest, wird ständig auf Anglizismen stoßen. Insofern ist kultureller Konservatismus fehl am Platze. Wer den Imperialismus nicht nur kritisieren, sondern ihn überwinden will, muss seine Sprache beherrschen und sie auch sprechen: Englisch! Das erleichtert die Koordinierung und ist im Übrigen zeiteffizienter. Konsekutive Rumübersetzereien auf Vernetzungstreffen und Tagungen der gesellschaftlichen Linken verhindern, dass eine europäische Linke entstehen kann, die eine gemeinsame Sprache spricht und eine Identität entwickelt. Die Vielspracherei erschwert die Verständigung und erleichtert sie nicht. Der Besuch eines Sprachkurses ist nicht nur möglich, er kann auch Spaß machen.

Gesagt wird: Im Nationalstaat gibt’s wenigstens noch Demokratie.

Richtig: Die europäische Integration erfasst auch die Demokratie in den Nationalstaaten. Durch die soziale und ökonomische Vernetzung leiden sie an einem demokratischen Defizit. Ein Gedankenspiel: Findet beispielsweise in der BRD ein Referendum zu den Griechenlandhilfen statt, entscheidet die Bevölkerung der BRD für alle anderen EU-Bürger_innen mit, ohne dass die irgendwas dabei mitzureden hätten. Die Demokratie kann nur durch europäische Formen der Demokratie, den europäischen Parlamentarismus, europäische soziale Bewegungen und europaweite Referenden gestärkt werden.

Gesagt wird: Die EU ist undemokratisch.

Richtig ist: Die EU ist insofern undemokratisch, als dass schon lange eine europäische Verfassung da ist, ohne im Wege eines europaweiten Referendums beschlossen worden zu sein. Die EU hat ein direkt gewähltes Parlament, das über Gesetzgebungskompetenz verfügt. Sie hat liberale Grundrechte und einen Gerichtshof, der sich anmaßt, politische Grundentscheidungen in seinen Gerichtsurteilen zu treffen. Die EU beeinflusst die Haushaltspolitik der Mitgliedsstaaten und schränkt ihre Kompetenzen ein. Was bisher fehlt, ist ein demokratischer Verfassungsgebungsprozess, in dem die EU-Bürger_innen ihre Interessen zum Teil eines Verfassungsprojekts machen könnten. Dafür braucht es aber einen „demos“, eine europäisch vernetzte Sozialbewegung, welche die europäische Verfassung den Funktionär_innen und wirtschaftsnahen Lobbygruppen entreißt und sie einer progressiven Gestaltung zuführt. Indem die gesellschaftliche Linke dieses Spielfeld unberücksichtigt lässt und noch nicht einmal weiß, ob sie überhaupt eine europäische Verfassung will, ist sie Teil der europäischen Postdemokratie. Vielleicht ist die Euro-Krise der entscheidende Moment für die Formierung einer europäischen Oppositionsbewegung, die „konstituierend“, also verfassungsgebend, werden kann.