Der Ausverkauf der Demokratie

Oder: warum das Parlament nicht die Ursache der gegenwärtigen Krise ist

Volker Koehnen

Angesichts der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus seit 2007/08, deren Ausläufer noch heute die Gesellschaften und politischen Systeme Europas mit voller Wucht erschüttern, scheint in einer Art Parrallelbewegung der Parlamentarismus zum Abschuß freigegeben. Mit der Meldung aus Ungarn, wo die Parlamentsmehrheit des Regierungschefs Victor Orban im vergangenen Dezember die Rechte des dortigen Parlaments massiv beschnitten hat, erreicht diese Entwicklung ihren vorläufigen und traurigen Höhepunkt: die Abwicklung der repräsentativen Demokratie bzw. des Parlamentarismus. Unverhohlener und offener ist dies außerhalb Ungarns wohl noch nicht inszeniert worden, noch nicht einmal in Italien. Nehmen wir alle übrigen Beschädigungen und Aushöhlungen der parlamentarischen Demokratie in Europa hinzu, haben wir es gegenwärtig mit mindestens zwei Prozessen demokratischer Erosion zu tun, die analytisch voneinander geschieden werden sollten, die aber zusammengenommen für den Ausverkauf von Demokratie in Europa insgesamt stehen:

1. Postdemokratie

Ungarisches Gebäude aus der Zeit als die Vorläufer der Postdemokratie noch Zukunftsmusik waren..


Zunächst zeigt sich unter diesem Rubrum - zum Beispiel für Deutschland („Merkel-Republik“), Italien („ Berlusconismus“) oder das EU-Krisenregime insgesamt - der paradigmatische Fall, dass zwar die demokratische Form fortexistiert, diese aber ihres Inhalts beraubt wird. Parlamentarisch-demokratische Institutionen, Verfahren, Rechte und Prozesse in ihrer „polity“-Dimension bleiben unangetastet, sie unterliegen jedoch einer faktischen Entmachtung durch das Setzen externer Fakten, wie zum Beispiel durch ExpertInnen-Gremien, die Verankerung einer Schuldenbremse in der Verfassung, usw. Das Politische wird in dieser post-demokratischen Logik nicht im öffentlichen (und strittig-konfligierenden) Diskurs verortet, sondern ideologisch in Expertenwissen transformiert; gleichsam die Suspendierung der Immanenz zugunsten einer (post-)modernen Variante von Transzendenz: der Experte als der bessere Politiker.

Ein post-demokratischer Sonderfall ist sicher der Berlusconismus, der wie der Merkelismus die parlamentarisch-demokratische Institutionen, Verfahren, Rechte und Prozesse in ihrer „polity“-Dimension im Großen und Ganzen unangetastet ließ, diese aber ihres Inhalts beraubte. Berlusconi aber schränkte zum „Schutze“ seiner eigenen Person (vor z.B. Strafverfolgung) vor allem im justizpolitischen Bereich auch demokratische Prozeduren und Institutionen ein, und dies alles legislativ-parlamentarisch implementiert.

2. Anti-Demokratie

Bei dieser Variante des Abgesangs auf die Demokratie, für die paradigmatisch Hitlers „Ermächtigungsgesetz“, der aktuelle Massenprotest der „Schwarzhemden“ in Thailand oder eben Orbans Ungarn stehen, ist der Ein- und Durchgriff in und auf die Parlamente sichtbarer: hier werden parlamentarisch-demokratische Institutionen, Verfahren, Rechte und Prozesse in ihrer „polity“-Dimension beschnitten, zurechtgestutzt, geschliffen und also entdemokratisiert; Befugnisse werden von der Legislative auf die Exekutive übertragen bzw. die Legislative wird teil-entmachtet oder wie in Thailand, wenn es nach dem Willen der Opposition um Suteph Thaugsuban geht, zugunsten eines ominösen Beratungsgremiums ganz abgeschafft. Diese Form des demokratischen Ausverkaufs kommt der faktisch-institutionellen Abschaffung der Demokratie insgesamt gleich.

Es steht also nicht gut um Demokratie und Parlamente in Europa. So aber, wie sich nur Reiche einen armen Staat leisten können, ist es auch beim Stichwort Demokratie: Nur das Kapital und/oder rechte Fundamentalisten können sich eine minimalistische oder gar keine Demokratie „leisten“ – aufgeklärte und humane Gesellschaften dagegen brauchen eine stark ausgebaute Demokratie, weil offene, freie, gleiche und soziale Gemeinwesen diese ihre Attribute nur aus dem Demokratischen schöpfen können. Gleichheit oder Freiheit kann niemals diktatorisch verordnet werden, sie müssen im Diskurs wachsen.

Das Kernargument derjenigen gesellschaftlichen Gruppen und Parteien, die gegenwärtig den Ausverkauf des Demokratischen betreiben (vor allem in der Variante der Anti-Demokratie, s.o.), lautet grob vereinfacht, dass der Parlamentarismus die eigentliche Ursache der gegenwärtigen politischen, ökonomischen und sozialen Krise sei und dass jetzt „durchregiert“ werden müsse, ohne vermeintlich „lähmende und zeitraubende Diskussionen“ in den Parlamenten. Dieses Argument übersieht, dass das kapitalistische Gesellschaftssystem per se einen logischen Krisenzusammenhang darstellt. Natürlich wissen wir alle, dass sich linke Theorie und Praxis historisch seit jeher kritisch mit dem Parlamentarismus im Kapitalismus auseinandersetzt, diese Diskussion füllt ganze Bibliotheken. In der aktuellen historischen Zuspitzung der kapitalistischen Krise jedoch sollten die emanzipatorisch-linken Kräfte nicht nur aus strategischen Gründen unbeirrbar und unmißverständlich an der repräsentativen Demokratie und am Parlamentarismus festhalten, ja, ihn emphatisch verteidigen. Denn, erstens sind Demokratie oder Parlamentarismus nicht die Krisenursache, es ist der Kapitalismus, der das Synonym für Krise ist. Und zweitens, auf einer eher politiktheoretischen Ebene: Jacques Rancières „Unvernehmen“ bzw. sein Begriff des Dissens, der sich widerständig als Demos auf den Straßen und Plätzen ganz folgerichtig konstitutiert, ist die notwendige Antithese zur ebenso notwendigen These des Konsenses, der parlamentarisch repräsentiert wird. Dies ist ein gedanklicher Schritt des dialektischen Zusammenhangs, den Rancière wunderlicherweise in keinem seiner Texte geht: ohne Konsens kein Dissens. Daraus folgt: mehr parlamentarische Demokratie, nicht weniger und zugleich mehr emanzipatorischer Protest, nicht weniger – und beide Momente sind miteinander widersprüchlich verwoben.

Sowohl die historische Arbeiterbewegung als auch ihre verschiedenen linksemanzipatorischen Erben heute fußen nach wie vor auf den emanzipatorischen Errungenschaften des Bürgertums in seiner Auseinandersetzung mit Feudalismus und Absolutismus; die politische Linke hat dieses Programm historisch jedoch maßgeblich erweitert um den Gedanken der sozialen Teilhabe oder z. B. der materiellen Gleichheit. Ebenso sollte die politische Linke heute daher dem aktuellen Sturm nicht nur auf die Demokratie entschieden entgegentreten, sondern auch dem gegen die Parlamente.

Volker Koehnen, Diplom-Politikwissenschaftler, Systemischer Berater (SG) und Lehrbeauftragter, ist Mitglied im Vorstand des Instituts Solidarische Moderne e.V. Als Autor mehrerer Artikel und Buchbeiträge beschäftigt er sich mit Themen kritischer Politik- und Sozialphilosophie; beim Denken konkreter emanzipatorischer Politikentwürfe prägt ihn dabei die theoretische und praktische Synthese von strukturaler Psychoanalyse und Kritischer Theorie.