Funktions- und Sozialbereich

Linke Parteien zwischen Verstaatlichung und Autonomie

Kolja Möller und Jörg Schindler
Jörg Schindler

Leute, die in linken Parteien mitmachen, sind in der Regel für das Gute. Sie wollen eine bessere Welt. Oder sie brauchen einen Job, was auch verständlich ist. Oder sie suchen Freund_innen. Parteien sind jedoch nicht nur das Spielfeld individueller Selbstinszenierung, sondern hochkomplexe Massenorganisationen. Sie gleichen – darauf hat die Soziologin Jasmin Siri erst kürzlich hingewiesen – eher Verwaltungsapparaten als dem „Bund der Kommunisten“ aus dem 19. Jahrhundert, der noch aus einer Handvoll in Europa verstreuten Mitgliedern bestand. Parteien sind einerseits Teil des Staates. Daher bekommen sie ihr Geld und ihre Anerkennungsressourcen. Und sie erhalten ihr Politikverständnis daher. In der liberalen Demokratie geht es immer zuerst um die Auswahl von politischem Führungspersonal, das „Politik als Beruf“ (Max Weber) betreibt. Andererseits können Parteien ein Instrument sein, um bestimmte politische Ziele und gesellschaftliche Haltungen zu repräsentieren.

Kolja Möller

Parteien werden nicht nur dadurch zusammengehalten, dass Geld fließt und Jobs verteilt werden. Sie sind ebenso assoziative Organismen. Hier wirken soziale Bindekräfte, Leute fühlen sich aufgehoben und verleihen ihrer Meinung einen Ausdruck. Die Doppelgesichtigkeit der Parteiform macht – und das ist der Knackpunkt – natürlich vor Parteien nicht halt, die in ihrem Grundsatzprogramm systemkritische Beschlusslagen verabschiedet haben und sich als links, als Anti-Parteien-Partei, als demokratische Erneuerungsbewegung oder als „liquid“ verstehen. Die Verstaatlichung setzt mit der Entscheidung ein, sich an Wahlen zu beteiligen und inhaltlich und personell in Institutionen mitzubestimmen. Ab diesem Zeitpunkt findet in der Öffentlichkeit, in MitarbeiterInnenkreisen, in Fraktionen und genauso durch das in die Verwaltung entsandte Personal ein permanenter kritischer Abgleich zwischen dem Programm und der taktischen Erhaltung des Einflusses im Staat statt. In gewisser Weise sind linke Parteien nicht wirklich „anders“ als die anderen. Aus diesem Befund muss allerdings nicht geschlossen werden, dass die Parteiform einfach ad acta zu legen ist.

Klassische Konfliktlösungsstrategie: die gezähmte Regelübertretung

Johannes Agnoli und die Einheitspartei

Obwohl linke Parteien also „bürgerliche“ Parteien sind, sind sie doch – schon aufgrund ihres Klientel und ihres Anspruchs, eine Alternative zum Status quo bürgerlicher Herrschaft zu sein – besonders im Spagat. Das Spannungsverhältnis zwischen „verstaatlichter“ und „sozial-autonomer“ Partei in einer Organisation lässt sich historisch recht gut an den unterschiedlichen Parteitheorien von Johannes Agnoli und Wolfgang Abendroth verdeutlichen. Agnoli entwirft in seiner „Transformation der Demokratie“ ein ganz und gar realistisches Bild der repräsentativen Demokratie. Parteien müssen die 5% knacken, um überhaupt relevant zu sein – deshalb können sie im Grunde nichts wirklich Oppositionelles vertreten. Denn die Notwendigkeit der Stimmenmaximierung muss immer dem Rechnung tragen, was gemeinhin für „machbar“ gehalten wird. Forderungen sollten Anschluss an den Alltagsverstand der WählerInnen, Medien und ExpertInnen finden. Die TaktikerInnen der Partei müssen in Talkshows und Interviews, aber auch in „klar“ und „neues deutschland“ dieses Ausschlusskriterium berücksichtigen. Sie können grundlegende Ziele, etwa nach einer anderen Wirtschaftsweise oder nach einer anderen Art der politischen Vergemeinschaftung, nur schwer vertreten. Für Agnoli ist das politische System deshalb nur eine „plurale Fassung der Einheitspartei“. Wer Agnolis „Transformation der Demokratie“ aufmerksam liest, fühlt sich sofort an eine halbwegs realistische Schilderung des Parteilebens auch linker Parteien erinnert: Wichtigtuerische Erwägungen zur Durchsetzung windiger Kompromisse durch Mandatsträger_ innen; die Erhebung von Detailproblemen aus der Froschperspektive zu wesentlichen Auseinandersetzungen; Entfremdungs- und Verachtungsprozesse gegenüber den Vertretenen als auch die Etablierung eigener „politischer Raumschiffe“ des Funktionspersonals, ob es das Essen in der Bundestagskantine oder die Aufeinanderfolge der besuchten Ausschüsse betrifft.

Das Problem bei Agnoli ist natürlich seine funktionale Vereinseitigung. Denn Parteien sind eben nicht nur Teil des Staates. Sie haben auch ein Eigenleben, einen assoziativen Sektor. Sie sind der Ort von Stiftungen, Abendveranstaltungen, Jugend- und Studierendenverbänden, Kinder- und Freizeitorganisationen. Und sie bilden Ansprüche ab, speisen Unbehagen und Protest in die Institutionen ein oder werfen aktuelle und grundsätzliche Fragen auf. Vom „die da oben machen doch, was sie wollen“, die Empörung über die Hartz-IV-Gesetze bis zur drängenden Forderung „Mindestlohn jetzt!“ oder schlicht der Kritik an Misswirtschaft und Korruptionsfällen der Verwaltungseliten der anderen Parteien. Anlässe für Politisierung des gesellschaftlichen Konflikts gibt es genug. Darauf müssen die politischen Funktionäre Rücksicht nehmen. Sie können nicht einfach alles mit dem Sozialbereich der Partei machen.

„…als ich der Versuchung widerstand?“

Das war jedenfalls immer der Anknüpfungspunkt für linkssozialdemokratische Perspektiven auf Parteien, wie sie in der BRD wohl am prominentesten Wolfgang Abendroth vertreten hat. Hier ist dann jedoch wiederum die voluntaristische Vereinseitigung am Werk. Die Arbeiter_innenbewegung schafft sich Parteien und Gewerkschaften als Instrument, um in den Institutionen ihre Positionen zur Geltung zu bringen. Die Idee der Partei als „Instrument“ unterschätzt die Eigenlogik von Institutionen und staatlichen Apparaten. Und Abendroth setzt stets eine weiterhin zu eigener Initiative fähige Arbeiter_innenbewegung voraus, mit eigenen Medien und eigener Kultur, von der aus ein Gebrauch dieser Instrumente stattfindet. Das Problem damit ist natürlich, dass dies schon zu Abendroths Zeiten in den 1950er und 1960er Jahren nur noch in Ansätzen der Fall war.

Funktions- und Sozialbereich der Partei

Trotzdem ist es sinnvoll beide Argumente ernst zu nehmen. Dann ist die Partei der Ort, an dem eine Art Überschneidung zweier Bereiche stattfindet, die man als Funktions- und Sozialbereich bezeichnen kann. Parteien sind Teil des Staates. Sie sind aber ebenso Orte selbstbestimmter Interessenartikulation, damit auch Orte der verstetigten Kritik und Emanzipation. Von dort ausgehend lässt sich die Frage nach einer demokratischen Mitgliederpartei anders stellen:

1. Eine demokratische Mitgliederpartei kann nicht entlang basisdemokratischer Vorstellungen à la „alle entscheiden über alles“ entstehen. Anspruchsvolle Vorstellungen von Demokratie sind auf die Handlungsbedingungen der bestehenden Parteiform zu beziehen. Es gibt beides: Einen Funktionsbereich, in der die Partei Teil des Staates ist und ihre Politikformen reproduziert (Mandatsträger_innen, Mitarbeiter_innen, Fraktionen, Abgeordnetenbüros, auch die Vorstände der Partei, soweit sie über die Aufrechterhaltung der Strukturen, Entscheidungen über Koalitionen oder ähnliche staatsnahen Themen EmpfängerInnen und AdressatInnen des staatlichen Austauschs sind) und einen Sozialbereich, der eine gewisse Eigenständigkeit und Verbindungslinien in die Gesellschaft aufweist. Unter letzteren fallen etwa die aktiven Mitglieder, ihre Arbeitskreise und die Parteivorfeldorganisationen sowie kleine Zeitungen, die Vorstände, soweit sie Parteileben organisieren und Themen setzen zu verstehen. Beide Seiten sind Idealtypen und dienen hier lediglich der Systematisierung zum Verständnis der Funktionsweise der Bereiche. Sozial- und Funktionsbereich brauchen sich gegenseitig. Einen Sozialbereich der LINKEN beispielsweise gibt es nur, wenn die Partei auch in Parlamenten vertreten ist und die 5%-Hürde überspringt. Jeder Versuch, den anderen Bereich einfach zu ignorieren oder mit inkompatiblen Ansprüchen zu überfordern, scheitert. Schröders Basta!-Politik und Münteferings ruppiger Stolz, seiner Klientel die Rente ab 67 aufs Auge gedrückt zu haben, hat gezeigt, wozu die Auslöschung des Sozialbereichs, hier der SPD, führen kann. Teile dieses Sozialbereichs haben sich der LINKEN zugewandt und hier einen neuen Funktionsbereich geschaffen. Im Übrigen ist die heutige SPD-Funktionselite nach wie vor damit beschäftigt, den Ground Zero des SPD-Sozialbereichs aufzuräumen. Das Beispiel mag auch dem Funktionsbereich der LINKEN als Warnung dienen. Bestimmte Entscheidungen im Funktionsbereich, die in hehrer Absicht oder aus verstaatlichter Logik heraus vollkommen vernünftig erscheinen, führen zum Einsturz des linken Sozialbereichs. Sie können auch nicht von linken Staatssekretären aus der Regierungsbank heraus den Vertretenen nachträglich erklärt werden. Vor diesem Hintergrund sind die oft aus dem Funktionsbereich heraus kritisierten Haltelinien des Parteiprogramms durchaus Rudimente einer Demokratisierung der Partei.

2. Es gibt natürlich immer einen strukturellen Vorrang des Funktionsbereichs. Hier kommt das Geld her und hier werden die Leute für die politische Arbeit freigestellt. Dem entspricht in der Regel eine Bewusstseinsform. Der zynische Realismus der Realpolitik zeichnet sich selbst als unglaublich wichtig und entscheidend und stellt sich oft paternalistisch über die oft als hinderlich-sperrig eingeschätzte Aktivität der Parteimitglieder und ihres sozialen Umfelds. Eine demokratische Mitgliederpartei muss versuchen solche Bewusstseinsformen zurückzudrängen. Manche unprofessionelle Form der Sozialbereichspolitik ist tausendfach emanzipierter als die durch die Agentur gelayoutete Broschüre, einheitliche Schriftarten nebst Internetseitengestaltung im Typo3-CMS oder die messeartigen Klatschveranstaltungen, auf denen Berufspolitiker von vorne ewig über die Welt dozieren.

3. Umgekehrt entspricht dem Sozialbereich die Bewusstseinsform einer Geringschätzung des Funktionsbereichs. Man denkt, man könne sich der Funktionäre und der professionalisierten Politik entledigen – am besten per Mehrheitsbeschluss auf der Parteiversammlung, weil Beschlüsse bekanntlich die Welt verändern. Oder habituell. Man trägt nur noch Jeans und keine Anzüge. Aus der Perspektive einer demokratischen Mitgliederpartei stellt sich die Frage, wie die vollkommen berechtigte Skepsis gegenüber dem Funktionsbereich einen wirksamen Ausdruck finden kann. Bisher findet beispielsweise in der LINKEN nur ein interessantes Theater statt: Auf Parteitagen tun die Funktionäre in der Regel so, als seien sie selbst der Sozialbereich und geben sich betont volkstümlich, während die Mitglieder aus dem Sozialbereich die herrschende Art des Politikmachens (lange Sonntagsreden von der Kanzel) einfach so akzeptieren und den großen Funktionären und ihren Reden nacheifern. Einstudierte Transparentaktionen, getragen von Parteikadern, gut sichtbar abgebildet und direkt ins Internet hochgeladen, imitieren das, was es häufig gerade nicht ist: Ein aktiver Sozialbereich, der Ansprüche an die Entsandten in der Staatsmaschine erhebt.

4. Während der Funktionsbereich stärker als der Sozialbereich ist, gilt im Hinblick auf das Leitbild einer demokratischen Partei umgekehrt: Die Qualität innerparteilicher Demokratie entscheidet sich daran, ob der Sozialbereich gegenüber dem Funktionsbereich gestärkt werden kann, ob also vom Sozialbereich Druck, etwa in der Art von Sanktionen und Bindungswirkungen, auf den Funktionsbereich ausgeübt wird, ob der zynische Realismus und die Art des Politikmachens zumindest zeitweise zurückgedrängt werden kann. Damit verschiebt sich die Frage der innerparteilichen Demokratie. Es geht nicht um den Entwurf möglichst allgemeiner demokratischer Verfahren für alle, sondern um die Stärkung und den Aufbau eines Sozialbereichs sowie um die Institutionalisierung der Spannung zwischen Funktions- und Sozialbereich. Die Idee der regelmäßigen Bewegungsratschläge durch die Partei, regelmäßige Mitgliederentscheide zu thematischen Schwerpunkten, die Öffnung von Personalentscheidungen für Nichtmitglieder, die Trennung von Mandatsträger_innen und Parteitagsdelegiertenmandat sowie die Antragsdebatte in Arbeitsgruppen statt im Frontalunterricht auf Parteitagen sind – wenngleich den Autoren bewusst ist, dass diese Vorschläge das Spannungsverhältnis allenfalls anreißen können – zumindest Ansätze einer demokratischen linken Mitgliederpartei neuen Typs.

Kolja Möller und Jörg Schindler sind Mitglieder der Redaktion des prager frühling.