Lernt, zu siegen!

Vier Wege für progressive Politik in Regierung oder Opposition oder dazwischen - am Beispiel der Studiengebühren.

Tobias Schulze
Tobias Schulze

1. Gar nicht erst einführen: Berlin

2003. Berlin war pleite, Kürzungen und Streichungen – auch bei Hochschulen und Kultureinrichtungen an der Tagesordnung. Der Wissenschafts- und Kultursenator von der PDS brauchte jeden Cent für seinen Etat. Da kam die Debatte über neue Steuerungsmodelle in öffentlichen Verwaltungen und Unternehmen zur rechten Zeit. Wenn wir diese besser managen müssen, warum nicht auch die Hochschulen? Warum nicht deren Leistungen rationieren, statt sie endlos auszureichen? Und wenn dann noch Geld abfiele, um ein Theater zu retten? Und so griff der Senator auf das Modell der Studienkonten zurück, das ein grünennaher Bildungsforscher erfunden hatte. Kostenloses Studieren sollte es nur noch kontingentiert geben. Wer mehr will, etwa ein Zweitstudium, oder länger braucht, sollte dies bezahlen. Die SPD wollte gleich richtige Studiengebühren, da war das Kontenmodell als soziale Alternative zu verkaufen.

Allein: die Partei spielte nicht mit, Teile der Fraktion ebenfalls nicht. Die Studierenden, ohnehin wegen der Kürzungen auf den Barrrikaden, nahmen das Vorhaben sehr übel. Es war neben der Entscheidung über den Umgang mit dem Bankenskandal einer der großen Konflikte in der Partei.

Und so wurde in einem halbjährigen Prozess die Entscheidung vorbereitet. Das Modell wurde der Basis vorgestellt, Hochschulpolitik in die Gremien getragen. Am Ende stand ein Landesparteitag, auf dem der Antrag des damaligen Landesvorsitzenden, der Senatsmitglieder und der Mehrheit des Landesvorstands gegen die FachpolitikerInnen und die jüngeren Teile der Partei stand. Studierendenaktvist_innen waren vor Ort. Ja, es war auch ein Generationenkonflikt. Auf der einen Seite stand der Wille zum Durchhalten von bildungspolitischen Grundsatzpositionen der Gesamtpartei. Auf der anderen der Versuch, den Gesichtsverlust eines linken Regierungsmitgliedes abzuwenden. Das Studienkontenmodell wurde abgelehnt, der Senator verkündete es mit hängenden Schultern in den Abendnachrichten. Der Koalitionspartner SPD musste feststellen, dass Parteitagsbeschlüsse in anderen Parteien gelten. Diese Erkenntnis zahlte er dem Koalitionspartner PDS in Form von Ärger und Blockade heim. Berlin erhebt jedoch bis heute keine Studiengebühren, obwohl die Unis begehrt sind wie in keiner anderen Stadt.

2. Die Gunst der rot-rot-grünen Mehrheit nutzen: Hessen

Lernen und Freiheit ... was für Zeiten

2008. Nach der hessischen Landtagswahl im Januar war eine Regierungsbildung nur in einer Großen Koalition oder in einem Dreier-Bündnis möglich. Die SPD hatte jedoch Rot-Rot-Grün ausgeschlossen und suchte nun einen Weg, Andrea Ypsilanti doch noch zur Ministerpräsidentin zu machen. Während eine durch DIE LINKE tolerierte rot-grüne Landesregierung in den drei Parteien monatelang vorbereitet wurde, blieben Roland Koch und seine CDU-Minister_innen geschäftsführend im Amt. Die rot-rot-grüne Mehrheit im Landtag probte schon einmal das gemeinsame Vorgehen und schaffte im Juni die erst ein Jahr zuvor von Koch eingeführten allgemeinen Studiengebühren samt ihrer Langzeitvariante wieder ab. Gegen die Gebühren waren zu dem Zeitpunkt Verfassungsklagen von Parteien, aber auch von Bürgerinnen und Bürgern anhängig. Das CDU-Wissenschaftsministerium hatte diese Entscheidung umzusetzen. Dazu gehörte auch, 96 Millionen Euro wegfallende Einnahmen aus dem Landeshaushalt zu ersetzen. Hessen war damit das erste Land, das den allgemeinen Trend zum Bezahlstudium umdrehte. Die ersten Erfahrungen mit Gebühren lagen vor: Sie machten nur wenig an den Unis besser, aber für viele einiges schlechter. Es wurde klar, dass sie vor allem zum Rückzug des Staates aus der Hochschulfinanzierung und zur Privatisierung von Strukturen genutzt wurden. Der weitgehend uneingeschränkte Durchmarsch neoliberaler Politikinstrumente im Hochschulsektor hatte in Hessen ein Ende gefunden. Im Gründungsjahr der Linkspartei stand der hessische Weg parlamentarischen Handelns auch für einen Aufbruch linker Mehrheitsfindung. Der Mut von Andrea Ypsilanti wurde jedoch bitter von vier SPD-Abgeordneten bestraft. Die CDU blieb an der Regierung – bis heute.

3. Zustimmen, wenn es passt: Nordrhein-Westfalen

2011. Der Tabubruch gelang doch noch. Im bevölkerungsstärksten Bundesland regierte seit 2010 eine rot-grüne Minderheitsregierung unter Hannelore Kraft, der eine Stimme zur eigenen Mehrheit fehlte. Die SPD hatte sich nach dem Ende der Großen Koalition im Bund auf ihre Handlungsoptionen in den Ländern besonnen. Kraft galt als linksorientierte Hoffnungsträgerin. Erste Sondierungen mit der LINKEN waren gescheitert, trotzdem blieb sie als eine von drei Oppositionsparteien bei wechselnden Mehrheiten gefragt. Meist ließ sie Regierungsvorhaben per Enthaltung passieren. In der LINKEN verstummten angesichts dieser Rolle im „linkesten“ aller Landesverbände endgültig die die Grundsatzdebatten über Regierungseintritte. Stattdessen nahmen die Diskussionen über „rote Linien“ und zentrale Projekte der Partei Fahrt auf. Eins davon war wie schon in Hessen der Abschaffung der von Schwarz-Gelb 2006 eingeführten Studiengebühren, zu der die Landesregierung bereits kurz nach ihrem Arbeitsbeginn einen Gesetzentwurf vorlegte. Es dauerte jedoch ein halbes Jahr, bis die Regierungsfraktion mit der LINKEN einig war. Diese wollte die Gebühren sofort abschaffen, Rot-Grün wegen der 249 Millionen Euro Einnahmeausfälle erst ein Jahr später. Man einigte sich schließlich auf das Wintersemester 2011/2012. Früher war es wegen der langen Verhandlungen ohnehin nicht zu schaffen. Die Abschaffung der Gebühren war eines der wenigen Vorhaben, die das Kabinett Kraft explizit mit Zustimmung der LINKEN durch den Landtag brachte und nicht nur auf deren Enthaltung setzte.

Die Minderheitsregierung scheiterte 2012, als FDP und LINKE den Haushaltsentwurf der Koalition ablehnten. Ob dies eine Taktik von Rot-Grün war, angesichts guter eigener Umfrageergebnisse zu Neuwahlen und einer stabilen eigenen Mehrheit zu kommen. Oder ob tatsächlich handwerkliche Fehler von LINKEN und FDP die Ursache für das Platzen der Regierung waren, soll hier nicht erörtert werden. Der LINKE bekamen die Neuwahlen trotz ihres Erfolges bei den Studiengebühren nicht gut, sie flog aus dem Landtag.

4. Die Macht des breiten Bündnisses: Bayern

Endlich wieder schlafen können. Zumindest in Berlin, Hessen und Bayern.

2012. Der Freistaat nahm als eines der letzten Bundesländer noch Gebühren von seinen Studierenden, die 2007 von der CSU eingeführt und politisch von der folgenden CSU-FDP-Koalition uneingeschränkt befürwortet wurden. Vier verschiedene Initiativen sammelten im Januar 2012 Unterschriften gegen die Gebühren. Erst als sich ein breiteres Bündnis von Freien Wählern, SPD, Grünen, LINKEN, Piraten über Gewerkschaften und Verbänden bis zu natürlichen Studierenden und ihren Verbänden formierte, hatte man Erfolg. Für die Beantragung eines Volksbegehrens sind in Bayern 25.000 Unterschriften notwendig, die das Bündnis im Juni einreichte. Das Innenministerium lehnte das Volksbegehren jedoch als verfassungswidrig ab. Dagegen erhob das Bündnis Beschwerde beim Verfassungsgericht, das schließlich den Weg für ein Volksbegehren frei machte. Über 70 Prozent der Bayerinnen und Bayern waren zu diesem Zeitpunkt laut Umfragen gegen Studiengebühren. Angesichts der Aussicht auf echten Gegenwind erkannte Landesvater Seehofer seine Chance und fiel trotz gegenteiliger Abmachung im Koalitionsvertrag einfach um. Ab sofort war die CSU gegen Studiengebühren, schließlich stand der Wahlkampf vor der Tür. Nur die FDP kämpfte nun noch allein auf weiter Flur und verteidigte mit ihrem Wissenschaftsminister Heubisch an der Spitze die Campusmaut. Im Januar 2013 begann das Volksbegehren, das für einen Erfolg kaum erreichbare 940.000 Unterschriften innerhalb von zwei Wochen in einem riesigen Flächenland benötigte. Mit großem Kraftaufwand von vielen Tausend Aktiven wurde jedoch ein Erfolg erreicht, der die Initiatoren wohl selbst überraschte. Statt der nötigen 10 Prozent der Wahlberechtigten waren es am Ende 14,3 Prozent, die einen Volksentscheid per Unterschrift erzwingen wollten. Da machte auch die FDP den Weg auf Drängen ihrer Landesvorsitzenden Leutheusser-Schnarrenberger zur Abschaffung frei und ließ die CSU mit der Opposition stimmen. Im April 2013 beschloss der Landtag die Abschaffung der Studiengebühren und kam auf diese Weise einem Volksentscheid zuvor. Es war das erste Volksbegehren in Bayern, das unverändert vom Landtag übernommen wurde.

Nicht die Geradlinigkeit der Opposition im Bündnis, sondern der wendehälsische Populismus von Seehofers CSU wurden jedoch bei den nachfolgenden Landtagswahlen honoriert. Grüne, LINKE und Freie Wähler wurden abgestraft. Lediglich die SPD punktete leicht. Die CSU regiert jetzt wieder allein mit einer absoluten Mehrheit - wie in den 46 Jahren vor 2008.

Tobias Schulze ist Mitglied der prager frühling-Redaktion und hat keinen einzigen Euro Studiengebühren bezahlt.