Grüne Dialektik

Über Kröten und Trompeten

Marcus Meier
Unser Autor Marcus Meier schluckt ungern Kröten.

„Haben Sie das Papier gelesen, das ich Ihnen gemailt habe?“, fragt Peter Terium ohne viel Umschweife. Ja, antwortet Peter Altmaier dem Manager, und er habe es sehr interessant gefunden. Vor allem die Passagen zur Bedeutung der heimischen Braunkohle. Terium ist Vorstandsvorsitzender der RWE AG, Altmaier zu diesem Zeitpunkt frisch gekürter Bundesumweltminister. Wenige Minuten später wird der Christdemokrat eine Rede halten, in der er den Beitrag der Kohle zur Energiewende lobt, um dann gegen das „Feindbild Kohle“ zu wettern. Ganz im Sinne vom RWE-Boss Terium.

An diesem 15. August 2012 nehmen beide (und mit ihnen lokale sowie Landes- und Bundesgrößen der beiden Volksparteien, darunter Hannelore Kraft) an einem Festakt teil. Gefeiert wird die Inbetriebnahme zweier weiterer Blöcke des RWE-Braunkohle-Kraftwerks Neurath im Rheinischen Braunkohlerevier zwischen Aachen, Köln und Mönchengladbach. Bejubelt wird das nunmehr „größte Braunkohlekraftwerk der Welt“. Also eine der klimaschädlichsten Industrieanlagen des Planeten.

Zwei Kröten schlucken jedoch auch nur die härtesten Grünen auf einmal.

Kröten schlucken die Grünen …

Das sei „ein wichtiger Schritt für den Industriestandort NRW“, tönt Festrednerin Hannelore Kraft, die Kohle-Freundin, die im satten Paranoia-Sound des BDI vor einer „Deindustrialisierung“ Deutschlands durch eine von ihr als zu forsch empfundene Energiewende zu warnen pflegt. Die SPD in NRW, so muss man wissen, ist wie CSU ohne Laptop und Lederhosen. Die Amigos heißen hier Genossen. Und fühlen sich jeglicher Schmutzindustrie innig verbunden.

Vor dem Neurather Werksgelände demonstrieren rund 70 Umwelt-Aktivisten gegen „die feierliche Inbetriebnahme eines Klimakillerkraftwerks“. Zu Hause geblieben ist hingegen Johannes Remmel, zwei Jahre zuvor ebenfalls gefeiert, und zwar als erster Klimaschutz-Minister in Deutschland. Der Grünen-Politiker verantwortet im einwohner- und industriestärksten Bundesland NRW zudem die Ressorts Umwelt, Naturschutz, Verbraucher und Landwirtschaft.

Seit 2010 regieren die Grünen wieder mit in Nordrhein-Westfalen, und sie beschwärmen die Harmonie der zweiten Auflage von Rot-Grün. SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft sei viel kooperativer als ihre Amtsvorgänger, die Genossen Rau, Clement und Steinbrück, die stets gewillt waren, die Grünen zu piesacken; damals von 1995 bis 2005.

Immer wieder hatte Rot-Grün I am Rande des Abbruchs gestanden — insbesondere wegen RWEs Braunkohle-Tagebau Garzweiler II. Immer wieder rangen grüne Parteitage a) ihre inneren Konflikte nieder und b) sich doch dazu durch, noch eine weitere Kröte zu schlucken, die ihnen die SPD-Machos kredenzt hatten. Von ihrem Martyrium erlöst wurden die Grünen erst vom Wähler, der CDU und FDP bei der Landtagswahl 2005 den Vorzug gab.

Rot-Grün II funktioniert anders. Kröten schlucken die Grünen nunmehr im stillen Kämmerlein, kleine bis mittlere Erfolge feiern sie mit überlauten Pauken und Trompeten. Wenn es zwischen SPD und Grünen nun zu weniger (offen ausgetragenen) Konflikten kommt, dann liegt das auch an einem Agreement in Sachen Energiepolitik. Es fußt auf zwei Lebenslügen, die sich in zwei Formelkompromissen widerspiegeln.

… im stillen Kämmerlein als Formelkompromiss.

Nummer eins: Zwar läuft weltweit jedes zehnte AKW mit Uran aus der Anreicherungsanlage im münsterländischen Gronau, zwar steht 15 Kilometer weiter südlich in Ahaus ein improvisiertes Brennelementelager und mitten in einem Duisburger Wohngebiet eine (allerdings selbst vielen Anwohnenden unbekannte) Atommüllfabrik. Doch SPD und Grüne verkünden in ihrem Koalitionsvertrag apodiktisch: „Atomkraft ist aus vielen Gründen eine unverantwortliche Form der Energieerzeugung. Deshalb ist NRW schon vor vielen Jahren aus der Nutzung der Atomkraft ausgestiegen.“

Erst demokratische Kontrolle und dann abschalten oder umgekehrt?

Die zweite Kompromissformel bezieht sich auf die Kohlekraft. „Die Landesregierung selbst baut keine neuen Kraftwerke und reißt auch keine begonnenen Projekte ab“ - führende Koalitionspolitiker können den Spruch auch dann fehlerfrei aufsagen, wenn sie nachts um vier geweckt werden. Im Kern ist er sogar richtig: Die Kohlemeiler werden tatsächlich weiterhin von RWE und gelegentlich E.on errichtet. Rot-Grün lässt die Konzerne lediglich gewähren. Längst haben sich die Grünen mit dem Neubau von mindestens sieben neuen Kohle-Kraftwerken abgefunden.

Die Wäscheleine als Erfolgsstory


Nur wenn die Sozis es zu allzu bunt treiben und Kraft ihren Wirtschafts- und Energieminister Garrelt Duin von der Leine lässt und der eine besonders bissigen Tag erwischt hat, mucken die Grünen mitunter auf. Bisher: Kurz und schmerzlos. Der Rest ist Alltag. Also grau.
„Realpolitik ist das Bekenntnis zum Scheitern des Versuchs, reale Verbesserungen durchzusetzen“, wusste noch Rainer Trampert, Ökosozialist und grüner Bundesvorsitzender von 1982 bis 1987. Realpolitiker erhielten einige Spielwiesen, müssten im Gegenzug aber alle schweinischen Entscheidungen mittragen. Tramperts Bonmot beschreibt ziemlich exakt die Situation der NRW-Grünen. Im Großen setzen sie nichts durch, im Kleinen dürfen sie einen machtlosen Klima-Minister stellen und ein Klimaschutzgesetzchen in die parlamentarische Pipeline jagen.
Vage formuliert, wenig ambitioniert, auf Wunsch der Wirtschaft kastriert, wird das Gesetz den Ansprüchen eines angemessenen Klimaschutzes nicht annähernd gerecht. Das liegt nicht primär an den Grünen: „Grüne wollen mehr Ökoenergie, SPD-Wirtschaftsflügel bangt um Stromkonzerne RWE und E.on“, fasste die grünennahe „taz“ die unterschiedlichen Positionen innerhalb der Koalition zusammen. Die Sozis setzten sich durch. Im Ergebnis sind die rot-grünen Klimaschutz-Ziele NRWs nicht halb so radikal wie jene Angela Merkels aus schwarz-gelben Tagen.
Ende letzten Jahres legte Remmel einen Klimaschutzplan vor, der immerhin 360 konkrete Vorschläge umfasst. Das „zentrale Instrument“ des „neuen Klimaschutzes“ (Remmel) bringt dabei das Kunststück fertig, das Thema Kohle komplett zu beschweigen. Stattdessen enthält es eine Menge kleinteiliger Projekte, die nicht nur in CDU-Reihen als kurios und absurd empfunden werden. „Mein Wäschetrockner ist eine Leine“, heißt eine geplante Info-Kampagne. Auch gegen dem Zweitkühlschrank-Wahn will Remmel aufklären („Weniger ist cool“).
Rot-grünen Konfliktstoff bietet die Regierungsbeteiligung der SPD im Bund. Neueste Düsseldorfer Sprachregelung: Die schwarz-rote Energiewende belaste Rot-Grün in NRW mitnichten. Punkt! Währenddessen weist Johannes Remmel die Schuld für den steigenden Kohleanteil am Energiemix der schwarz-gelben Bundesregierung zu, selbst nach deren Abtritt. Nichtsdestotrotz: Der Konflikt um die Kohlekraft gewinnt an Lautstärke und Komplexität.
Was das Rheinische Braunkohlerevier betrifft, entstand in den letzten Jahren eine bunte soziale Bewegung mit gleichsam naturwüchsig entstandener Arbeitsteilung. Das Spektrum der RWE-Opponenenten reicht vom Umweltverband BUND, der wichtige Urteile vor Gericht erstreitet, über Bürgerinitiativen aus der Region und die Linkspartei (sie organisierte beispielsweise einen Kongress zur Zukunft der Region nach der Braunkohle) bis hin zu öko-anarchistischen und autonomen Aktivisten. Letztere besetzen immer wieder RWEs Hambacher Forst, der RWEs Tagebau Hambach weichen soll.
Im August 2013 besetzten die libertär-linken Aktivisten eine Parteizentrale, die der nordrhein-westfälischen Grünen. Aufgefordert, „konsequent die Energiewende voranzutreiben statt sich am Neubau von Kohlekraftwerken zu beteiligen“, riefen die Grünen die Polizei zur Hilfe. Ließen die Besetzung flugs beenden. Und stellten Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs. Die Besetzer hätten einen „kritischen Dialog“ abgelehnt, „Erpressung und Besetzung“ seien nicht zu tolerieren, monierten die beiden Landeschefs der Partei, Monika Düker und Sven Lehmann. Von der Aktivisten-Forderung nach einem „sofortigen Braunkohleausstieg“ wollten die bürgerlichen Post-Ökos ebenso wenig hören wie vom Vorwurf, sie trügen eine „Mitschuld an der katastrophalen Kohlepolitik“ in NRW. Wahrscheinlich war ihnen das Dialogangebot nicht kritisch genug.

Marcus Meier ist Nachfahre von Bergleuten, fotografiert gerne stillgelegte Zechen wie Kokereien und schreibt seit fünfzehn über die Energiepolitik in NRW.