04.03.2014

Die (Un-)Möglichkeit kritischer Organisation

Ein Kommentar zu den "Thesen zur Dialektik von Renitenz und Regierung"

Jasmin Siri

Die „Thesen zur Dialektik von Renitenz und Regierung“[1] der Ausgabe #18 wurden im Netz heiß diskutiert. Verschiedene Autor_innen haben begonnen die Thesen mal kritisch, mal zustimmend zu kommentieren. Die entstandenen Texte werden hier in loser Folge veröffentlicht.

Kritik in Organisationen ist keine leichte Sache. Organisationen sind aus soziologischer Perspektive darauf eingestellt zu wiederholen und zu „funktionieren“. Sie bauen Muster der Arbeitsteilung auf, die sich praktisch bewähren und im Falle, dass sie sich bewährt haben, nicht kritisiert werden sollen. Organisationen bestehen, so eine eingängige Definition von Niklas Luhmann, aus Entscheidungsketten, die sich an mehr oder weniger festgelegten Werten und Programmen orientieren. Sie haben einen angebbaren Mitgliederkreis und dieser Kreis ist ebenfalls dazu aufgefordert, die Werte und Programme der Organisation zu unterstützen – sonst drohen Sanktionen (Luhmann 2000).

Kritik läuft dem zuwider. Sie will „ein Instrument sein für diejenigen, die kämpfen, Widerstand leisten und das, was ist, nicht mehr wollen. Sie muss im Prozess des Konflikts, der Konfrontation, des Widerstandsversuchs gebraucht werden. Sie darf nicht das Gesetz des Gesetzes sein. Sie ist keine Etappe einer Programmierung. Sie ist eine Herausforderung für das, was ist“ (Foucault 1978: 41). In dieser Gegenüberstellung zweier Definitionen wird deutlich: Es gibt wohl kaum unterschiedlichere soziale Praktiken als Organisation und Kritik. Und so ist eine Partei, die sich zugleich (selbst)kritisch beobachten als auch die Vorteile parteilicher Organisierung nutzen will, per se einer (Selbst)Gefährdung ausgesetzt.

Kritik und rationale Organisation sind also zwei so widerstreitende und unversöhnliche Zwecke, dass ihre Integration im Sinne einer - ja was eigentlich: einer irrationalen Organisation? Einer organisationsfreundlichen Kritik? – stets ihr zukünftiges Scheitern mitführt.

Noch genug Platz für Kritik, wenn die Organisation so dicht zusammensteht?

Wenn die Partei zu geschlossen ist, funktioniert Kritik nicht. Wenn Kritik zu gut funktioniert, funktioniert die Organisation nicht mehr und Prozesse der Selbstsabotage setzen ein. Für dieses prekäre Verhältnis gibt es keine Lösung, da es sich aus der Materialität der Kritik und der Organisationen begründet.

Die einzige Chance, eine Gleichzeitigkeit von Kritik und Organisation zu „organisieren“ besteht dann darin, die Prekarität zu prozessualisieren, zu beobachten und zu versuchen, Einfallstore gegen Destruktionsprozesse einzubauen. Die Redaktion des prager frühling schreibt ganz in diesem Sinne über eine „Dialektik von Renitenz und Regierung“. Dialektik bedeutet hier, nicht auf eine Integration oder Versöhnung der unterschiedlichen Kontexte zu hoffen, sondern ein Gedankenexperiment einzusetzen, bei dem die Verhandlung antagonistischer Positionen zumindest kurzfristig und in spezifischen Organisationskontexten zumindest denkbar erscheint.

Auch ein Text von Kolja Möller und Jörg Schindler versucht eine Balance der widerstreitenden Praktiken der Kritik oder der Organisation herzustellen. Was ich Organisation und Kritik genannt habe, nennen sie „Verstaatlichung und Autonomie“ bzw. „Funktions- und Sozialbereich“. Die Organisation nimmt den Funktionsbereich, die Praxis der Kritik den Sozialbereich ein. Beide Texte führen damit die Unterscheidung Organisation und Kritik wieder in die Organisation selbst ein und suchen nach Wegen, die Instabilität, die dieser Eintritt der Unterscheidung in der Organisation erzeugt, zu balancieren. Sie denken über Spielräume für Erneuerung, alternative Gegenwarten auf Parteitagen und Probemitgliedschaft nach.

Man könnte nun kritisieren, dass diese Figur ein ganz fieses Ungleichgewicht produziert: Schließlich erfolgt der Wiedereintritt der Unterscheidung innerhalb der Organisation und die Kritik, ihr Dasein nun in alternativen Gegenwarten des Sozialbereichs der Partei fristend, hat immer noch nichts zu entscheiden. Aus parteiensoziologischer Sicht scheint es aber zu dieser Kompromisslösung keine Alternative zu geben, wenn man die Vorteile der Organisation mitnehmen möchte.

Den Widerstreit der Praxis der Kritik und der Praxis der Organisation innerhalb der Organisation wieder abzubilden, scheint die einzige Chance zu sein, nicht ganz von der Kritik zu lassen. Einer etwas zahnloseren Kritik vielleicht, die stets mit dem schlechten Gewissen leben muss, sich gegen eine Organisation zu richten, die es doch eigentlich gut meint.

Dr. Jasmin Siri ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie hat dort mit einer Arbeit über den Wandel politischer Parteien und der Parteimitgliedschaft promoviert, die unter dem Titel "Parteien. Zur Soziologie einer politischen Form" 2012 im VS Verlag erschienen ist. Weitere Publikationen finden sich hier[2].

Verweise

Foucault, Michel (1992) (1978) Was ist Kritik Berlin: Merve Verlag.

Luhmann, Niklas (2000). Organisation und Entscheidung. Wiesbaden: VS-Verlag.

Links:

  1. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1121.protest-ist-kein-taschenmesser.html
  2. http://www.gender.soziologie.uni-muenchen.de/personen/wiss_ma/siri/publikationen/index.htmlhttp://www.gender.soziologie.uni-muenchen.de/personen/wiss_ma/siri/publikationen/index.html