21.04.2014

Illusion Regieren - Illusion Protest

Die Alternative zum Regieren ist nicht der Protest und der Lösungsansatz zu Protest nicht das Regieren.

Bodo Ramelow

Die „Thesen zur Dialektik von Renitenz und Regierung“[1] der Ausgabe #18 wurden im Netz heiß diskutiert. Verschiedene Autor_innen haben begonnen die Thesen mal kritisch, mal zustimmend zu kommentieren. Die entstandenen Texte werden hier in loser Folge veröffentlicht. Den ersten Aufschlag machte Jasmini Siri mit ihrem Beitrag „Die (Un-)Möglichkeit kritischer Organisation“[2]. Ihr folgten Mario Candeias mit „Linksparteien – multiple Persönlichkeiten oder lebendige Organismen?[3]“, Joachim Bischoff und Björn Radke mit Parteien links der Sozialdemokratie[4] und Horst Karhs, Mitarbeiter am Institut für Gesellschaftsanalyse der RLS, mit Linke Parteien leben nicht vom Protest[5]. Im aktuellen Beitrag antwortet Bodo Ramelow, Fraktionsvorsitzender der LINKEN im Thüringer Landtag.

Regieren als Selbstzweck? Eine Fragestellung, die mir seit den 90er Jahren immer wieder begegnet, wenn es um Akzeptanz der PDS im gesellschaftlichen Leben ging. Der verstorbene Landespolitiker Dieter Strützel, den man mit Fug und Recht in der Thüringer Partei einen Vordenker nennen konnte, nannte es immer "den Ring um die PDS zu sprengen". Es ging damals um die Aufgabe, den Menschen ein Angebot zu machen, die gerade die Wechselfälle des Lebens spürten, die durch die Abwicklung der DDR bedingt waren und mit der Transformation der gesellschaftlichen Systeme zu allen möglichen Brüchen führten.

Das Image der Kümmererpartei stammt aus dieser Zeit und ist im Langzeitgedächtnis der ostdeutschen Landesverbände stark verinnerlicht. Die Anknüpfungspunkte für politisches Handelns sind da durchaus different zu dem, was wir in der linken politischen Bewegung im Westen erlebt haben oder erleben. Für viele Menschen in der DDR war es wichtig neben dem öffentlichen politischen Raum einen privaten Platz zu haben, an dem sie miteinander ins Gespräch kamen. Häufig waren diese Orte Kirchen, sehr oft waren es aber auch die Kleingartenanlagen.

Die Marburger Kommunalpolitiker Eberhard Dehne und Herbert Bastian kannten das Refugium der Kleingärten auch und waren gern gesehene Gäste in den Schrebergärten. Der kommunalpolitische Erfolg der DKP Marburg hing auch stark damit zusammen, dass Persönlichkeiten wie die beiden genannten zwei Dinge beherrschten: Einerseits sich konkret und mit einem hohen Maß an Alltagstauglichkeit der Zukunftsgestaltung zu widmen und andererseits Protest und außerparlamentarische Bewegung als Teil des politischen Gestaltungsraumes zu verstehen.

In Thüringen fand ich diese Dualität der Methoden ab 1990 wieder, nur in einer viel stärkeren Dimension als es mir aus Marburg vertraut war. Es war dabei immer klar, dass sowohl vor dem Regieren wie auch vor dem Protest die Frage stehen muss: Wofür? War sicherlich Regieren Anfang der 90er Jahre für die PDS ein Selbstzweck, so kann man schon zum Ende der 90er Jahre dies nicht mehr wiederholen. In der gleichen Zeitspanne wären wohl die meisten linken Bewegungen in Westdeutschland gar nicht auf die Idee gekommen, Regieren als Option überhaupt nur auszuformulieren oder gar zu denken, denn häufig war dort die Protestbewegung der Ort und das Gefüge, um Veränderungen in der Gesellschaft erreichen zu können. Im Osten wurde es übersetzt mit "Veränderung beginnt mit Opposition". Dies wurde nicht zwingend als Absage an eine Regierungsoption verstanden, aber westdeutsch wurde es gerne interpretiert als "Absage". Ich glaube, dass hier ein Spannungsbogen zwischen der Sozialisation Ost und West und der jeweiligen Herkunft und den Erfahrungswelten der Akteure liegt.

Aus ambivalenten Erfahrungen miteinander in den frühen Neunziger Jahre entstand am Ende des Jahrzehnt doch wieder eine gemeinsame Bewegung von Initiativen, Parteien und Gewerkschaften. Über zahlreiche Organisationsgrenzen hinweg machten wir uns an die „Erfurter Erklärung“, um eine neue politische Bewegung anzustoßen. Die erste große gesamtdeutsche Demonstration einer linken Bewegung war dann die Großdemonstration in Berlin "Aufstehen für eine andere Politik". Damit wurde das Ende der Kohl-Ära mit eingeleitet und es war kein Zufall, dass Helmut Kohl auf dem Parteitag der CDU vor der "Volksfront aus Erfurt" warnte. Immerhin gab es zu dieser Zeit eine gemeinsame Maiveranstaltung von DGB, Einzelgewerkschaften, SPD, PDS und Grüne. Das war ein Novum und Ausdruck von gewachsenem Vertrauen der Akteure, um gemeinsam Zeichen zu setzen.

Die „Erfurter Erklärung“ hat dann wiederum mehrere große Konferenzen durchgeführt und dort wurde immer wieder die Frage nach dem Regieren gestellt. Regieren, aber unter der Maßgabe, aktiv den Folgen des Neoliberalismus entgegenzutreten. Aktiv der Rückeroberung des Öffentlichen wieder mehr Raum zu geben, aktiv den Zusammenhalt einer Gesellschaft in den Mittelpunkt zu stellen, wenn geregelte Arbeitsverhältnisse, Sonntagsruhe, öffentliche Gesundheitsvorsorge, öffentliche Daseinsvorsorge, der Kampf gegen Privatisierung etc. umrissen waren.

Mit der rot-grüne Agenda-Politik unter Gerhard Schröder wurde diesen Bestrebungen ein jähes Ende bereitet. Bündnisansätze wurden auseinandergebracht, und mit dem Überwechseln von Riester von der IG Metall in dieses Kabinett, dem Absegnen der Hartz-Gesetze und der Einführung der Riester-Rente ist viel Kraft aus der sich entwickelnden Veränderung in der Nachwendezeit herausgefallen. Die Fragen, die Ost und West hätten verbinden können, verloren wieder an Attraktivität, der Osten wurde zunehmend als Last dargestellt und für Schuldzuweisungen missbraucht.

Als demokratischer Sozialist empfand ich es als befreiend, nach dem Ende des Staatssozialismus eine Perspektive zu erleben, bei der demokratischer Sozialismus wieder mit einem neuen Anlauf, einem neuen Schwung versehen werden kann. Das Damoklesschwert darüber waren immer die Erfahrungen in der DDR und die strengen Teilungslinien zwischen den dogmatischen und den undogmatischen Linken im Westen. Mit der WASG gab es eine neue Sammelbewegung, die eher westdeutsch orientiert war und mit der PDS eine schon funktionierende Partei, die allerdings einen höheren Rückbindungsraum im Osten hatte. Aus diesen beiden unterschiedlichen Herkünften, Blickwinkeln und Erfahrungswelten eine neue Partei entstehen zu lassen, war für mich eine wichtige Aufgabe und Erfahrung in der Hoffnung, dass damit ein Treibsatz in den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen wieder verstärkt eingebracht werden kann.

Wenn ich unter diesen Perspektiven allerdings die sich scheinbar ausschließenden Gegensätze Regierung und Protest als Widerpart höre, dann reift meine Erkenntnis, dass die Alternative zum Regieren eben nicht der Protest ist und der Lösungsansatz zu Protest nicht das Regieren ist. Regieren ist ein Teil der Verantwortungsübernahme in einem festgefügten System, das hinlänglich als Kapitalismus identifiziert werden kann. Wenn man hierin allerdings Regierungspositionen einnehmen kann, dann unter der Maßgabe, um Pflöcke einzuhauen, z.B. gegen Sonntagsarbeit oder um klare Positionen zu beziehen, dass ein Bundesland wie Thüringen kein Niedriglohnland als Aushängeschild präsentieren möchte. Damit sind beide Probleme noch nicht gelöst, aber die Frage ist, ob Regierende an dieser Stelle deutliche Zeichen setzen. Und dann kommt die Frage, ob - wie bei der langen Auseinandersetzung um den Mindestlohn - Gewerkschaften, die lange den gesetzlichen Mindestlohn bekämpft haben und verhindern wollten, nun auf einmal erleben, dass Regierung eine Unterstützung sein kann. Es ist doch eine konkrete Auswirkung, wenn man mithilfe gesetzlicher Maßnahmen auch gewerkschaftliche Kämpfe wieder ein Stückweit mehr auf Augenhöhe gezogen bekommt, nämlich auf Augenhöhe mit denen, die sich mittlerweile als die machtvollsten Herren dieses Landes betrachten. Das Ganze geht aber nur, wenn gleichzeitig Protest und Bewegung gefördert, begleitet und mitgedacht werden.

Ein Regieren als Alternative zu Bewegung und Protest wäre eine falsche Entscheidung. Ich kann mir nur vorstellen, dass Regierende, die nicht hilflos den Mächtigen gegenüberstehen wollen, ein Bündnis mit Bewegung, mit Protest, mit der Bevölkerung eingehen müssen. Mehr direkte Demokratie, Emanzipation und Partizipation als Perspektive für jeden einzelnen Schritt, abgesichert durch jeweilige Abstimmungen und durch mehr Beteiligungs- und Entscheidungskompetenz für die Menschen.

Vielleicht ist dies auch nur eine Illusion, aber wenigstens eine, bei der ich an den täglichen Kampf der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen einer Gesellschaft glaube und bei der jeder kleine Schritt - auch für den Kleingartenbesitzer, für denjenigen, der von den zu hohen Strompreisen oder von den zu teueren Abwassergebühren, von der nicht mehr vorhandenen Altersversorgung oder der abhanden gekommenen Gesundheitsvorsorge betroffen ist - zur Verbesserung und zur Rückeroberung solcher Lösungsräume eine Verbesserung für den Menschen ist und das Ziel in der Verbesserung besteht. Ein kleiner Schritt auf einem langen Weg, und um mich zu trösten - der Weg ist das Ziel!

Links:

  1. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1121.protest-ist-kein-taschenmesser.html
  2. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1125.die-un-m%C3%B6glichkeit-kritischer-organisation.html
  3. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1128.linksparteien-multiple-pers%C3%B6nlichkeiten-oder-lebendige-organismen.html
  4. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1131.parteien-links-der-sozialdemokratie.html
  5. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1132.linke-parteien-leben-nicht-vom-protest.html