Wie kommen wir hin?

Fahrscheinlosen ÖPNV selber machen

Sabine Leidig
Geht auch ohne: Fahrscheine

Irgendwo muss man damit anfangen. Aber wo? Es gibt eine Reihe Faktoren, die ein Pilotprojekt braucht: Die Stadt sollte nicht zu klein, das Netz funktionstüchtig sein, aber auch nicht zu teuer. So hat Hamburg eine U-Bahn, und deren Erweiterung ist ähnlich schwer zu kalkulieren wie ein Konzerthaus-Neubau. In Frage kämen eher Orte wie Braunschweig oder Kiel oder Schwarzfahrerhochburgen. Da liegt Hannover in Norddeutschland auf Platz eins, etwas vor Bremen. Dennoch, an Bremen sollen im Folgenden die Voraussetzungen für einen fahrscheinlosen ÖPNV diskutiert werden. Immerhin hat Wilfried Eisenberg, der Chef der bremischen Straßenbahn AG (BSAG) durchaus schon Sympathien für die Idee gezeigt. Das ist hilfreich und keineswegs die Regel. In Bremen ließe sich zudem das neue System entweder als Landesgesetz einführen, was Bremen und Bremerhaven zur Umsetzung zwänge, oder aber als kommunale Satzung. Schließlich sind dort finanzwirksame Volksbegehren zulässig. Denn glauben sie, dass sich eine Stadtverordnetenversammlung traut, Schwarzfahren abzuschaffen?

Außerdem braucht man Mitstreiter. Die Voraussetzungen sind in Bremen gut. Es gibt sogar CDU-Leute, die dafür wären. Einige FDP-Landesverbände hatten die Idee schon mal im Programm. Im Grunde, das ist ja das Schöne, kann jede gängige Ideologie fahrscheinlosen ÖPNV gut finden. Er lässt sich als Vergesellschaftung öffentlicher Infrastruktur darstellen. Er erleichtert die Teilhabe. Er ist, wie die Beispiele Hasselt und Tallinn zeigen, ökologisch und ökonomisch sinnvoll … Hauptantrieb sind in Bremen bislang die Piraten. Die haben das Thema am weitesten ausgearbeitet. Dass sie bei den Wahlen bislang nicht so richtig erfolgreich waren, ist fast ein Vorteil, weil es noch stärker zur Partnersuche zwingt. Mit der Linken hat man eine Arbeitsebene gefunden. Ein sich schärfer links verortendes Bündnis hat mehrfach eher anarchische Umsonstfahrtage ausgerufen, so als Aktion, ist zwar versandet, aber: Das Potenzial gibt’s. Der BUND ist in Bremen stark und kampagnefähig, und in dessen Haus residiert noch dazu der Landesverband des ökologischen Verkehrsclubs Deutschland, des VCD. Die kritische Masse wäre also vorhanden.

Was finanztechnisch nicht klappt: Nulltarif einführen und fertig. Im belgischen Hasselt hat man den ÖPNV einfach aus dem Investitionsbudget bezahlt, was ein Problem wird, wenn dessen Kosten und die Steuereinnahmen nicht im Gleichschritt wachsen – und auch im deutschen Haushaltsrecht kaum möglich ist. „Die ultimative Form ist das beitragsfinanzierte ’Bürgerticket‘ für alle“, stellt eine Studie des VCD über „Möglichkeit und Grenzen des ÖPNV zum Nulltarif“ fest: ein Modell also, bei dem alle BürgerInnen zahlen müssen – genauso wie die Müllabfuhr oder den Rundfunk, einfach damit die Dienstleistung bereit steht. Das wäre auch eine sehr transparente Form der Finanzierung. Denn, darauf weisen die Piraten hin, allein 2012 hat Bremen mehr als 54 Millionen Euro an die BSAG überwiesen, um Verluste auszugleichen – eine Summe, um die sich der öffentliche Haushalt per Beitragsmodell entlasten ließe. Der Monatsbeitrag läge in Bremen wohl noch unter 30 Euro. BSAG-Chef Eisenberg hatte im August in der taz sogar von 25 Euro gesprochen – weniger als halb so viel wie eine Monatskarte für die gesamte Stadt.

Ein Investitionsprogramm müsste skizziert werden: Denn der ÖPNV ist ja gut ausgelastet, eine Fahrgastzahlenexplosion würde er ohne Verbesserung des Angebots weder verkraften, noch, umgekehrt, erzielen. Und beides ist wünschenswert: Je größer der Zuwachs, desto stärker die Abnahme des Autoverkehrs, Baumaßnahmen fördern die Konjunktur. Die Chancen, dafür Fördergelder abzugreifen sind gut, denn die EU hat die Verkehrsinfrastruktur als neuen Schwerpunkt definiert und die entsprechenden Mittel bis zum Jahr 2020 verdreifacht.

Jetzt muss man das in Form bringen, als Gesetz oder Satzung: Etwas knifflig wird es bei der Frage, wie man die Pendler einbeziehen kann (das wäre wichtig) und wie die Touristen schröpfen (das ist eher Populismus). Politisch debattieren muss man die Definition von Ausnahmen: Klar sollten Menschen mit Behinderung weiter gratis fahren, Kinder auch, aber dann: Ist eine soziale Staffelung möglich, um Familien zu entlasten? Und: Wie lässt sich das Modell mit dem Verkehrsverbund koordinieren, und wie mit dem Semesterticket vereinbaren? An solchen Fragen entzünden sich gern Klagen.

Und dann? Am besten wäre es gewesen, direkt mit Inkraftreten der Erhöhung der Ticketpreise mit dem Unterschriftensammeln zu beginnen, denn verbreiteter Ärger ist für so was ein guter Antrieb. Um 4,6 Prozent im Schnitt sind sie in Bremen zum Jahresbeginn gestiegen – und ausgerechnet der Preis fürs gesondert bezuschusste Sozialticket um stolze 23,7 Prozent! Noch reicht jedenfalls die Zeit, um initiativ zu werden: Die nächste Landtagswahl kommt erst 2015.