No Future war gestern

Thesen der Redaktion

1)

So sah die Zukunft des Sozialismus in der Vergangenheit aus

Der Kampf der sozial ausgebeuteten Klasse in der Arbeiter*innenbewegung war immer als Kampf um die Zukunft und den gesellschaftlichen Fortschritt konzipiert. Politische Bewegungen, wie es im 18. Brumaire[1] heißt, zögen immer die Kostüme vergangener Bewegungen an. „Die soziale Revolution“ bricht mit diesem Zustand, denn sie „kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft“, heißt es da. Es sind also soziale Kämpfe, welche die Zukunft zum Gegenstand des Politischen machten, ja überhaupt eine Vorstellung von Zukunft in einem heutigen Sinne denkbar werden ließen. Als so die Zukunft in diese vergangene Gegenwart hereingebrochen war, entstanden Techniken, die sie wieder einfangen sollten: Statistik, die Zukunft berechenbar und Prognostik, die sie steuerbar machen sollten und damit selbst politische Wissenschaften wurden. Fortschritt, Bewegung, technische und soziale Umwälzungen sind die Voraussetzung zur Verschiebung von Machtverhältnissen und gleichzeitig Anlass für Versuche sie zu stabilisieren.

2)

Bei der SPD etwa, einer von mehreren Erbinnen der Arbeiter*innen bewegung, steht der Begriff Fortschritt seit ihrer Gründung zwar bis heute als ungebrochen positive Leitidee über Programmen und Kampagnen. Sogar einen Begriff des „neuen Fortschritts“ wurde dort 2011 erfunden. Fortschritt ist bei der realexistierenden Sozialdemokratie jedoch so sehr seines Inhaltes entleert, dass er alles bezeichnen kann. Mal geht es um wirtschaftliches Wachstum, mal um neue Familienmodelle, mal um Abbau von Sozialleistungen, mal um deren Aufbau. Nicht zuletzt liegt dies daran, dass die Sozialdemokratie ihren Zukunftsbegriff an die Prognosetechnokraten von Rürup- und von Hartz-Kommissionen kettete und sich damit der begrenzten Phantasie von Versicherungsmathematikern auslieferte.

Zukunft der Geschlechterverhältnisse? Eher nicht

3)

Aber auch die von Marx und Lenin inspirierte Arbeiter*innen bewegung wähnte sich lange im Rahmen einer selbst erfüllenden Prophezeiung: wir stehen auf der richtigen, auf der zukunftsweisenden Seite geschichtemachender Auseinandersetzungen. Weil wir das Recht auf Befreiung haben, muss es auch so kommen. Es kam aber mehrfach anders. Walter Benjamin sah unter dem Eindruck des Hitler-Stalin-Paktes und des Versagens im Kampf gegen den Faschismus den blinden Fortschrittsglauben und die festgefügte Mechanik des historischen Materialismus als Irrweg der Geschichte an.

4)

Die Kehrseite der eschatologischen Heilserwartungen begegnet einm/r zuweilen in einer linken Krisenapologie, die sogar noch hinter vulgäre Verelendungstheorien zurückfällt. Nach dem Motto: „Erst wenn die Krise auch in Deutschland Konsequenzen wie in Europas Süden zeitigt, haben wir wenigstens Recht behalten“, geht es den ProtagonistInnen nicht einmal mehr um die vage Hoffnung, dass aus der sozialen Prekarität, emanzipatorische Kämpfe erwachsen könnten.

Wer die Welt verändern will, soll Analysen und Theorien zu Werkzeugen, aber nicht zu bequemen Dogmen machen. Zukunft läuft nicht linear, sondern allzuoft in Brüchen, in unvorhergesehenen Wendungen, in komplexen Prozessen. Statt quasireligiöser Schriftgläubigkeit ist neu- und umschreiben der Geschichte angesagt.

So sah die Zukunft der Konsumgesellschaft noch in den 70er aus

5)

Die Begrenzung unserer Ressourcen hat den linken Fortschrittsglauben ein weiteres Mal tief erschüttert. Zu deutlich erscheint der Eindruck, dass Zukunft nicht nach dem bisherigen Modell von Industrialisierung gebaut werden kann. Linke, die es mit der Zukunft ernst meinen, können über ökologische Fragen nicht mehr hinweggehen. Die Gestaltung einer Postwachstumsgesellschaft muss zwingend mit Verteilungsfragen gekoppelt werden.

6)

Utopien, die ohne tiefe Kenntnis und radikale Kritik des Bestehenden entwickelt werden, sind nicht mehr als Gedankenspiele. Wer die Zukunft beeinflussen will, muss die Bewegungsmuster der Gegenwart kennen.

Aus dem Blick in die Geschichte können Linke für die Zukunft lernen, aber sie sollten nicht der Illusion unterliegen, Blaupausen für die Probleme der Zukunft darin zu finden, Anregungen hingegen schon. Eine demokratisch-sozialistische Linke sollte sich nicht auf Wiederherstellung des vermeintlich guten Vorgestern beziehen, sondern bei allen Kämpfen im heute, um Weichenstellungen für morgen und übermorgen ringen und die Bedingungen für die Kämpfe in der Zukunft zu unseren Gunsten verändern.

Nee, schon klar.

7)

Mindestens seit der neoliberalen Ära zwischen 1980 und 2010 kämpfte die Linke in Deutschland und in Europa eher gegen soziale Verschlechterungen als um das utopische Morgen. Und war damit sogar teilweise recht erfolgreich. Bis jetzt. Neben den Klassenkampf von oben sind weitere politische Konflikte und Probleme getreten: die Instabilität internationaler Strukturen, die globale Spaltung in arm und reich, die digitale Revolution, die Unumkehrbarkeit von Klimawandel und Naturzerstörung.

Weil Linke mehr wollen, wird von ihnen mehr erwartet. Der kleine Schritt in die richtige Richtung ist gut und kostet große Anstrengung. Der große Schritt muss dabei mitgedacht, entwickelt und diskutiert werden. Linke Politik muss aus dem Kennen, aus dem Bewegen im Bestehenden oder aus der Kritik des Bestehenden über das Bestehende Hinausweisendes entwickeln oder erkämpfen. Linke Politik braucht einen utopischen Überschuss, braucht Übertretungsenergie wie die Luft zum Atmen. Der Kampf um die Straßenbahnlinie im Stadtbezirk ist dann auch die Möglichkeit, die Idee eines fahrscheinfreien ÖPNVs in die Debatte zu bringen.

8)

Von linker, vielleicht sozialistischer Politik, erst recht von einer solchen Partei wünschen wir uns eine Herangehensweise, die gesellschaftliche Widersprüche weder negiert, noch als dauerhaft sieht, sondern in jeder Situation ihre Handlungsmöglichkeiten erkennt. Das ist nicht vor allem eine Frage der Meinung, sondern eine des Wissens und der Erkenntnis. Linke sollten Erkenntnisse diskutieren und nicht soziokulturelle Ressentiments.

9)

Zukunft ist mehr als die Wahlperiode, überhaupt als die leere, ohne Inhalt gefüllte Zeit. Benjamin berichtete, dass die Revolutionäre in Paris zuerst die Kirchturmuhren zerschossen, um die Zeit ihrer Kontinuität zu berauben. Auch heute muss die Zeit politisch mit Inhalt gefüllt werden. Zukunft ist ein Möglichkeitsraum, in dem Veränderungen des Bestehenden überhaupt nur denkbar sind. Mindestens so wichtig wie die Zeit, die für diese Veränderung gebraucht wird, ist die Intensität und Radikalität dessen, was erreicht werden kann.

Ein Problem, dem wir uns stellen müssen: Auch diejenigen, die voller Interesse und Überzeugung für Pfadwechsel in ein anderes Morgen sind und die ein diskursives Politikverständnis haben, treffen auf eine fragmentierte politische Realität, die auf Kurzfristigkeit und Kurzatmigkeit ausgerichtet ist. Ein klassischer Vorwurf lautet:

Politik denkt immer nur bis zur nächsten Wahl. Das Ringen um Zukunft meint jedoch mehr als die nächsten Wahlergebnisse. Das Alleinstellungsmerkmal von DIE LINKE war bisher ihre klare Absage an den neoliberalen Zeitgeist. Nun muss sie beweisen, dass sie in der Lage ist, diese Position weiter zu entwickeln und dafür sowohl das Handwerkszeug als auch einen Kompass hat.

Klingt paradox, ist aber Quatsch

10)

Unsere Welt wird künstlicher, vom Menschen gemacht. Technologie und Wissen verändern alles. Diese Entwicklungen haben viele Triebfedern: Profit und Gewalt, Kommunikation oder Neugier, aber auch der schlichte Mangel. Wer Einfluss auf die Zukunft nehmen will, wird weder mit Maschinenstürmerei, noch mit naivem Innovationsoptimismus erfolgreich sein. Mit Produktivkräften und ihrer Entwicklung sollten Linke umgehen können, wenn sie Einfluss nehmen wollen. Sie stoppen zu wollen, erscheint weder möglich noch wünschbar.

11)

Zukunft ist weniger denn je eindeutig. Denkbar sind viele Zukünfte, die sich zwischen zwei Polen bewegen: zwischen dem, was drohen könnte und dem, was an Gutem und Erstrebenswertem möglich wäre. Undenkbares und Unplanbares ist immer einzukalkulieren. Die Kontingenz unserer Lebens- und Gesellschaftsverhältnisse sollte gerade für Linke Anlass sein, über die möglichen Zukünfte intensiver zu diskutieren. Gewissheiten sind für die Vergangenheit möglich, für die Zukunft sind sie vor allem - anzuzweifeln.

11)

Zukunft lässt sich in einer zusammen gerückten und vernetzten Welt nicht im Alleingang ändern. Die Idee, dass wenige oder gar einzelne in dieser Welt die Spielregeln bestimmen, führt – in politische Handlung übersetzt – in vor- oder postdemokratische Zeitalter oder zum Terrorismus. Linke Parteien nicht nur als Keile oder Stachel in einer falschen Gesellschaft gedacht, sondern als Netzwerk, das die Alternativen zum Herrschenden mit anderen hervorbringt, unterstützt und in die Zukunft entwickelt.

12)

Solche Parteien setzen sich nicht in Isolation, sondern in Austausch und Interaktion mit der Gesellschaft. Zugleich sind sie Räume, das Nichtexistente zu denken und Kritik zu formulieren. Und eine alternative Praxis selbst zu leben.

Die Zukunft des Fischflugs

Links:

  1. http://www.mlwerke.de/me/me08/me08_115.htm