Gretchenfrage

Sag mir, wie hältst Du es mit den Parteien?

Sven Giegold

Als ich noch versuchte ein guter Anarchist zu sein – also vor dem Studium – waren Parteien mir verdächtig und ich machte einen großen Bogen um sie. Es dauerte viele Stunden hinter Büchern und auf Vorlesungsbänken, um sie als notwendiges Übel der parlamentarischen Demokratie zu verstehen, die auch durch die schönste Partizipation nicht ersetzbar ist. Heute im Europaparlament sehe ich jeden Tag wie wichtig Parteienfamilien sind. Einzelne Abgeordnete sind in der Komplexität unserer Welt und der sie mehr schlecht als recht regelnden Gesetze völlig wirkungslos. Ohne die Arbeitsteilung zwischen mehr oder weniger Gleichgesinnten kann Demokratie nicht funktionieren. Ohne Spezialist*innen für das Gemeinwohl wären die Parlamente mächtigen Lobbyverbänden noch hoffnungsloser unterlegen. Das verbreitete Idealbild des einzelnen Abgeordneten, der oder die jede Sachfrage alleine prüft, bevor eine Entscheidung zu treffen ist, negiert die Kompliziertheit einer offenen und pluralen Gesellschaft und Ökonomie. Wenn die Demokratie gegenüber dem Finanzmarktkapitalismus wieder die Oberhand gewinnen soll, braucht sie mehr, nicht weniger Arbeitsteilung. Dazu brauchen wir letztlich tatsächlich europäische Parteien und Öffentlichkeit und irgendwann ein Weltparlament mit globalen Parteien.

Trotz dieses Plädoyers für noch komplexere Parteien hat sich mein Verhältnis zu Parteien allgemein bis heute nicht zu einer Liebesbeziehung entwickelt. Ich habe viel Sehnsucht nach meiner Land-WG mit Gleichgesinnten aus verschiedenen sozialen Bewegungen und der starken Solidarität in sozialen Bewegungen insgesamt. Sicher in den Bewegungen war auch nicht alles lustig. Es gab eine Menge Trolle und Schrate, wenn auch oft liebenswert. In den Grünen ist es politisch viel einfacher als bei Attac. Wir sind uns letztlich politisch und kulturell ähnlicher. Dennoch bin ich sehr froh, dass ich mich vor 6 Jahren den Grünen angeschlossen habe. Im Europaparlament Grüne Politik zu machen, ist ein großes Geschenk. Ich bin froh und stolz, wie viel wir mit Parteifreund*innen aus ganz Europa gemeinsam erreichen konnten. Aber was nervt, sind die ständig präsenten Konsequenzen der Konkurrenz um Posten und Macht. Es passieren mehr schräge Dinge als in sozialen Bewegungen – Alleingänge zur Profilierung, üble Nachrede, Machtklüngel. Parteien sind eben selbst bei dem gemeinsamen ideellen Ziel, den Planeten zu retten, auch Instrumente zur Verteilung von Macht. Effektiv Politik zu machen, lohnt sich, aber bleibt anstrengend.

Sven Giegold, grüner Europaabgeordneter[1]

Rosa Luxemburg

Statt sich mit der technischen Seite, mit dem Mechanismus der Massenstreiks fremden Kopf zu zerbrechen, ist die Sozialdemokratie berufen, die politische Leitung auch mitten in der Revolutionsperiode zu übernehmen. Die Parole, die Richtung dem Kampfe zu geben, die Taktik des politischen Kampfes so einzurichten, daß in jeder Phase und in jedem Moment des Kampfes die ganze […] Macht des Proletariats realisiert wird und in der Kampfstellung der Partei zum Ausdruck kommt, daß die Taktik der Sozialdemokratie nach ihrer Entschlossenheit und Schärfe nie unter dem Niveau des tatsächlichen Kräfteverhältnisses steht, sondern vielmehr diesem Verhältnis vorauseilt. […]Eine konsequente, entschlossene, vorwärtsstrebende Taktik der Sozialdemokratie ruft in der Masse das Gefühl der Sicherheit, des Selbstvertrauens und der Kampflust hervor; eine schwankende, schwächliche, auf der Unterschätzung des Proletariats basierte Taktik wirkt auf die Masse lähmend und verwirrend.

Rosa Luxemburg, SPD

Cornelia Otto

Grundsätzlich ist es sinnvoll, sich zu organisieren und solidarisch für eine politische Idee oder gemeinsame Werte einzutreten. Leider scheinen einige Parteipolitikerinnen und Parteipolitiker zu vergessen, dass man Politik nicht zum Selbstzweck macht, sondern für 80 Millionen Menschen – oder sogar für 740 Millionen im Falle, dass man ins Europaparlament gewählt wurde. Man sieht aktuell, wie die (in manchen Situationen sicher sinnvolle) Fraktionsdisziplin von der Regierungskoalition völlig schamlos zur Totalblockade der Opposition genutzt wird. Wenn Anträge anderer Parteien rein aus Prinzip abgelehnt werden, obwohl man grundsätzlich der Sache zustimmt, hat das mit Demokratie nicht mehr viel zu tun. Das ist Machtpolitik aus Eigennutz. Mit Sicherheit wären parteiübergreifende Themenbündnisse einzelner Abgeordneter demokratischer. Ich glaube aber, dass es in der Natur einer Partei liegt, Machtpolitiker hervorzubringen. Denn um sich innerhalb einer Partei hoch zu kämpfen, muss man ein dickes Fell und eine gute Portion Egoismus mitbringen. Für die Demokratie wäre es sicher gut, wenn sich in Parteien mehr Menschen mit Gemeinsinn durchsetzen.

Cornelia Otto, Ex-Piratin

Conny Hildebrandt

Parteien sind ein Widerspruch in sich. Weder sind sie Zivilgesellschaft, noch sind sie Staat. Sie nennen sich Teil (Part) und beanspruchen, für das Ganze zu stehen. In ihnen sind nicht einmal zwei Prozent der Bürgerinnen und Bürgern organisiert und doch behaupten sie, für 100 Prozent zu sprechen. Parteien brauchen gesellschaftliche Verankerung und leben in einer eigenen Welt – vor allem ihre Vertreterinnen und Vertreter in Parlament und Regierung. Sie beziehen sich auf gesellschaftliche Konfliktlinien und meinen, Antworten zu haben, die diese Konflikte überflüssig machen. Parteien leben von der schwächsten Form demokratischer Meinungsäußerung der Bürgerinnen und Bürgern – dem Stimmzettel bei Wahlen – und streben nach der stärksten politischen Macht – nach Mehrheiten im Parlament und in der Regierung. Sie sind die entscheidenden Stützen parlamentarischer Demokratie und hebeln sie selbst aus, wenn sie nach Volksentscheiden rufen oder Entscheidungen in die Exekutive verlagern. Die Parteien der Linken verschärfen diese Widersprüchlichkeit noch: Sie wollen mehr Gerechtigkeit hier und jetzt durch einzelne Schritte und sehen dies als Einstieg in eine radikale Transformation der Gesellschaft. Sie setzen auf ein solidarisches Bündnis der Mitte und des Unten der Gesellschaft im Kampf gegen die da oben und müssen sich bei Erfolg mit denen da oben an einen Tisch setzen. Parteien werden gebraucht, wenn sie diese Widersprüche für andere überzeugend austragen.

Conny Hildebrandt, Referentin Parteienforschung am Institut für Gesellschaftsanalyse[2]

Johannes Agnoli

Parteien entwickeln eine Qualität, die mit ihrer materiellen Interessenlage verbunden ist: sie sind an der Aufrechterhaltung der Verhältnisse interessiert, die ihre Etablierung an der Macht ermöglichen. Dadurch koppeln sie sich - ganz gleich, ob sie Massenparteien sind oder nicht - mit den Interessen derjenigen gesellschaftlichen Gruppen, denen es ebenso an der Konservation der gegebenen Strukturen gelegen ist. Insofern ist die alte Frage müßig, ob die politisch herrschenden Gruppen Handlanger der herrschenden Klasse sind oder ob sie eine selbständige gesellschaftliche Klasse (die politische Klasse) darstellen. Sie sind selbst ein Teil, nämlich der politische, der herrschenden Klasse. Genauer: sie sind deren staatliche Funktion. Auf diese Weise wird der gesellschaftliche Antagonismus im Parteiensystem nicht mehr widerspiegelt – denn im staatlichen Herrschaftsapparat findet nur die Reproduktion des einen Pols der Gesellschaft statt, der sonst antagonistisch in Frage gestellt wäre.

Johannes Agnoli, Politikwissenschaftler

Links:

  1. http://www.sven-giegold.de/
  2. http://www.rosalux.de/stiftung/ifg.html