Plebiszite im Kontext

Die prozeduralistische Geisteshaltung überwinden

Phillip Schink

Es gibt seit geraumer Zeit in der Linken die Diskussion, ob die plebiszitären Elemente, stärker genutzt oder sogar auszubauen sind. Natürlich ist der Kampf für eine demokratische Gesellschaft stets ein fester Bestandteil linker Politik gewesen. Zugleich wird in der Linken darunter sehr Unterschiedliches verstanden. Grob gesagt wurde in den dominanten Strömungen der sozialistischen Linken stets ein instrumentelles Verständnis von Demokratie vertreten. Dies lag einerseits in einer recht realistischen Konzeption von Demokratie begründet, aber auch in der Kritik von Politik und Staat insgesamt, von denen man zudem annahm, sie seien aufgrund der geschichtliche Entwicklung des Kapitalismus sowieso zum Absterben bestimmt.

Die geschichtliche wie auch politische Situation am Beginn des 21. Jahrhunderts stellt die Forderung nach einer Demokratisierung unter eine andere Perspektive: das Scheitern des realen Sozialismus lässt die Idee der bürgerlich-liberalen Demokratie zur politischen Leitwährung werden, in die alle weiteren Forderungen konvertierbar sein müssen. Unter dem Eindruck des so weitreichenden wie tiefgehenden Scheiterns der sozialistischen Projekte wurde eine prozeduralistische Wende genommen Man konzentriert sich auf faire und allgemeine Teilhabebedingungen an der Politik und gesteht Legitimitätsfragen einen absoluten Vorrang zu. In der Demokratie wird dabei sowohl eine Antwort auf das Problem der „schmutzigen Hände“ und der Avantgarde gesucht, als auch ein Erbe für die mit dem Sozialismus verbundene Idee des „Kollektivismus“. Gerade weil in der Geschichte des 20. Jahrhunderts das Handeln auf Seiten der Linken mit so vielen Verwerfungen und fürchterlichen Folgen verbunden war, wird nun die demokratische Entscheidung allen auf Gesellschaftsveränderung abzielenden Eingriffen vorgeschaltet.

Diese Entwicklung ist in ihrem historischen Zusammenhang verständlich und zu begrüßen. Sie hat jedoch auch zu einem eigentümlich starren Verständnis von gesellschaftsveränderndem Handeln geführt. Heute ist eine Geisteshaltung in der Linken sehr verbreitet, die anhand einer Reihe von starren Handlungsvorschriften bestimmen will, wie politisch zu agieren sei. Bestimmte (moralische) Überzeugungen werden nicht als Zwecke verstanden, zu deren bestmöglicher Realisierung man durch eine Analyse der historisch-konkreten Situation im politischen Handeln geeignete Mittel sucht, vielmehr verkörpern sie Prinzipien, die unter allen Umständen zu beachten sind. Diese Haltung zeigt sich auch im Hinblick politische Institutionen. Diese werden ebenfalls nicht als Mittel zur Realisierung bestimmter Zwecke verstanden, sondern ihnen wird ein intrinsischer Wert zugeschrieben, so dass sie gut oder richtig unter allen Umständen werden.

Dieses Geisteshaltung führt dazu, dass etwa in der Diskussion um das Für und Wider von Plebisziten nicht durch eine Analyse der historisch-konkreten Situation die Folgen solcher Volksbegehren eingeschätzt werden, sondern sie mit der Idee der Demokratie insgesamt identifiziert werden. Dies hat seinen Grund u.a. darin, dass durch die schon angeführte prozeduralistische Wende, auch die Bewertungsmaßstäbe verschwunden sind, die es erlauben würden, überhaupt so etwas wie den instrumentellen Wert eines Plebiszits einschätzen zu können. Das zu tun würde bedeuten, dass man sich viel stärker damit auseinandersetzt, welche gesellschaftlichen Zustände man denn mit welchen Mitteln bewirken möchte. Plebiszite können eine Antwort auf eine ganze Reihe unterschiedlicher Probleme sein: man kann mit ihnen allgemeine Legitimationsdefizite beheben, oder Machtungleichheiten, oder eine verzerrte Repräsentation korrigieren, oder die öffentliche Auseinandersetzung mit Themen befeuern, usw. Man sollte nicht außer Acht lassen, dass den jüngeren Erfolgen mit Plebisziten im Bereich der kommunalen Daseinsvorsorge auch wohlstandschauvinistische oder rassistische Gegenerfolge (siehe Schweiz oder Hamburg) gegenüberstehen.

Hauptsache dabei? Ganz so beliebig wie die Regierung in Baden-Württemberg sollte die Linke jedenfalls nicht sein

Um mit diesen Widersprüchen umzugehen, sollte die prozeduralistische Geisteshaltung überwunden werden. Um wieder in die gesellschaftlichen Konflikte eingreifen zu können und Handlungsfähigkeit zurückzuerlangen, wäre es nötig diese Geisteshaltung in einem neuen politischen Denken aufzuheben. Ein Vorschlag hierzu: Als Maßstab, an dem politisches Handelns ausgerichtet wird, nimmt man den Vorrang der Interessen und Belange der gesellschaftlich Schwachen vor allen anderen an. Alle Kritik an bestehenden demokratischen Verfahren und alle Vorschläge für neue Verfahren oder Reformen müssen danach beurteilt werden, ob sie die Position der Schwachen stärken. Also nicht Demokratisierung per se, sondern stets eine Demokratisierung, die effektiv auf eine Veränderung bestehender Machtverhältnisse zugunsten der unteren Klassen und Schwachen in der Gesellschaft abzielt. Dabei wird deutlich, dass für die Bestimmung der Schwachen nicht einfach nur etwa auf den Gegensatz „politische Klasse“ versus „einfache Bürger“ zurückgegriffen werden kann, sondern dass auch die Kategorie der „einfachen Bürger“ machttheoretisch betrachtet werden muss.

Philipp Schink ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-Universität Frankfurt/M.