Fest oder flüssig?!

Liquid Democracy und die Fallstricke des permanenten Plebiszits

Martin Delius

Seit dem Wahlerfolg der Piratenpartei in Berlin im Jahr 2011 ist der Begriff „Liquid Democracy“ oder flüssige Demokratie zumindest dem politischen Establishment ein Begriff. In der Piratenpartei als Experiment gestartet, sind das Konzept und seine Implementationen noch lange nicht in der politischen Praxis angekommen. Was können wir von der fließenden Demokratie erwarten und wie innovativ ist diese andere Form der Einbettung des Individuums in demokratische Entscheidungsstrukturen wirklich?

Liquid Democracy? Einen egalisierenden Effekt hat Alkohol jedenfalls

Die flüssige Demokratie setzt darauf, dass das Individuum in einem demokratischen Entscheidungsprozess jederzeit die Möglichkeit haben soll, selbst zu entscheiden, ob es direkt oder über eine Repräsentation beteiligt sein möchte.[1] Konkret geht es also um eine ständige Umverteilung von Stimmgewichten innerhalb einer festen Grundgesamtheit, für die zunächst das Prinzip der Stimmgewichtsgleichheit gilt. Wenn jede oder jeder Einzelne die Möglichkeit hat, die eigene Stimme an beliebige Teilnehmende in einem System zu delegieren, werden Mehrheitsverhältnisse, Koalitionen und Fraktionen dynamisch: Sie verflüssigen sich.[2]

Da mit diesem Prozess keineswegs ein imperatives Mandat an die Delegationsempfängerin verbunden ist, wird ein demokratisches System nach solchen Prinzipien im Grundsatz vergleichbar mit unserem System parlamentarischer Demokratie, die aus festen und demokratischen Parteien gespeist wird. Der Wunsch die flüssige Demokratie zur Ergänzung oder Erneuerung der repräsentativen Strukturen zu nutzen, ist also nachvollziehbar, da sich beide Systeme nicht grundlegend widersprechen.[3] Sie haben das gleiche Ziel – die Schaffung einer arbeitsfähigen und legitimiert verantwortlichen Gruppe aus Entscheidungsträgerinnen. Die flüssige Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass diese Delegation von Verantwortung und Macht von vielen auf wenige nicht mehr turnusmäßig oder zu einzelnen Anlässen passiert und dann feststeht, sondern einer ständigen Veränderung unterworfen ist.

Vorteile und Probleme sind so vielfältig wie die möglichen Einsatzgebiete der Liquid Democracy. Allen gemein ist die Verwendung elektronischer Datenverarbeitung, ohne die kein fließender Entscheidungsprozess möglich ist.[4] Die Komplexität und Dynamik der notwendigen Berechnungen und die Anforderungen an eine transparente Darstellung von Delegationen und Entscheidungsvorlagen lässt sich erst in Zeiten des Internets und entsprechender Software bewältigen. Neben den Vorteilen in Sachen Transparenz und Informationsfluss im liquiden Entscheidungsprozess, bei dem Teilnehmende jeder Zeit die Möglichkeit haben aktuelle Mehrheiten abzuschätzen, Argumente nach ihrer Mehrheitsfähigkeit zu gewichten und themenbezogene Fraktionen zu identifizieren, entstehen Nachteile, die bis an die Grundfesten unseres Verständnisses eines demokratischen Rechtsstaates gehen. Die wohl disruptivste Erkenntnis ist, dass Entscheidungen aus elektronischen Abstimmungsverfahren nicht den Wahlrechtsgrundsätzen des Grundgesetzes entsprechen können.[5] Sie können nicht gleichzeitig anonym und nachprüfbar sein. Eine manipulationssichere Entscheidung mit Hilfe von Liquid-Democracy-Systemen kann also nicht anonym gefasst werden. Grundgesetzkonforme Wahlen sind mit elektronischen Systemen nicht möglich.

Anonym UND transparent ist schwer vereinbar

Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis ist weitreichend. Während in der klassischen parlamentarischen Demokratie hohe Anforderungen an die Transparenz von gewählten Vertreterinnen und Vertreter angelegt werden müssen, gilt gleichzeitig der besondere Schutz politischer Meinungen von Privatpersonen.[6] Deutschland hat gelernt, dass politische Meinungsäußerungen und Haltungen nur all zu leicht staatliche Repressionen begründen können. Allein die unsägliche Idee staatlicher Internetzensur der letzten Jahre, zeigt dass wir uns von dieser Gefahr nicht sehr weit emanzipiert haben. Allerdings haben wir gelernt, dass das Private immer auch politisch ist[7] und es gerechtfertigt ist, Transparenz und Offenheit auch von jenen einzufordern, die zum Beispiel im Rahmen von so genannter Bürgerbeteiligung in die unabhängigen Entscheidungen gewählter Vertretenden einzugreifen versuchen. Um die flüssige Demokratie und darauf aufbauende Software zum Beispiel für Beteiligungs- und Entscheidungsverfahren im Bereich der Stadtentwicklung nutzen zu können, wie das in Berlin-Tiergarten nach Willen der Bezirksverordneten passiert[8], muss erst akzeptiert werden, dass während des Prozesses die Grenze zwischen Mandatsträgerinnen oder Mandatsträgern und Teilnehmenden verschwindet. Alle Teilnehmenden tragen das gleiche Maß an Verantwortung für die Öffentlichkeit und die eigenen politischen Entscheidungen.

Das gilt allerdings für beide Seiten. Will man faire und verbindliche Beteiligungsprozesse mit flüssiger Demokratie konzipieren, müssen klassische repräsentative Strukturen die Exklusivität der Entscheidungsfähigkeit aufgeben. Beispielhaft hierfür ist das Projekt LiquidFriesland9[9], das die Beteiligung von Einwohnerinnen und Einwohnern des Landkreises am Kreistag in einer ständigen Liquid-Democracy-Plattform gestaltet. Das Zusammenspiel und die Verbindlichkeit oder Wertigkeit von Eingaben und Voten aus dem Beteiligungssystem ist klar geregelt.10[10] Darin unterscheidet sich diese Form eines Beteiligungskonzeptes nicht von klassischen Modellen direkter Demokratie. Aus der Erfahrung mit der hohen Zahl an Eingaben durch die ständige Verfügbarkeit des Instrumentes - im Gegensatz zur Volksgesetzgebung der Bundesländer - zeigt sich aber deutlich, wie schwer es dem politischen Establishment oft fällt, abweichende Mehrheiten aus einem solchen System zu akzeptieren. Wird so ein Widerspruch zwischen Willen der Teilnehmenden und anderer legitimierter Institutionen nicht aufgelöst, werden Teilnehmende schnell demotiviert und die Beteiligungsverfahren verlieren an Wert.

Dennoch lässt sich feststellen: Eine bessere und zugänglichere Beteiligung mit Liquid Democracy ist möglich. Die Diskussionen, die zum Beispiel in der Piratenpartei um solche Instrumente geführt wurden, lohnen die genauere Betrachtung und greifen dem notwendigen gesamtgesellschaftlichen Diskurs vor. Vielversprechende Anwendungsmöglichkeiten für die flüssige Demokratie finden sich vor allem in demokratischen Organisationen. Es ist vorstellbar, dass Parteimitglieder aller Parteien nicht nur über zukünftige Spitzenpersonalien oder Koalitionsverträge abstimmen, sondern direkt an einzelnen Passagen von Programm und Verträgen mitarbeiten können. Es ist genauso gut vorstellbar, dass die flüssige Demokratie die Parlamente selbst erobert und das komplexe Zusammenspiel von Fachpolitikerinnen und -ausschüssen, ihren Fraktionen und Themenkoalitionen verflüssigt und so eine neue Diskurskultur und Transparenz in die republikanischen Spitzengremien hineinträgt. Ideen gibt es genug. Sie umzusetzen fehlt uns nur noch der Mut.

Martin Delius ist Vorsitzender der Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin.

[1] Jan Behrens, Axel Kistner, Andreas Nitsche, Björn Swierczek: The Principles of LiquidFeedback. Interaktive Demokratie e. V., Berlin 2014, ISBN 978-3-00-044795-2

[2] vgl. Martin Delius, Tutzinger Studien zur Politik, Band 6 Baden-Baden 2014, Nomos, 203 Seiten ISBN-13: 978-3-8487-1201-1

[3] vgl. Andreas Nitsche, „Liquid Democracy ist keine Alternative zur parlamentarischen Republik“, 17.04.2013, http://blog.liquidfeedback.org/2013/04/17/liquid-democracy-ist-keine-alternative-zur-parlamentarischen-republik[1]

[4] vgl. Brabanski, Kettner, „Chancen und Risiken von Liquid Democracy für die politische Kommunikation“, Springer, 2015, ISBN 978-3-658-02797-1

[5] vgl. BVerfG, 2 BvC 3/07, 2 BvC 4/07 - 03.03.2009

[6] vgl. §3 Abs. 9 BDSG

[7] vgl. Roland Roth, Dieter Rucht: Die Sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Campus Verlag, 2008, ISBN 978-3-593-38372-9, S. 459f.

[8] https://www.spd-fraktion-mitte.de/aktuell/2012-10-16/antrag-0541-iv-pilotprojekt-fuer-internetbasierte-buergerbeteiligung[2]

[9] https://www.liquid-friesland.de[3]

[10] vgl. Jan Behrens, „Liquid Democracy in der Bürgerbeteiligung – Eine Analyse zu LiquidFriesland“, 07.07.14,http://blog.liquidfeedback.org/2014/07/07/liquid-democracy-in-der-buergerbeteiligung-eine-analyse-zu-liquidfriesland[4]

Links:

  1. http://blog.liquidfeedback.org/2013/04/17/liquid-democracy-ist-keine-alternative-zur-parlamentarischen-republik/
  2. https://www.spd-fraktion-mitte.de/aktuell/2012-10-16/antrag-0541-iv-pilotprojekt-fuer-internetbasierte-buergerbeteiligung
  3. https://www.liquid-friesland.de/
  4. http://blog.liquidfeedback.org/2014/07/07/liquid-democracy-in-der-buergerbeteiligung-eine-analyse-zu-liquidfriesland/