Über Ressourcen, langen Atem und Diffamierungen

Drei Berlinerinnen berichten von ihren Erfahrungen mit direkter Demokratie

prager frühling: Seit Ende der 2000er ist die Berliner Rechtslage im Großen und Ganzen so gestrickt, dass in einem zweischrittigen Verfahren verbindliche Volksentscheide möglich sind, wenn ein bestimmtes Quorum an Ja-Stimmen erreicht wird. Seit dem hat die Anzahl der Volksentscheidungen sprunghaft zugenommen. Wie habt ihr das wahrgenommen?

Judith Demba: Ich komme aus dem NOlympia-Bündnis und war auch schon in den 1990er Jahren mit dabei. Es hat sich während der Kampagne damals gezeigt, dass es eine große Widerständigkeit gibt. Damals gab es diese Möglichkeiten eines Volksbegehrens noch nicht. Die Volksbegehren der letzten Jahre haben zu einer Politisierung der Gesellschaft geführt, zumindest eines Teils der Gesellschaft. Das finde ich positiv, weil Volksbegehren eine Verkrustung und Gleichgültigkeit aufbrechen können. „Was hat das Thema mit meinem eigenen Leben zu tun?“ spielt auf einmal eine Rolle.

Mareike Witt: Ich finde es natürlich auch sehr gut, dass es die Möglichkeit für Volksbegehren und Volksentscheide gibt, würde aber gerade aus unserer Erfahrung vom Tempelhofer Feld und der Beobachtung der Volksentscheide vorher sagen, dass die Hürden enorm hoch sind. Man muss am Ende für den Volksentscheid ein sehr hohes Quorum erreichen. Es gibt ganz viele Leute, die gar nicht wählen gehen. Die sind gar nicht mit einem „nein“ in einem Volksentscheid gleichzusetzen. Bei den Wahlen fürs Abgeordnetenhaus fallen die Nichtwähler_innen nicht ins Gewicht, weil es nach Prozenten der abgegeben Stimmen geht. Es gab zwar viele Volksentscheide seit 2000, aber aufgrund des hohen Quorums sind fast alle Volksentscheide gescheitert.

prager frühling: Bei euch beiden klingt an, dass Volksentscheide nicht allen in gleicher Weise dienen. Wie ist das zu verstehen?

Julia Michel: Ein Volksentscheid ist ein Instrument, das unglaublich Ressourcen verschlingt. Wenn man sich vorstellt, man steckt da mit x Leuten ein Jahr oder länger Arbeit rein, bis der ganze Prozess durchlaufen ist, und am Ende scheitert man damit, dann finde ich dieses Instrument echt fragwürdig.

Demba: Das ist ja so wie mit diesen Begleitausschüssen und Gremien, die überhaupt keine Kompetenzen haben, wo es am Ende überhaupt nicht darum geht, dass es wirklich umgesetzt wird, was erarbeitet wird. So werden die aktiven Leute, die sonst vielleicht auf der Straße wären und protestieren würden, in diese Arbeit abgezogen.

Echte Bürgerbeteiligung will der Berliner Senat nur im Notfall

prager frühling: Würdest du sagen, das sind Befriedungsinstrumente?

Demba: Nun, man lenkt die Energie um. Die Energie, die sich sonst vielleicht ganz anders entladen hätte, wird dann in so einem formalen Prozess aufgebraucht. Das mit den Hürden hat zwei Seiten, finde ich. Man muss neben der Senkung der Hürden dafür kämpfen, dass sich im Bildungssystem und insgesamt in der Gesellschaft etwas ändert. Es macht gar keinen Sinn, wenn du Instrumente hast, die bei großen Teilen der Bevölkerung auf nicht-Verstehen stößt. Ich weiß noch, als wir Unterschriften für das Energievolksbegehren gesammelt haben, haben die Leute gar nicht verstanden, was wir von ihnen wollten, bzw. was ein Volksbegehren überhaupt ist. Viele dachten immer, wir wollen ihnen was verkaufen. Deshalb meine ich, braucht es einen Lernprozess in der Gesellschaft. Es muss sich im Bildungssystem vieles ändern, dass die Kinder und Jugendlichen zu selber denkenden Menschen herangzogen werden, und später dann auch in der Lage sind, einen solchen Prozess aufzunehmen und daran teilzuhaben. Im Moment haben wir eher die Situation, dass ein ganz großer Teil der Bevölkerung wahnsinnig mit der Existenzsicherung beschäftigt ist und überhaupt keine Kapazitäten hat, sich in solche Prozesse einzubringen, sich selber zu informieren oder irgendwie aktiv zu sein. Wenn mehr direkte Demokratie gewollt ist – und ich gebe dir, Mareike, recht, dass eigentlich die Hürden zu hoch sind – ist es das Wichtigste, dass sich daneben in der Gesellschaft was ändert.

Witt: Was mich persönlich wirklich schockiert hat – ich habe zwar früher schon für Volksbegehren Unterschriften gesammelt, aber so richtig habe ich mich erst fürs Tempelhofer Feld aktiviert – dass mein Eindruck war, dass von den regierenden Politiker_innen dieses Instrument kein bisschen gewollt ist. Es wird versucht, an jeder Ecke und wo es nur geht, zu blockieren. Sie können den Volksentscheid nicht direkt verhindern, aber man versucht, die Gegenseite zu diffamieren. Man versucht, Falschanschuldigungen zu bringen, und weiß: Wenn die klagen, dann sind die nur mit dem Klagen beschäftigt. Also werden sie nicht klagen. Das finde ich viel schlimmer als Leute, die nicht in der Lebenslage sind, sich mit bestimmten Fragen zu beschäftigen.

Demba: Damit kommen wir noch zu einem ganz anderen Punkt: Die offizielle Politik hat viel eher einen Zugang zu den Medien und kann ihre Argumentation viel stärker in die Öffentlichkeit bringen, als du es selber machen kannst. Die Ressourcen sind total ungleich verteilt. Beim Tempelhofer Feld war die Berichterstattung gerade in den Tagen vor dem Volksentscheid haarsträubend.. Und selbst hinterher wurde gesagt, man müsse sich mal fragen, wer da eigentlich abgestimmt hat und ob das denn repräsentativ sein kann.

Witt: Und das ist eine Unverschämtheit! Wenn man mal die Zahlen ins Verhältnis setzt, sieht man, wie unterschiedlich mit Zahlen in der Presse umgegangen wird. „Die Mehrheit“ hat Herrn Müller zum Regierenden Bürgermeister von Berlin gewählt – die Mehrheit des klitzekleinen Anteils von SPD-Mitgliedern. Von denen hat er rund 6.000 Stimmen bekommen! Der Volksentscheid zum Tempelhofer Feld hat fast 740.000 Stimmen bekommen. Das liegt fast in der Größenordnung, die die große Koalition im Berliner Abgeordnetenhaus an Stimmen erlangt hat.

Das NOlympia will lieber wat jutet

Demba: Daran sieht man, dass direkte Demokratie eben kein echtes Anliegen ist. Die Novellierung des Abstimmungsgesetzes im Zuge der Olympia-Diskussion ist das beste Beispiel. Wenn der Senat wirklich eine Volksentscheidung gewollt hätte, hätten CDU und SPD genug Zeit gehabt, auch eine wirkliche Verfassungsänderung auf den Weg zu bringen und die Möglichkeit zu schaffen, dass es einen Volksentscheid gibt, der auch bindend für die Politik ist. Bei der Volksbefragung soll der Senat alleine argumentieren können, und gerade Mal 3.000 Zeichen für die Oppositionsparteien zur Verfügung stehen. KritikerInnen haben weder auf die Fragestellung noch auf die Argumentation Einfluss. Außerdem ist das Ergebnis nicht bindend, weil dies verfassungsrechtlich ausgeschlossen ist. Eine Verfassungsänderung ist nicht gewollt, weil die Leute sich dann weit über die Olympia-Abstimmung hinaus in Sachen einmischen könnten. Deshalb gibt es jetzt nur die Placebo-Demokratie.

Witt: Und es kann sogar sein, dass dies echten Volksentscheiden den Wind aus den Segeln nimmt. Vielleicht hätte es zu Themen wie Olympia dann auch einen richtigen Volksentscheid gegeben. Und zur Wahlbroschüre: Wir haben viel Energie in die Wahlbroschüre gesteckt, weil wir sehr geringe finanziellen Mittel hatten. Wir haben gesagt, das ist eine Möglichkeit, die wir zur Verfügung gestellt bekommen und die jedem zugesandt wird. Die wollten wir nutzen. Wir haben sehr viele Rückmeldungen bekommen und gemerkt, dass die Leute das wirklich lesen. Wenn ich mir vorstelle, dass bei dieser Volksbefragung der Contra-Teil der Broschüre wegfällt, ist das ja nur wie diese Propaganda, die wir die ganze Zeit sehen: „Wir wollen die Spiele!“

prager frühling: Ich finde es crazy, dass es mit der Lex Olympia eine Verschiebung der Funktion von direkter Demokratie gibt: Weg von Korrekturen politischer Entscheidungsprozesse hin zu einer Einnahme eines Instruments, dass – trotz aller Schwierigkeiten und Ausschlüsse – eine Ermächtigung von Bürger_innen bedeutet hat.

Witt: Das können wir bezogen auf das Tempelhofer Feld auch an anderen Stellen beobachten. Diese Online-Plattform wird zum Beispiel nicht beworben.

Demba: Weißt du, worum es geht?

prager frühling: Nee, überhaupt gar nicht.

Witt: Das Typische ist, dass sich tatsächlich schon ein Senator in die Richtung äußert von gesagt haben: „Da sieht man schon, was hinter dem Volksentscheid steckt. 700.000 Stimmen, aber jetzt geht keiner mehr auf die Online-Plattform und macht mit.“

Michel: Die Online-Plattform hat der Verein Liquid Democracy entwickelt. Es handelt sich um eine Beteiligungsplattform, eine qualitative Bestandsaufnahme. Leute können da Vorschläge einbringen und andere können sie kommentieren und bewerten. Sie wurde vor dem Hintergrund aufgesetzt, dass sich auch Leute beteiligen können sollen, die nicht zu diesen Bürgerbeteiligungsrunden kommen und eher netzaffin sind.

prager frühling: Und da passiert nichts?

Witt: An der Onlinebeteiligung selber kann man auch sehr viele Dinge kritisieren. Man weiß nicht, welche Verbindlichkeit das hat. Es schreiben Leute Sachen, die sich gar nicht auf der Basis des Gesetzes befinden. Man müsste eine gute Moderation haben. Aber nehmen wir mal an, es wäre super: Das wäre gerade egal, denn es wird gar nicht beworben. Und das wird instrumentalisiert zu „Die Bürger wollen sich ja gar nicht beteiligen.“ Auch bei den anderen Beteiligungsformaten zum Tempelhofer Feld kann man Schwierigkeiten beobachten. Man kann Bürger_innen auch ausschalten, indem man sie zu etlichen Sitzungen kommen lässt. Wenn man das wirklich ernsthaft betreiben würde, diesen Beteiligungsprozess beim Tempelhofer Feld, dann müsste man drei Abende pro Woche nur dafür einrechnen. Wer kann das denn? Das kann auch nicht mit Bürgerbeteiligung gemeint sein. Ich will den Beteiligungsprozess nicht total schlecht reden, denn er ist viel besser als alles, was wir vor dem Entscheid zum Tempelhofer Feld erlebt haben. Aber er ist trotzdem mit großer Vorsicht zu genießen.

Demba: Es werden Leute desillusioniert, die sich viel davon versprochen haben, wenn es sich so zäh gestaltet.

prager frühling: Wie würdet ihr es denn dann machen?

Witt: Das große Problem ist bei dem Selbstverständnis der Politiker_innen, die oft Bürgerbeteiligung erst mal als was Bedrohliches empfinden.

Demba: Ich finde es wichtig, dass es einen gleichberechtigten Zugang zu den Medien gibt. Die einen haben die Öffentlichkeitshoheit und die anderen müssen sich dann mühsam durch ihre Maulwurfshügel graben. Die Informationshoheit darf nicht nur auf einer Seite liegen. Es braucht einen fairen Zugang zur Öffentlichkeit. Wie auch immer man das gestalten kann.

Michel: Momentan hast du nur die Chance, dass du über die Presse ein Forum findest.

Witt: Aber als normaler Durchschnittsbürger weißt du doch gar nicht, wen du anrufen sollst, wenn du mal was in die Zeitung bekommen möchtest. Da haben die Politiker_innen die Erfahrung und kommen ganz anders in der Presse unter. Ich hatte nicht erwartet, dass bis zum Schluss Lügen gedruckt werden. So waren bis zum Volksentscheid tatsächlich immer wieder sachlich total falsche Sachen in der Presse zu lesen.

Michel: Wenn du einsteigst, merkst du aber auch erst mal, was Politik bedeutet. Du wirst mit dem ganzen Schmutz übergossen, der in dem Politikgeschäft die ganze Zeit gang und gäbe ist. Du bist plötzlich ein Akteur darin. Das fand ich echt beeindruckend.

Demba: Neben einem gleichberechtigten Zugang zur Öffentlichkeit muss, wie schon gesagt, die Hürde gesenkt werden. Bei Volksentscheiden hast du anders als bei Wahlen ein Quorum. Das sind Hürden, die aufgebaut wurden, um zu verhindern, dass nicht wegen jedem Pups ein Volksbegehren auf den Weg gebracht wird. Bleibt zu fragen, ob man damit nicht auch Leute abschreckt.

Witt: Im Nachhinein muss ich sagen: Die Hürden vor dem Volksentscheid finde ich gut, um auch die Ernsthaftigkeit des Anliegens zu unterstreichen. Man würde ja die Leute abschrecken, wenn über alles abgestimmt wird. Aber bei der letzten Abstimmung, beim Entscheid, ist das Quorum einfach zu hoch. Ich finde es richtig, dass es eine Mehrheitsentscheidung ist. Wenn es mehr Nein-Stimmen gibt, ist das Ergebnis vollkommen klar. Aber das Quorum selber – jeder vierte Berliner muss mit „ja“ stimmen – das ist zu hoch.

Demba: Mit Volksentscheiden können Leute, wenn es gut läuft, die Erfahrung machen, dass verbindliche Ergebnisse herauskommen und die Umsetzung so erfolgt, wie die Leute sich das vorgestellt haben.

Witt: Nach dem Volkentscheid zum Tempelhofer Feld haben wir häufig gehört, dass Leute gesagt haben, sie glauben wieder daran, dass sich Engagement lohnt.

Demba: Das macht dann die Leute stark. Vorher beschäftigt man sich mit dem Thema und politisiert sich. Und wenn es dann ein Erfolg wird, bricht es diese Haltung „Man kann ja eh nichts ändern“ ein bisschen auf.

Judith Demba ist Geschäftsführerin der Naturfreunde Berlin[1] und im NOlympia-Bündnis[2] aktiv.

Mareike Witt und Julia sind in der Berliner Bürgerinitiative 100 % Tempelhofer Feld[3] aktiv. Im Mai 2014 erlangte der durch diese Initiative auf den Weg gebrachte Bürgerentscheid das geforderte Quorum und die Pläne des Senats zur Bebauung des ehemaligen Flugfeldes mussten auf Eis gelegt werden.

Die Fragen stellte Lena Kreck

Links:

  1. http://www.naturfreunde-berlin.de/
  2. http://nolympia-berlin.de/
  3. http://www.thf100.de/start.html