Schurken und Barbaren

Zur Semantik internationaler Politik

Oliver Eberl
So sieht die Welt aus: Schurken ...

Europäisch-westliche Interventionspolitik steht in einer langen Ahnenreihe: Im 19. Jahrhundert rechtfertigte man die ersten sogenannten humanitären Interventionen in Griechenland und Nordafrika mit dem Verweis auf die Sklaverei der Araber und die Gräueltaten der Osmanen. Die Zivilisation sah sich aufgefordert einzugreifen. Unmenschliche Praktiken wurden beendet und dafür eine westlich-liberale Herrschaft errichtet. Auch der europäische Kolonialismus hatte ein zivilisatorisches Selbstverständnis und vertrat eine Zivilisationsmission. Die Kongo-Konferenz von 1885 legt ein beredtes Zeugnis dieses zivilisatorischen Selbstverständnisses ab. Dieses war nicht aufgesetzt, es war echt, Europa sah sich zivilisiert und die Afrikaner, Indianer und Inder, Melanesier und Polynesier, Aborigines und Maoris, sie alle galten ihm als Barbaren und Wilde. Und wenn im Ersten Weltkrieg die Deutschen bei ihrem völkerrechtswidrigen Einmarsch in Belgien Kirchen zerstörten und Zivilisten erschossen, dann nannte man auch sie Barbaren. Und natürlich regten sich die deutschen Kulturmenschen darüber mehr auf als über die Erschießung der Zivilisten.

In diese Geschichte lassen sich auch die Interventionen der Jahre nach 1989 einordnen. Linke sehen hier häufig die Verlängerung einer kolonialen Politik oder westlichen Hegemonie. Der erste Irakkrieg und der Krieg gegen Serbien sind leicht so zu deuten. Jacques Derrida und Noam Chomsky haben herausgearbeitet, dass es die liberale Clinton-Regierung war, die die Rhetorik der Schurkenstaaten entwickelt hat. Ihr wissenschaftliches Pendant war die Theorie vom demokratischen Frieden, die besagte, dass Demokratien untereinander friedfertig sind, aber gegenüber Nicht-Demokratien, die nicht friedfertig sein können, ein besonderes Spannungsverhältnis besteht. Abgeleitet wurde diese Theorie aus der Beobachtung, dass Demokratien noch nie Krieg gegeneinander geführt hätten.

Immanuel Kant: Kein Verbündeter der Interventionisten

Zum Stammvater dieser Theorie wurde Immanuel Kant erklärt, der zwar ein liberaler Philosoph, aber vor allem auch Republikaner und Kosmopolit war. Seine Forderungen der Schrift „Zum ewigen Frieden“ nach der Gründung von Republiken, der Bildung eines Völkerbundes und eines Weltbürgerrechts wurden im Schatten der Theorie des demokratischen Friedens interventionsgerecht zu einem Exklusionsinstrument uminterpretiert: Nur Demokratien könnten Mitglied im Völkerbund sein und den Schutz des Völkerrechts genießen. Wer sich als Staat aggressiv verhalte oder Menschenrecht systematisch verletze, der sei ein Schurkenstaat oder, wie es mit besonderem Bezug auf eine Kant-Stelle oft auch heißt, ein „ungerechter Feind“.

Natürlich war mit dieser Rhetorik der Exklusion die Idee eines Umbaus der UNO und der wesentlichen Prinzipien des Völkerrechts verbunden: Der völkerrechtliche Gleichheitssatz und das allgemeine Gewaltverbot sollten ausgehöhlt und aufgehoben werden. Die Diskussion um die „Responsibility to Protect“, die von der Generalversammlung zwar angenommen wurde, zeigt aber auch, dass das allgemeine Gewaltverbot keineswegs aufgehoben wurde, sondern der Einsatz von Gewalt nach wie vor der Entscheidung des Sicherheitsrates unterliegt.

Es könnte nun so scheinen, als böte Kant nur die Rechtfertigung für eine hegemoniale Interventionspolitik. In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall. Kant verurteilt den Kolonialismus und sucht die reformorientierte Annäherung der Systeme in einem gemeinsamen Völkerbund. Sein Kosmopolitismus befördert nicht den Handel, sondern formuliert das Recht von Ländern, Handelsangebote abzuwehren. Das Weltbürgerrecht ist kein Gastrecht, sondern nur ein Besuchsrecht. Gästen schuldet man in der naturrechtlichen Tradition fürsorgliche Aufnahme. Dies wurde zu kolonialen Zwecken missbraucht. Kant begrenzt daher das Prinzip der Hospitalität auf ein Besuchsrecht, das allen Menschen in Not zusteht und allen Menschen erlaubt, den Kontakt mit anderen zu versuchen. Aufgrund der schlechten Erfahrungen begrüßt er es, dass Japan den holländischen Händlern nicht gestattete in Japan zu wohnen, sondern sie auf einer Hafeninsel isolierte. Die heutigen Konflikte um die Öffnung von Märkten ist schon von Kant als Kolonialismus verstanden worden, dem nur mit einem für alle Individuen und nicht-staatlichen „Völkerschaften“ geltenden Weltrecht und einer Einschränkung des naturrechtlichen Gastrechts beizukommen ist. Gleichzeitig etablierte er damit Pflichten gegenüber Flüchtlingen, die ein Recht auf Hilfe haben. Ein richtig gelesener Kant gibt also auch heute noch wertvolle Hinweise für Grundsätze internationaler Politik und ist kein Verbündeter der Interventionisten.

Allerdings spielten Menschenrechte noch keine Rolle für Kant. Er kannte nur das angeborene Menschenrecht der Freiheit. Während das Gewaltverbot und das Gleichheitsprinzip der UN-Charta Verwirklichungen Kantischer Gedanken sind, ist die Wirklichkeit im Menschenrechtsbereich über ihn hinausgegangen. Daraus entstehen die heute entscheidenden Spannungen in der internationalen Politik. Menschenrechtsschutz wird hier immer wieder gegen das Gewaltverbot ausgespielt.

... und Barbaren. Zumindest aus liberaler Perspektive.

Die neue Blüte der Semantik der Barberei

Linke Politik steht nun vor der Herausforderung, das völkerrechtliche Gewaltverbot mit dem Gleichheitssatz und dem Menschenrechtsschutz zu vermitteln. Die ersten beiden Prinzipien stellen nicht nur das antinazistische Erbe der Gründungsphase der UNO dar, sie sind auch das Erbe der Dekolonisation, die mit dem Prinzip staatlicher Souveränität ernst gemacht hat und ebenfalls eine Verwirklichung des Rechts einer Bevölkerung auf demokratische Souveränität ist, das im Genfer Völkerbund von US-Präsident Woodrow Wilson fatalerweise „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ genannt wurde und daher ethnischem Nationalismus offen stand.

Weder Demokratieexport noch Menschenrechtsinterventionismus können Ziele und Mittel einer menschenrechts- und demokratieorientierten Politik sein. Man könnte grob sagen, dass überall dort Zweifel an einer solchen Orientierung angebracht sind, wo die politische Semantik Asymmetrien erzeugt: Wenn von Schurkenstaaten gesprochen wird, deutet dies auf eine unklare Lage hin, die durch eine klar abwertende Sprache übersichtlich gemacht werden soll. Heute ist allerdings seltener von Schurkenstaaten die Rede. Dies hat nicht damit zu tun, wie Derrida hoffte, dass die Semantik des Schurkenstaates sich so sehr vervielfacht, dass für alle Staaten als gültig erkannt und damit sinnlos wird, sondern mit dem Phänomen nicht-staatlicher Terrorgruppen, das nach den Anschlägen vom 11. September zunächst noch in der Schurkenstaat-Linie mit dem Krieg gegen Afghanistan beantwortet wurde. Derzeit sind aber keine klaren Schurkenstaaten mehr auszumachen. Die Terrorgruppen werden heute als Barbaren und ihre Taten als barbarisch bezeichnet. Dies mag angesichts von Enthauptungen und Entführungen nahe liegend sein, doch darf nicht übersehen werden, dass hiermit an die Semantik des zivilisierenden Kolonialismus des 19. Jahrhunderts angeschlossen wird.

Die Semantik der Barbarei hat aber auch in der linken Tradition einen festen Platz. Insbesondere in der antifaschistischen Tradition spielt sie als Beschreibung des Nazismus eine große Rolle. Sie konnte hier eine feste Verbindung mit humanistischen und kulturtheoretischen Positionen, etwa von Thomas Mann und Theodor Adorno, eingehen. Die Barbarei-Semantik findet sich in den Nürnberger Prozessen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in deren Präambel es heißt, dass „die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen“.

Im Zeitalter der Terrorismus erlebt die Semantik der Barbarei eine neue Blüte. Wenn der Islamische Staat seinen Staat errichtet haben sollte, so sind sich Beobachter einig, wird es ein Schurkenstaat sein. Bisher ist er aber noch eine barbarische Terrortruppe. Während bürgerrechtsorientierte Positionen auf die Theorie des demokratischen Friedens ansprachen, könnten humanistisch-antifaschistische Positionen leichter einer Politik der Anti-Barbarei zusprechen oder in das Gegenteil verfallen und antihegemoniale Kräfte nur deshalb begrüßen, weil sie antihegemonial sind. Schon Derrida bemerkte, dass radikale islamische Systeme die einzigen sind, die sich selbst nicht als demokratisch verstehen wollen und daher eine besondere Provokation und Herausforderung für den Westen darstellen. Die Entscheidung, ob Demokratie die richtige politische Form für ein Volk ist, kann weder dem westlichen Hegemon noch den lokalen Terrorführern oder Eliten überlassen bleiben. Diese Entscheidung müsste selbst demokratisch getroffen werden. Reformen, die dies ermöglichen, sind daher immer begrüßenswert.

Linke Perspektiven

So richtig es ist, dass der Westen nicht der Demokratiebringer sein kann, so richtig ist es auch, dass Linke neben der kritischen Position eine konstruktive, prinzipienorientierte Perspektive brauchen. Ein erstes Prinzip wäre, dass Staaten Reformen nur gewaltfrei unterstützen dürfen und bei Bürgerkriegen das Kantische Interventionsverbot gilt. Zweitens ist nach eigenen Beiträgen zu fragen: Demokratie und Menschenrechtsschutz beginnen im eigenen Land. Westliche Demokratien müssten auf der Gewaltanwendungsebene streng demokratisch-parlamentarisch kontrolliert werden. Außerdem müssten humanitäre Pflichten und Menschenrechtsschutz ernst genommen und Flüchtlingen Asyl und Integration angeboten werden. Drittens könnten Linke das Gewaltverbot und das Gleichheitsprinzip der UN-Charta ebenso wie die Menschenrechte als antifaschistisches Erbe auffassen und so von Hegemonie und Deutschtum gleichermaßen Abstand halten. Sie könnten von Europa fordern, sein koloniales Erbe und daraus folgende Verpflichtungen anzuerkennen.

Allerdings müssten sie auf die Barbarei-Semantik des Antifaschismus und Antiimperialismus verzichten, denn diese wird gerade interventionsgerecht umgedeutet. Wenn die Gründe so klar liegen, wie im Falle des Kampfes gegen die Barbarei, wird von den tatsächlichen Unklarheiten abgelenkt. Und immer dann trumpft das eine Prinzip – etwa Menschenrechte – oder das andere – etwa das Gewaltverbot – auf und erlaubt unilaterale Selbstermächtigungen. Auch verschleiert die skandalisierende Semantik, dass es sich nicht um einen Atavismus, sondern um ein modernes Phänomen als Ausdruck moderner Widersprüche handelt. Die Aufgabe für eine linke Politik wäre aber, die Widersprüche explizit zu machen und so zu einem Ausgleich der Prinzipien beizutragen.

Oliver Eberl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Politische Theorie und Ideengeschichte der TU Darmstadt.